Urteil des SozG Aachen vom 27.11.2007

SozG Aachen: blindenführhund, rechtskräftiges urteil, beeinträchtigung des sehvermögens, versorgung, medizinische rehabilitation, blindheit, krankenversicherung, wohnung, who, verkehr

Sozialgericht Aachen, S 13 KR 84/06
Datum:
27.11.2007
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
13. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 13 KR 84/06
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beklagte wird unter Aufhebung der Bescheide vom 28.04. und
24.08.2006 in der Fassung des Widerspruchs- bescheides vom
03.11.2006 verurteilt, die Klägerin mit einem Blindenführhund zu
versorgen. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt die
Beklagte.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten über einen Anspruch der Klägerin auf einen Blindenführhund.
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Die am 00.00.1976 geborene Klägerin ist aufgrund einer Makuladegeneration
hochgradig sehbehindert. Es besteht eine gleichseitige Halbseitenblindheit (homonyme
Hemianopsie). Die Sehschärfe ist rechts auf 1/15, links auf 1/10 herabgesetzt; das
Gesichtsfeld ist hochgradig konzentrisch eingeengt. Die Klägerin ist wegen "Erblindung"
als Schwerbehinderte nach einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 mit den
Nachteilsausgleichsmerkmalen G, B, H, RF und Bl anerkannt (Bescheid des
Versorgungsamtes Aachen vom 22.08.2003). Es bestehen zudem eine
Hörbeeinträchtigung nach Hörsturz und Tinnitus bei Überlastung. Die Klägerin ist mit
einem Blindenlangstock, getönten Kontaktlinsen und einem computergestützten
Lesesystem versorgt. Von August 2003 bis April 2004 absolvierte sie eine
Grundschulung mit dem Blindenlangstock über 60 Stunden in Orientierung und Mobilität
(OuM). Einen Laserlangstock probierte die Klägerin aus, ohne dass dieser gegenüber
dem Blindenlangstock Gebrauchsvorteile brachte.
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Am 30.01.2004 verordnete der Augenarzt Dr. U. einen Blindenführhund. Die Klägerin
legte diese Verordnung und einen Kostenvoranschlag, in dem die Kosten für einen
Hund, die Grundausstattung und die Einweisung mit 20.049,66 EUR beziffert wurden,
der Beklagten zur Genehmigung vor. Auf Befragen gab sie an, sie verspreche sich durch
den Hund - speziell im Alltag - die Rückgewinnung von Unabhängigkeit,
Selbstständigkeit und ein entspanntes gleichmäßiges Gehen.
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In einer von der Beklagten eingeholten Kurzstellungnahme des Medizinischen Dienst
der Krankenversicherung (MDK) vom 12.04.2006 kam der beratende Arzt S. zum
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Ergebnis, ein Blindenführhund erleichtere zwar die Mobilität, sei aber in diesem Fall
nicht zwingend notwendig, da der weiße Blindenlangstock offenbar beherrscht werde.
Gestützt hierauf lehnte die Beklagte den Antrag durch Bescheid vom 28.04.2006 ab.
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Dagegen legte die Klägerin am 09.05.2006 Widerspruch ein: Sie sei von Beginn des
Einsatz des Blindenlangstocks an bei seiner Benutzung sehr angespannt gewesen und
habe dadurch starke Kopfschmerzen und Konzentrationsschwierigkeiten bekommen;
sie habe durch Stress schon einige Hörstürze und einen kleinen Hörverlust erlitten. Sie
benötige einen Blindenführhund, der ihr alle Gefahren, wie z.B. Treppen, Ein- und
Ausgänge, Bodenerhöhungen und -vertiefungen sowie Sitzgelegenheiten anzeige und
mit ihr sicher z.B. Baustellen, Mülleimer und gelbe Säcke umgehe. E. sei eine Stadt mit
vielen Hindernissen; zudem wohne sie an einer stark befahrenen Straße ohne sicheren
Übergang; auch hier helfe der Hund bei einer gefahrlosen Überquerung.
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Die Beklagte holte daraufhin von dem Arzt S. ein MDK-Gutachten ein. Er führte zu den
Bedingungen einer Hundehaltung durch die Klägerin aus, dass die Wohnung der
Klägerin dafür geeignet sei; es lägen keine Anhaltspunkte für Störungsmöglichkeiten
der Hund-Rudelführer-Beziehung vor; der Hundauslauf sei großzügig genug zum freien
Rennen des Hundes ohne Führgeschirr, was von der Kommune auch gestattet sei.
Nach Durchführung eines Orientierungsgangs mit der Klägerin unter Nutzung des
Blindenlangstocks kam der MDK-Arzt zum Ergebnis, eine zwingende Notwendigkeit für
einen zusätzlichen Blindenführhund in der außerhäuslichen Mobilität sei nicht
nachvollziehbar; eine Nutzung des weißen Blindenlangstocks, unter weiterer Schulung,
sei ausreichend. Auch nach einer Schulung zur optimierten Stocknutzung erleichtere ein
Blindenführhund selbstverständlich die Mobilität in einem quantitativen Sinne: Er
beschleunige sie, mache sie eleganter, verhindere das Anstoßen an überraschenden
Hindernissen durch Herumführen, was einen Zeitgewinn für Blinde bewirke, auch wenn
sie in der Regel hierbei mit einer Langstockbenutzung und entsprechender
Konzentration keine erheblichen Gefährdungen bzw. keine unüberwindlichen Barrieren
zeigten.
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Gestützt hierauf lehnte die Beklagte durch wiederholenden Bescheid vom 24.08.2006
die Versorgung mit einem Blindenführhund ab. Auch dagegen legte die Klägerin
Widerspruch ein.
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Daraufhin wies die Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom
03.11.2006 zurück mit der Begründung, es bestehe keine hochgradige Sehbehinderung
oder Blindheit, die die Versorgung mit einem Blindenführhund rechtfertige; mit dem
Blindenlangstock könne ein ausreichender Behinderungsausgleich sichergestellt
werden.
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Dagegen hat die Klägerin am 01.12.2006 Klage erhoben. Sie ist der Auffassung,
Anspruch auf einen Blindenführhund zu haben; da dieses Hilfsmittel der Befriedigung
ihres elementaren Grundbedürfnisses auf Orientierung und Mobilität diene. Der Grad
ihrer Sehschwäche erfülle die Voraussetzungen für eine Versorgung mit einem
Blindenführhund. Die Verweisung auf den völlig unzureichenden Blindenlangstock
habe für sie gravierende Folgen; seine alleinige Nutzung führe zu Kopfschmerzen,
Augenbrennen und Stress bis hin zu Tinnitus. Wenn der MDK aufgrund des mit ihr
durchgeführten Orientierungsgangs zum Ergebnis gelangt sei, es liege keinerlei
Einschränkung der Mobilität vor, so sei dies nur dadurch zu erklären, dass es sich
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seinerzeit um ihre "Paradestrecke" gehandelt habe, auf der sie sich zentimetergenau
auskenne und sich deshalb überdurchschnittlich bewegt habe. Die Klägerin hat
ergänzend einen vom Augenzentrum T. erhobenen Augenbefund vom 18.01.2007
vorgelegt; danach beträgt der Visus rechts 0,1 und links 0,08.
Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 28.04. und 24.08.2006 in der
Fassung des Wider- spruchsbescheides vom 03.11.2006 zu verurteilen, sie mit einem
Blindenführhund zu versorgen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie ist der Auffassung, die Gesetzliche Krankenversicherung habe bei der Versorgung
die Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu beachten. Nach § 33 Abs. 2
Satz 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) bestehe für Versicherte, die das 18.
Lebensjahr vollendet hätten, Anspruch auf Sehhilfen, wenn sie aufgrund ihrer
Sehschwäche oder Blindheit, entsprechend der von der WHO empfohlenen
Klassifikation des Schweregrades der Sehbeeinträchtigung, auf beiden Augen eine
schwere Sehbeeinträchtigung mindestens der Stufe 1 aufweise. Nach der WHO-
Klassifikation bedeute Blindheit eine Zuordnung zu den Stufen 3, 4 oder 5 der
Sehbeeinträchtigung; dies bedeute eine Sehschärfe mit bestmöglicher Korrektur von
0,05 bzw. 0,02 oder keine Lichtwahrnehmung. Nach den bei der Klägerin bestehenden
Visus-Werten liege keine Blindheit im Sinne der WHO-Kriterien vor, sodass die
Voraussetzungen für die Versorgung mit einem Blindenführhund nicht gegeben seien.
Im Übrigen verweist die Beklagte auf die Erkenntnisse im MDK-Gutachten vom
04.08.2006; danach verfüge die Klägerin noch über eine Restsehfähigkeit.
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Das Gericht hat zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts einen Befundbericht
von dem Augenarzt Dr. U. vom 11.05.2007 eingeholt. Desweiteren ist die
Sitzungsniederschrift der Kammer vom 29.05.2007 in der Rechtssache S 13 KR 99/06
mit der als Anlage beigefügten Aussage des sachverständigen Zeugen N., der
Orientierungs- und Mobilitäts-Ausbilder für Blinde und Sehbehinderte im
Berufsförderungswerk E. ist, beigezogen worden. Auf den Inhalt der genannten
Unterlagen wird verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Klägerin betreffende
Schwerbehindertengesetzakte des Versorgungsamtes B. und die Verwaltungsakte der
Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug
genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist zulässig und begründet.
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Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide im Sinne des § 54 Abs. 2
Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie rechtswidrig sind. Sie hat Anspruch auf
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Versorgung mit einem Blindenführhund zu Lasten der Gesetzlichen
Krankenversicherung.
Gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte
Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen
und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der
Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die
Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens
anzusehen oder nach § 34 ausgeschlossen sind. Ein Blindenführhund ist nicht nach der
Rechtsverordnung gemäß § 34 Abs. 4 SGB V von der Leistung der gesetzlichen
Krankenversicherung ausgeschlossen. Auch ist ein Blindenführhund kein
Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, da er für die speziellen Bedürfnisse
sehbehinderter Menschen gedacht und entsprechend geschult ist; er wird nur von
diesem Personenkreis benutzt (Urteil der Kammer vom 22.10.2002 - S 13 KR 30/02).
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Blindenführhunde sind als Hilfsmittel im Sinne des Krankenversicherungsrechts
anerkannt (vgl. BSG, Urteil vom 25.02.1981 - 5 a/5 RKn 35/78 = BSGE 51, 206 = SozR
2200 § 182b Nr. 19 = SozSich 1981, 218 = Breithaupt 1981, 938 = USK 8139; zur
Hilfsmitteleigenschaft ausführlich auch das Urteil der Kammer vom 22.10.2002 - S 13
KR 20/02). Dass die Klägerin die artgerechte Haltung eines Blindenführhundes
sicherstellen kann, ist zwischen den Beteiligten unstreitig (vgl. dazu auch das MDK-
Gutachten vom 04.08.2006).
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Ein Blindenführhund ist als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung auch
erforderlich, um eine Behinderung der Klägerin auszugleichen. Ein Hilfsmittel ist nach
der Rechtssprechung (BSG, Urteil vom 26.02.1991 - 8 RKn 13/90 = SozR 3-2500 § 33
Nr. 3 = Breithaupt 1991, 529; Urteil vom 03.11.1993 - 1 RK 42/92 = SozR 3-2500 § 33
Nr. 4 = Breithaupt 1994, 551 = SozSich 1994, 132) dann "erforderlich", wenn sein
Einsatz zur Lebensbetätigung in Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt
wird. Dazu gehören zum einen die körperlichen Grundfunktionen (Gehen, Stehen,
Treppensteigen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme,
Ausscheidung) und zum anderen die elementare Körperpflege, das selbstständige
Wohnen sowie die dazu erforderliche Erschließung eines gewissen körperlichen und
geistigen Freiraums, der auch die Aufnahme von Informationen und die Kommunikation
mit anderen zur Vermeidung von Vereinsamung umfasst. Maßstab ist stets der gesunde
Mensch, zu dessen Grundbedürfnissen der kranke oder der behinderte Mensch durch
die medizinische Rehabilitation oder mithilfe des von der Krankenkasse gelieferten
Hilfsmittels wieder aufzuschließen soll (vgl. BSG, Urteil vom 16.09.1999 - B 3 KR 8/98 R
= SozR 3-2500 § 33 Nr. 31 = Breithaupt 2000, 542 = NZS 2000, 296 = SozSich 2000,
325). Blindheit bedeutet u.a. den Verlust der Orientierungsfähigkeit und als Folge davon
der Mobilität. Durch einen Blindenführhund wird die zur Umweltkontrolle erforderliche
Sehfähigkeit nicht ersetzt, aber - in Grenzen - ausgeglichen. In diesem Sinne ermöglicht
der Führhund allgemeine Verrichtungen des täglichen Lebens - so insbesondere die
Teilnahme des Blinden am Straßenverkehr - und dient damit elementaren
Grundbedürfnissen (BSG, Urteil vom 25.02.1981 - 5a/5 RKn 35/78, a.a.O.; Urteil der
Kammer vom 22.10.2002 - S 13 KR 30/02).
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Allerdings folgt daraus nicht, dass die Krankenkasse zur Befriedigung dieses
Grundbedürfnisses jedes Hilfsmittel zur Verfügung stellen muss, die den Behinderten in
die Lage versetzt, dasselbe zu befriedigen. Die Leistungspflicht der gesetzlichen
Krankenversicherung beschränkt sich auf einen Basisausgleich (BSG, Urteil vom
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16.09.1999 - B 3 KR 8/98 R, a.a.O.). Zu den vitalen Lebensbedürfnissen im Bereich des
Gehens (Mobilität) gehört die Fähigkeit sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und
die Wohnung verlassen zu können, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische
Luft zu kommen" oder um die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden -
Stellen erreichen zu können, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (BSG, Urteile
vom 16.09.1999 - B 3 KR 8/98 R, - a.a.O. -, B 13 KR 13/98 R und B 13 KR 2/99 R).
Dementsprechend hat das BSG in den vorgenannten Entscheidungen einen Anspruch
auf einen "Rollstuhl-Bike" neben einem Rollstuhl oder anstelle eines solchen für nicht
erforderlich gehalten. Diese Rechtssprechung kann jedoch auf den Fall der
sehbehinderten Klägerin nicht übertragen werden.
Bei der Klägerin besteht eine gleichseitige Halbseitenblindheit (homonyme
Hemianopsie). Die Sehschärfe ist inzwischen rechts auf 1/15, links auf 1/10 herabsetzt;
das Gesichtsfeld ist hochgradig konzentrisch eingeengt. Auf Grund dessen ist die
Beeinträchtigung des Sehvermögens so stark, dass die Klägerin als blind anzusehen
ist. Sie ist wegen "Erblindung" als Schwerbehinderte nach einem GdB von 100
anerkannt. Ihr ist vom Versorgungsamt auch das Nachteilsausgleichmerkmal "Bl" (Blind)
zuerkannt. Die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen
Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht 2005" (AHP) definieren -
u.a. auch für das Straßenverkehrsrecht (vgl. AHP Nr. 23 Abs. 1) -: Blind ist der
behinderte Mensch, der nicht sehen kann (AHP Nr. 23 Abs. 2 Satz 1). Als blind ist aber
auch der Behinderte anzusehen, dessen Sehschärfe auf keinem Auge und auch nicht
bei beidäugiger Prüfung mehr als 0,02 (1/50) beträgt oder wenn andere Störungen des
Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorliegen, dass sie dieser
Beeinträchtigung der Sehschärfe gleichzuachten sind (AHP Nr. 23 Abs. 2 Satz 2). In
welchen Fallgruppen eine Sehbehinderung vorliegt, die Blindheit gleichzusetzen ist,
ergibt sich aus AHP Nr. 23 Abs. 3. Die Fallgruppe f) erfasst "homonyme Hemianopsien,
wenn die Sehschärfe nicht mehr als 0,1 (1/10) beträgt und das erhaltene Gesichtsfeld in
der horizontalen nicht mehr als 30° Durchmesser besitzt". Die Klägerin erfüllt die
Voraussetzungen dieser Fallgruppe; dies ist bereits im versorgungsamtsärztlichen
Gutachten vom 22.07.2003 festgestellt worden. Dass die Klägerin noch über ein
geringes Restsehvermögen verfügt, steht einem Anspruch auf Versorgung mit einem
Blindenführhund nicht entgegen. Entscheidend ist, dass bei der Klägerin eine Blindheit
gleichzusetzende hochgradige Sehbehinderung besteht. Soweit die Beklagte die
Ablehnung des Antrags u.a. mit der Vorschrift des § 33 Abs. 2 SGB V begründet,
verkennt sie, dass sich diese Vorschrift auf den Anspruch auf Sehhilfen bezieht. Was
Sehhilfen sind, ergibt sich aus Abschnitt E. der vom Gemeinsamen Bundesausschuss
gem. § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 erlassenen Hilfsmittel-Richtlinien. Um eine derartige
Sehhilfe geht es vorliegend jedoch nicht. Die Klägerin begehrt die Versorgung mit
einem Blindenführhund. Dieser ist seinem Sinn und Zweck nach eine Gehhilfe für
Blinde und ihnen gleichgestellte Behinderte, wie es auch der weiße Blindenlangstock
ist. Träfe die Auffassung der Beklagten zu, die WHO-Klassifikationen als Voraussetzung
für den Anspruch auf einen Blindenführhund heranzuziehen, müsste dies entsprechend
für den Blindenlangstock gelten. Dass dies nicht so ist, erscheint offensichtlich und wird
auch von der Beklagten so gesehen, da sie die Klägerin zu Recht mit einem
Blindenlangstock versorgt hat. Blindenführhund und Blindenlangstock gehören also
nicht zu den Sehhilfe i.S.v. § 33 Abs. 2 SGB V und Abschnitt E. der Hilfsmittel-
Richtlinien (vgl. Hilfsmittelverzeichnis, Produktgruppe 25); sie sind "andere Hilfsmittel"
(vgl. Abschnitt A. I. Nr. 2.1 der Hilfsmittel-Richtlinien; Hilfsmittelverzeichnis,
Produktgruppen 07 und 99).
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Blindheit und eine ihr gleichzusetzende hochgradige Sehbeeinträchtigung, wie sie bei
der Klägerin besteht, haben zur Folge, dass sich der Behinderte in einer nicht vertrauten
Umgebung ohne fremde Hilfe nicht zurechtfinden kann. Wer sich infolge körperlicher
Mängel nicht sicher im (Straßen-)Verkehr bewegen kann, darf am Verkehr nur
teilnehmen, wenn Vorsorge getroffen ist, dass er andere nicht gefährdet (§ 2 Abs. 1 Satz
2 der Fahrerlaubnis-Verordnung - FeV). Blinde Fußgänger können ihre Behinderung
durch einen weißen Blindenstock, die Begleitung durch einen Blindenhund im weißen
Führgeschirr und gelbe Abzeichen mit drei schwarzen Punkten kenntlich machen (§ 2
Abs. 2 Satz FeV). Das Gesetzt stellt also ausdrücklich darauf ab, dass sich jeder
Verkehrsteilnehmern sicher bewegen kann. Kann sich ein blinder Mensch im (Straßen-
)Verkehr nicht sicher fortbewegen, so darf er - dies folgt aus § 2 Abs. 1 FeV - am
öffentlichen Verkehr nicht teilnehmen.
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Durch den totalen Verlust der Sehfähigkeit ist die Klägerin zwar nicht gehindert zu
gehen (ihre unteren Extremitäten sind gesund); jedoch fehlt ihr ohne Hilfsmittel die
Fähigkeit, sicher zu gehen. Dieser Verlust wird durch das Hilfsmittel "Blindenlangstock"
nur unvollständig ausgeglichen. Dies gilt nicht nur an wohnortfernen Orten im Urlaub
oder bei Verwandten-/Bekanntenbesuchen, sondern auch in der näheren
Wohnortumgebung. Ein "sicheres" Gehen mit dem Blindenlangstock ist allenfalls
innerhalb der eigenen vertrauten Wohnung gewährleistet. Außerhalb der Wohnung im
Straßenverkehr gelingt dies nur noch nach intensivem OuM-Training, mit hoher
Konzentration und unter beherrschbaren "normalen" Straßenverkehrs- und
Ortsbedingungen. Dies ergibt sich aus den nachvollziehbaren überzeugenden
Darlegungen des (sachverständigen) Zeugen N. vom 29.05.2007 im Verfahren S 13 KR
99/06 (SG Aachen). Dieser ist OuM-Ausbilder für Blinde und Sehbehinderte. Er ist zwar
kein Experte für Blindenführhunde, sondern für die Schulung mit dem Blindenlangstock,
vermochte aber gleichwohl die Unterschiede des Umgangs mit einem Blindenlangstock
und einem Blindenführhund aufzuzeigen und zu erklären. Er hat deutlich gemacht, dass
der Blindenlangstock zwar durchaus ein Gehen im Straßenverkehr ermöglicht, in vielen
Situationen aber an Grenzen gelangt und seine Funktion nicht oder nur bedingt erfüllen
kann. Dies gilt zum Beispiel beim Aufspüren von Ampelmasten, bei widrigen
Witterungsverhältnissen, insbesondere Schnee, beim Überqueren sehr breiter Straße
oder sehr großen Kreuzungen, beim Überwinden großer Plätze oder freier Flächen, bei
großen Menschenansammlungen, beim Auffinden von Treppen, Aufzügen und Türen in
großen Gebäuden, bei Hindernissen in Kopfhöhe. In diesen nur beispielhaft genannten
Situationen ist der Blindenlangstock nicht mehr oder nur noch unvollkommen geeignet,
dem Blinden ein sicheres Gehen zu ermöglichen. Hierzu hat der Zeuge N. u.a.
dargelegt, dass der Blindenlangstock zwar ein wesentliches Hilfsmittel zum Ertasten
von Untergründen und zur Fortbewegung ist, jedoch sein Gebrauch gerade im
Straßenverkehr eine hohe Konzentration verlangt. Auch wenn das akustische
Lokalisieren und das Geradeausgehen einen wesentlichen Anteil des OuM-Trainings
ausmacht, ist selbst ein gut geschulter Blinder beim Überqueren sehr breiter großer
Straßen oder Kreuzungen nicht in der Lage, allein mit dem Blindenlangstock eine
gerade Linie einzuhalten. Anders ist es mit einem Blindenführhund: Dieser visiert einen
ganz bestimmten Punkt auf der gegenüberliegenden Seite an und geht genau auf
diesen zu. Ähnliches gilt beim Überwinden von Plätzen oder großen freien Flächen.
Hier hat der Zeuge N. den neugestalteten Platz vor dem Hauptbahnhof Aachen genannt.
Dieser sei zwar optisch sehr schön gestaltet, aber für einen Blinden mit einem
Langstock sehr ungünstig; er könne sich auf einen solchen Platz kaum zurecht finden,
was aber mit einem Hund kein Problem wäre. Weiter hat der Zeuge N. dargelegt, dass
im Winter bei Schneefall die Konturen der Straßen und Straßenbegrenzungen durch
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Schnee verschüttet sind; der Blinde könne sie mit einem Langstock nicht mehr
erkennen, hier versage der Langstock völlig; dagegen sei ein Blindenführhund in einer
solchen Situation ideal. Auch in großen Bauten - so der Zeuge N. - ist ein
Blindenführhund hilfreich und besser geeignet als der Blindenlangstock, soweit es um
das Auffinden von Treppen, Aufzügen und Türen geht. Schließlich hat der Zeuge N.
überzeugend dargelegt, dass der Gebrauch des Blindenlangstocks den Blinden nicht
davor schützt, vor große Hindernisse in Kopfhöhe zu stoßen. Der Blindenlangstock wird
in einer ganz bestimmten Art und Weise gebraucht. Er wird ungefähr soweit vom Körper
entfernt gehalten, dass der Blinde immer einen Schritt im Voraus geschützt ist, jedoch
nur in der Körperbreite und in der Körperhöhe von der Gürtellinie abwärts bis zum
Boden. Vor einer Kollision mit Hindernissen oberhalb der Gürtellinie schützt er nicht. Ein
gut geschulter Blindenführhund dagegen kann solche Hindernisse erkennen und würde
sich quer stellen, um dem Blinden zu signalisieren, dass hier ein großes Hindernis ist.
Diese zahlreichen Beispiele zeigen, dass auch zur Erschließung der näherer
Wohnumgebung - sei es im Urlaub, bei Wochendverwandtenbesuchen oder am
Heimatort - das Grundbedürfnis des sicheren Gehens in den geschilderten Situationen
durch einen Blindenlangstock nicht mehr befriedigt werden kann; dann bedarf der
Blinde einer Begleitperson oder eines Blindenführhundes (rechtskräftiges Urteil der
Kammer vom 29.05.2007 S 13 KR 99/06; ebenso: SG Aachen, Urteil vom 22.10.2007 -
S 21 KR 32/07). Die Klägerin lebt zwar nicht allein; ihr Ehemann ist aber selbst blind.
Die Hinzuziehung einer anderen Begleitperson bei Bedarf ist nicht immer möglich. Im
Übrigen hat die Rehabilitation behinderter Menschen u.a. zum Ziel, ihnen eine
"möglichst selbständige und selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen und zu
erleichtern" (vgl. § 4 Abs. 1 Nr. 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB IX). Auch
deshalb kann es der Klägerin nicht ohne Not zugemutet werden, bei Bedarf Freunde
und Bekannte als Begleitperson um Hilfe zu bitten.
Zusammenfassend kommt die Kammer daher zu dem folgenden Ergebnis: Wenn die
Bedingungen für die artgerechte Unterbringung und Haltung eines Hundes - wie bei der
Klägerin - gegeben sind, ist ein Blindenführhund nicht nur eine sinnvolle, sondern eine
notwendige Ergänzung zum Blindenlangstock, um das Grundbedürfnis der Mobilität im
Sinne der Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums zu
befriedigen, auch im Sinne eines Basisausgleichs. Nur die kumulative Versorgung mit
Blindenlangstock und Blindenführhund ermöglicht blinden Menschen, die sich für einen
Hund entscheiden und diesen versorgen können, eine von fremder Begleitung
unabhängige Orientierung und Mobilität, insbesondere eine - vom Gesetz (§ 2 Abs. 1
Satz 1 FeV) geforderte - sichere Fortbewegung im Verkehr (Riederle, SGb 2002, 96, 98;
rechtskräftiges Urteil der Kammer vom 29.05.2007 - S 13 KR 99/06; SG Aachen, Urteil
vom 22.10.2007 - S 21 KR 32/07). Dies begründet den Anspruch der Klägerin auf
Versorgung mit einem Blindenführhund.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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