Urteil des SozG Aachen vom 20.04.2007

SozG Aachen: obliegenheit, landrat, verwaltungsakt, form, sozialversicherungsrecht, gerichtsakte, beendigung, eingliederung, rechtskraft, rechtspflicht

Sozialgericht Aachen, S 8 AS 3/07
Datum:
20.04.2007
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 8 AS 3/07
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Berufung
wird zugelassen.
Tatbestand:
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Der Kläger wendet sich gegen die Absenkung von Arbeitslosengeld II.
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Der am 00.00.1967 geborene alleinstehende Kläger steht im Bezug von
Arbeitslosengeld II. Zuletzt bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 15.11.2006
Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 01.12.2006 bis zum 31.05.2007 i. H. v. 648,24 EUR
monatlich. Am 27.10.2006 wurde der Kläger im Rahmen einer persönlichen Vorsprache
dazu aufgefordert, eine Eingliederungsvereinbarung abzuschließen. Hierin sollte der
Kläger sich verpflichten, "10 Bewerbungsnachweise anhand des ausgehändigten
Formulars jeden Monat bei der K" einzureichen. Dies sollte bis zum 27.10.2007 erledigt
werden. Im Gegenzug verpflichtete sich der Landrat des Kreises E. "nach Vorlage und
Prüfung der Quittungen für Bewerbungskosten diese bis zu einer Höhe von maximal
260,- EUR/Jahr" zu ersetzen. Die Eingliederungsvereinbarung enthielt eine Belehrung
über die Rechtsfolgen nach § 31 SGB II. Der Kläger weigerte sich im persönlichen
Gespräch, die Eingliederungsvereinbarung abzuschließen, weshalb ihm ein
schriftliches Exemplar mitgegeben wurde. Dies sandte der Kläger ohne es
unterschrieben zu haben zurück.
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Mit Bescheid vom 22.11.2006 kürzte der Beklagte für die Zeit vom 01.12.2006 bis zum
28.02.2007 die Regelleistung des Arbeitslosengeldes II um 30 %, weil der Kläger sich
geweigert habe, eine Eingliederungsvereinbarung abzuschließen. Im
Widerspruchsverfahren meinte der Kläger, die Obliegenheit zum Abschluss der
Eingliederungsvereinbarung sei verfassungswidrig. Der Beklagte habe
unverhältnismäßigen Zwang auszuüben versucht. Allerdings sei er bereit, bis zu
27.10.2007 die geforderten Bewerbungen vorzunehmen.
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Mit Bescheid vom 28.11.2006 legte der Landrat des Kreises E. fest, welche Aktivitäten
der Kläger zur Beendigung seiner Beschäftigungslosigkeit zu entfalten hat. Im
Gegenzug dazu verpflichtete sich der Landrat des Kreises E. zu einer Beratung
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hinsichtlich der weiteren beruflichen Planung und zur Erstattung von
Bewerbungskosten. Den gegen diese Entscheidung eingelegten Widerspruch wies der
Beklagte mit Bescheid vom 02.01.2007 zurück, dieser Bescheid ist bestandskräftig.
Mit Bescheid vom 14.12.2006 wies der Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid
vom 22.11.2006 zurück. Er stützte sich auf § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a SGB II.
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Hiergegen richtet sich die am 10.01.2007 erhobene Klage. Der Kläger betont seine
Bereitschaft, sich entsprechend den Anforderungen des Beklagten zu bewerben. Er hält
die Tatsache, dass er die Eingliederungsvereinbarung nicht unterschrieben hat, für eine
bloße Formalie, die den Kürzungsbescheid nicht zu rechtfertigen vermag.
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Der Kläger beantragt,
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den Bescheid vom 22.01.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
14.12.2006 aufzuheben.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er meint, dass bereits der Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung eine erste Form
von Eigenbemühungen darstelle, so dass im Fall der Weigerung die Sanktionsregelung
gerechtfertigt sei.
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Ein vom Kläger beantragtes einstweiliges Rechtsschutzverfahren blieb sowohl in erster
Instanz (Sozialgericht Aachen, Beschluss vom 21.12.2006 - S 15 AS 252/06 ER - ) als
auch zweitinstanzlich (LSG NRW, Beschluss vom 08.02.2007 - L 7 B 11/07 AS ER -)
erfolglos. Auf den Inhalt der genannten Entscheidungen sowie die beigezogene
Gerichtsakte S 15 AS 252/06 ER wird verwiesen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene
Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen ist, verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der angefochtene Bescheid ist nicht
rechtswidrig i. S ...d. § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG.
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Ermächtigungsgrundlage für die Entscheidung des Beklagten ist § 31 SGB X. Diese
Vorschrift stellt eine gegenüber den allgemeinen Vorschriften über die Aufhebung von
Verwaltungsakten (§§ 45, 48 SGB X) eigenständige Ermächtigungsgrundlage zur
Absenkung von Leistungen dar.
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Gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a SGB II wird das Arbeitslosengeld II unter Wegfall des
Zuschlages nach § 24 in einer ersten Stufe um 30 % der für den erwerbsfähigen
Hilfebedürftigen nach § 20 maßgebenden Regelleistung abgesenkt, wenn der
erwerbsfähige Hilfebedürftige sich trotz Belehrung über die Rechtsfolgen weigert, eine
ihm angebotene Eingliederungsvereinbarung abzuschließen. Die Absenkung tritt
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gemäß § 31 Abs. 6 SGB II mit Wirkung des Kalendermonats ein, der auf das
Wirksamwerden des Verwaltungsaktes, der die Absenkung feststellt, folgt. Die
Absenkung dauert gemäß § 31 Abs. 6 Satz 2 SGB II drei Monate. Der Kläger hat sich
trotz Belehrung über die Rechtsfolgen geweigert, eine ihm angebotene
Eingliederungsvereinbarung abzuschließen. Der Beklagte hat entsprechend § 31 Abs. 6
SGB II ab 01.12.2006 bis zum 28.02.2007 das Arbeitslosengeld II gemindert. Die Höhe
der Minderung beträgt gemäß § 31 Abs. 1SGB II 30 %.
Die angebotene Eingliederungsvereinbarung war rechtmäßig. Sie entspricht den
Anforderungen des § 15 Abs. 1 SGB II. Sofern in der Rechtsprechung gefordert wird,
dass als vereinbarungsfähige Leistungen zur Eingliederung nur solche in Betracht
kommen, die im Ermessen des Leistungsträgers stehen, auf die also kein
Rechtsanspruch besteht (so LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.01.2007 - L
13 AS 4160/06 ER-B), entspricht die Eingliederungsvereinbarung diesen Vorgaben. Bei
der Erstattung von Bewerbungskosten handelt es sich gemäß § 16 Abs 1 SGB II um
eine Ermessensleistung.
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Der Absenkung steht auch nicht entgegen, dass der Beklagte gemäß § 15 Abs. 1 Satz 6
SGB II die Regelungen der gescheiterten Eingliederungsvereinbarung durch
Verwaltungsakt (Bescheid vom 28.11.2006) festgesetzt hat. Allerdings wird in der
Rechtsprechung ebenfalls vertreten, dass für den Fall des Scheiterns einer
Eingliederungsvereinbarung und des Erlasses eines Verwaltungsakts nach § 15 Abs. 6
SGB II eine Absenkung wegen Weigerung zum Abschluss einer
Eingliederungsvereinbarung nicht mehr verfügt werden könne. Dies gelte jedenfalls,
wenn Leistungsträger den Verwaltungsakt nach § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II vor dem
Absenkungsbescheid erlassen hat. Mit Erlass eines solchen Verwaltungsaktes habe der
Leistungsträger von einer ihm für eine Eingliederung als Regelfall eingeräumten
Befugnis Gebrauch gemacht und damit den im wesentlich gleichen Zweck wie eine
Eingliederungsvereinbarung erreicht; dann noch eine Absenkung zu verfügen, hätte
Straf- oder Disziplinierungscharakter und wäre unverhältnismäßig. Bevor der
Leistungsträger sich bei Weigerung, eine Eingliederungsvereinbarung abzuschließen,
zu einer Absenkung entschließt, habe er zu prüfen, ob es ausreicht, anstelle der
Vereinbarung einen Verwaltungsakt zu erlassen. Habe der Leistungsträger von der
Möglichkeit des § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II Gebrauch gemacht, sei ihm die Absenkung
verwehrt (LSG Baden-Württemberg a.a.O.).
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Die Kammer folgt dieser Auffassung ausdrücklich nicht. Dem steht der Wortlaut des § 31
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a SGB II entgegen. Ohne dass dem Leistungsträger Ermessen
zusteht oder ein Beurteilungsspielraum eröffnet wäre, ist die Absenkung als Folge der
Weigerung, eine angebotene Eingliederungsvereinbarung abzuschließen, zwingende
Rechtsfolge.
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Das Gericht hält diese gesetzliche Anordnung nicht für verfassungswidrig (zur
Klärungsbedürftigkeit dieser Frage vergleiche BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom
14.02.2005 - 1 BvR 199/05): Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB II muss der erwerbsfähige
Hilfebedürftige eine Eingliederungsvereinbarung abschließen. Hierin sieht die Kammer
keinen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG. Die
"Verpflichtung" zum Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung gemäß § 2 Abs. 1
Satz 2 SGB II begründet keine echte Rechtspflicht, sondern stellt die Begründung einer
Obliegenheit dar. Obliegenheiten begründen für den Begünstigten weder einen
primären Erfüllungsanspruch noch bei Verletzung einen sekundären
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Schadensersatzanspruch. Rechtsnachteile für den durch die Obliegenheit Belasteten
entstehen dadurch, dass dieser einen ansonsten bestehenden Anspruch verliert, verletzt
der Betroffene eine Obliegenheit, so schmälert dies seine Rechtsposition (zur
Obliegenheitsverletzung im Privat- und Sozialversicherungsrecht ausführlich Voelzke,
Die Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sozialversicherungsrecht 2004, Seite 84
f.). Ebensowenig, wie derjenige, der zur Sicherung seiner wirtschaftlichen Existenz
einen Arbeitsvertrag abschließen muss - andernfalls erhält er keine Entlohnung -, in
seiner allgemeinen Handlungsfreiheit verletzt ist, so verletzt die Obliegenheit zum
Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung die allgemeine Handlungsfreiheit des
Arbeitsuchenden: Aus Freiheitsrechten, die zum Zwecke der Persönlichkeitsentfaltung
oder Interessenverfolgung eingeräumt sind, kann grundsätzlich kein Anspruch auf
staatliche Zuwendungen zur Ermöglichung der Grundrechtsausübung abgeleitet
werden. Auch aus der negativen Handlungsfreiheit - hier: der Befugnis, Verträge nicht
abzuschließen - kann kein Anspruch gegen die Allgemeinheit auf finanzielle
Absicherung der Weigerung einer vertraglichen Bindung abgeleitet werden (BVerfG,
Beschluss vom 06.10.1992 - 1 BvR 1586/89, 1 BvR 487/92 = BVerfGE 87, 181 (206);
Papier, in: Sozialrechtshandbuch, Seite 119, in diesem Sinne auch Schulin, SGb 1989,
94 (103) mit der zutreffenden Einschränkung, dass der Staat unmittelbar aufgrund von
Artikel 1 Abs. 1 GG auch bei penetrantester Arbeitsverweigerung niemand das
allernötigste Existenzminimum verweigern darf). Nichts Anderes aber begehrt der
Kläger, wenn er ungeminderte Grundsicherungsleistungen trotz Weigerung des
Abschlusses einer Eingliederungsvereinbarung erhalten will.
Unbeachtlich ist auch, dass der Kläger bereit ist, die geforderten Bewerbungen
vorzulegen. Bei der Weigerung des Abschlusses der Eingliederungsvereinbarung
handelt es sich eben nicht um eine "Formalie", sondern die leistungsrechtlich relevante
Verletzung einer Obliegenheit. Das Gericht folgt dem Beklagten, wenn dieser ausführt,
dass die Bereitschaft zum Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung als
Mitwirkungshandlung bereits die erste Form von Eigenbemühungen darstellt.
Entsprechend der gesetzlichen Konzeption des SGB II soll der betroffene
Leistungsempfänger nicht auf einseitige Maßnahmen von Seiten des Leistungsträgers
warten, sondern sich aktiv um die Beendigung seiner Beschäftigungslosigkeit bemühen.
Anders ist die Rechtslage, wenn der Betroffene nicht - wie hier - den Abschluss einer
Eingliederungsvereinbarung prinzipiell verweigert, sondern einen eigenen Entwurf einer
Eingliederungsvereinbarung vorschlägt (LSG Hessen, Beschluss vom 05. September
2006 - L 7 AS 107/06 ER = Info also 2007 Seite 31).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Angesichts der genannten Entscheidung des LSG Baden-Württemberg hat das Gericht
gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG die Berufung zugelassen.
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