Urteil des SozG Aachen vom 15.05.2007

SozG Aachen: erwerbsfähigkeit, verminderung, drucksache, eigentumsschutz, altersrente, reform, koch, abschlag, kritik, unterliegen

Sozialgericht Aachen, S 13 R 18/07
Datum:
15.05.2007
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
13. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 13 R 18/07
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Die Sprungrevision wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten über die Höhe der Erwerbsminderungsrente vom 01.10.2002 bis
31.03.2006.
2
Der am 17.07.1945 geborene Kläger beantragte am 02.09.2002 Rente wegen
Erwerbsminderung. Durch Bescheide vom 29.08. und 19.11.2003 bewilligte die
Beklagte - ausgehend von einer seit 02.09.2002 bestehenden Erwerbsminderung -
Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.10.2002 bis 31.03.2003;
durch Bescheide vom 03.09. und 21.11.2003 sowie vom 19.01.2006 bewilligte sie
Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 01.04.2003 bis 31.03.2006. Für
die Berechnung dieser Renten setzte die Beklagte verminderte Zugangsfaktoren von
0,934 bzw. 0,916 an. Seit 01.04.2006 erhält der Kläger Altersrente für schwerbehinderte
Menschen. Die persönlichen Entgeltpunkte, die Grundlage der Rente wegen teilweiser
Erwerbsminderung waren, wurden auch den Folgerenten zugrundegelegt.
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Am 15.06.2006 beantragte der Kläger die Überprüfung der Höhe und eine
Neuberechnung der Erwerbsminderungsrenten. Zur Begründung verwies er u.a. auf das
Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.05.2006 - B 4 RA 22/05 R.
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Durch Bescheid vom 19.12.2006 lehnte die Beklagte den Antrag auf Neufeststellung der
Rente ab mit der Begründung, die Rente werde in richtiger Höhe gezahlt. Den
hiergegen am 22.12.2006 eingelegten Widerspruch wies die Beklagte durch
Widerspruchsbescheid vom 13.02.2007 zurück.
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Dagegen hat der Kläger am 07.03.2007 Klage erhoben.
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Der Kläger beantragt,
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den Bescheid vom 19.12.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
13.02.2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm in entsprechender
Abänderung der Rentenbewilligungsbescheide vom 29.08., 03.09., 19.11., 21.11.2003
und 19.01.2006 für die Zeit vom 01.10.2002 bis 31.03.2006 höhere Renten wegen
Erwerbsminderung unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 zu gewähren.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hält die Entscheidung des BSG vom 16.05.2006 für falsch und ihre Berechnung der
Erwerbsminderungsrenten für zutreffend.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen den Kläger betreffende Verwaltungsakte der
Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug
genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.
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Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2
Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie nicht rechtswidrig sind. Die Beklagte hat
zu Recht den Antrag auf Überprüfung der bestandskräftigen Bescheide über die
Bewilligung der Erwerbsminderungsrenten ab 01.10.2002 und eine Nachzahlung von
Rente abgelehnt, da bei Erlass dieser Bescheide das Recht richtig angewandt und die
Rentenleistungen in richtiger Höhe erbracht worden sind (vgl. § 44 Abs. 1 Satz 1
Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X).
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Die Beklagte hat sich bei der Berechnung der Renten und bei der Bestimmung des
Zugangsfaktors zu Recht auf das ab 01.01.2001 geltende Rentenrecht in der Fassung
des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom
20.12.2000 - BGBl. I S. 1827 - gestützt. Sie hat den für die Erwerbsminderungsrenten
maßgeblichen Zugangsfaktor richtig mit 0,934 bzw. 0,916 bestimmt. Für die Rente
wegen teilweiser Erwerbsminderung hat sie in Anwendung von § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3,
Satz 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) i.V.m. § 264c SGB VI und der Anlage
23 zum SGB VI den Regel-Zugangsfaktor 1,0 für 22 Monate um je 0,003, insgesamt also
um 0,066 niedriger angesetzt. für die Rente wegen voller Erwerbsminderung hat sie
gem. § 77 Abs. 3 Satz 2 SGB VI für die Hlfte der Entgeltpunkte, die bereits Grundlage
der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung gewesen waren, den Zugangsfakor
0,934 dieser Rente herangezogen; für die andere Hälfte der Entgeltpunkte hat sie in
Anwendung von § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 SGB VI den Regel-Zugangsfaktor 1,0
für 28 Monate um je 0,003, insgesamt also um 0,084 niedriger angesetzt. Da die
persönlichen Entgeltpunkte, die Grundlage der Rente wegen teilweiser
Erwerbsminderung waren, zu einer höheren Rente wegen voller Erwerbsminderung
führten, wurden sie gem. § 88 Abs. 1 Satz 2 SGB VI auch dieser Rente zugrunde gelegt.
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Zwar entspricht die Rentenberechnung der Beklagten nicht der Auffassung des BSG im
Urteil vom 16.05.2006 (B 4 RA 22/05 R). Jedoch hat die 8. Kammer des Sozialgerichts
Aachen durch Urteil vom 09.02.2007 (S 8 R 96/06) die dem BSG nicht folgende Praxis
der Rentenversicherungsträger als mit dem Gesetz in Einklang stehend erkannt und ist
der Ansicht des BSG nicht gefolgt. Sie hat dies wie folgt begründet:
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"Allerdings entspricht die Entscheidung der Beklagten nicht dem Urteil des BSG vom
16.05.2006 - B 4 RA 22/05 R -. Nach dieser Entscheidung unterliegen
Erwerbsminderungsrentner, die - wie der Kläger - bei Rentenbeginn das 60. Lebensjahr
noch nicht vollendet haben, Rentenabschlägen nur, wenn sie Rente über das 60.
Lebens-jahr hinaus beziehen. Das BSG interpretiert die für die Berechnung des
Zugangs-faktors maßgebende Vorschrift des § 77 SGB VI entsprechend: Gemäß § 77
Abs. 2 Nr. 3 SGB VI ist der Zugangsfaktor für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage
von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente waren, bei Renten wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalen-
dermonats der Vollendung des 63. Lebensjahrs in Anspruch genommen wird, um 0,003
niedriger als 1,0. Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor
Vollendung des 60. Lebensjahres, ist gemäß § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI die Vollen-dung
des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend. Die Zeit des
Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten gilt gemäß
§ 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnah-me. Nach der
Rechtsprechung des 4. Senates des BSG seien Bezugszeiten vor Vollendung des 60.
Lebensjahres vom Gesetz gerade nicht als Zeiten eines "vorzeiti-gen Rentenbezuges"
bestimmt. Allein eine derartige Interpretation sei verfassungs-gemäß. Die Verminderung
des Zugangsfaktors durchbreche das "Prinzip der Vor-leistungsbezogenheit der Rente".
Dieses Prinzip werde technisch im Gesetz dadurch verwirklicht, dass der Zugangsfaktor
grundsätzlich als Faktor 1,0 anzusetzen und damit rechnerisch ohne Bedeutung für
Rentenberechnung sei. Jede Durchbrechung des Prinzips der Vorleistungsbezogenheit
der Rente bedürfe der ausdrücklichen Bestimmung durch ein verfassungsgemäßes
Gesetz. Erst ab dem Zeitpunkt, ab dem die Erwerbsminderungsrente "vorzeitig" in
Anspruch genommen wird, könne ohne verfassungswidrige Willkür eine Nichtbeachtung
der Vorleistung, die der Versicherte für die Rentenversicherung erbracht hat, in Betracht
kommen. Nur eine vorzeitige Inanspruchnahme sei ein Sachgrund für die
"Nichtberücksichtigung eines Teils der Vorleistung". Die am 01. Januar 2001 in Kraft
getretene Neufassung des § 63 Abs. 5 SGB VI, wonach Vorteile und Nachteile einer
unterschiedlichen Rentenbezugsdauer durch einen Zugangsfaktor vermieden werden,
beziehe sich nur auf die Zeit ab Vollendung des 60. Lebensjahrs. Erst ab diesem
Zeitpunkt seien Ausweichreaktionen aus der nur bei Inkaufnahme von Abschlägen in
Anspruch zu nehmenden vorzeitigen Altersrente auf die Erwerbsminderungsrente
denkbar. Da prägender Leitgedanke für die Einbeziehung der Rente wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit in die Regelungen über den Zugangsfaktor gewesen sei,
die Höhe der Erwerbsminderungsrente an die Höhe der vorzeitig in Anspruch
genommenen Altersrente anzupassen, werde auch durch die Entstehungsgeschichte
des Gesetzes zur Reform der Erwerbsminderungs-renten bestätigt, dass eine
Reduzierung des Zugangsfaktors erst ab Vollendung des 60. Lebensjahrs in Betracht
kommt. Etwas anderes ergebe sich auch nicht daraus, dass ebenfalls ab 01.01.2001 die
Zurechnungszeiten für die Versicherten, die bereits vor Vollendung des 60. Lebensjahrs
erwerbsgemindert sind und Rente beziehen, verlängert wurden.
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Die Entscheidung des BSG ist zu Recht in der Literatur auf Kritik gestoßen (Plagemann,
in: JurisPR-SozR 20/2006; von Koch/Kolakowski, SGb 2007, 71 f.) und die
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Rentenversicherungsträger folgen der Entscheidung zu Recht nicht: Die Entscheidung
steht im Widerspruch zur - soweit ersichtlich - unbestrittenen Auffassung in der
gesamten Rentenliteratur (vgl. nur Polster, in: Kasseler Kommentar zum
Sozialversicherungsrecht, § 77 SGB VI Rdnr. 21; Silber in: LPK-SGB VI, § 77 Rdnr. 8;
Plagemann a.a.O. mit zahlreichen weiteren Nachweisen).
Die Kammer entnimmt bereits der gesetzlichen Formulierung, dass die auch im
angefochtenen Bescheid angewandte Verwaltungspraxis der Beklagten durch den
Gesetzgeber angeordnet ist, so dass bei Annahme einer Verfassungswidrigkeit eine
Vorlage an das Bundesverfassungsgericht gemäß Artikel 100 Abs. 1 GG geboten
gewesen wäre: Gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 3 SGB VI ist die Verminderung des
Zugangsfaktors bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für jeden
Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des
63. Lebensjahrs in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0. Diese
Vorschrift ist für sich genommen nicht ausreichend, weil sie zur Folge haben könnte -
wie auch das BSG in der genannten Entscheidung darlegt -, dass der Zugangsfaktor auf
0 absinkt und deshalb keine Rente bewilligt würde. Deshalb musste das Gesetz eine
Regelung dazu vorsehen, welcher Abschlag maximal vom Versicherten in Kauf
genommen werden muss. Diese Regelung ist in § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI enthalten:
Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60.
Lebensjahres, ist die Vollendung des 60. Lebensjahrs für die Bestimmung des
Zugangsfaktors maßgebend. Hieraus ergibt sich, dass die Verminderung des
Zugangsfaktors bei Inanspruchnahme einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
vor Vollendung des 63. Lebensjahrs auf 36 x 0,003 = 0,108 begrenzt ist. Nur insoweit -
also hinsichtlich der Berechnung der höchstmöglichen Reduzierung des Zugangsfaktors
- bestimmt § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI, dass die Zeit des Bezugs einer Rente vor
Vollendung des 60. Lebensjahrs des Versicherten nicht als Zeit einer vorzeitigen
Inanspruchnahme gilt (in diesem Sinne auch: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss
vom 13.12.2006 - L 2 R 466/06 ER -; zur Bedeutung von § 77 Abs. 2 S. 3 SGB VI für §
77 Abs. 3 SGB VI näher von Koch/Kolakowski a.a.O.).
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Diese sich aus dem Wortlaut des Gesetzes ergebende Interpretation wird durch die
Gesetzesmaterialien bestätigt: Durch das Gesetz zur Reform der Renten wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20.12.2000 (BGBl. I, 1827) sollte die Höhe der
Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit an die der vorzeitig in Anspruch
genommenen Altersrenten angepasst werden (BT-Drucksache 14/4230 Seite 1, 26).
Zwar war Sinn der Neuregelung auch, Ausweichreaktionen von den Altersrenten, die
nur bei Inkaufnahme von Abschlägen vorzeitig in Anspruch genommen werden können,
in die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit entgegen zu wirken (BT-
Drucksache 14/4230, Seite 26 zu Nr. 22). Insofern ist dem BSG dahingehend Recht zu
geben, dass eine solche Ausweichreaktion nur bei Personen stattfinden kann, die das
60. Lebensjahr vollendet haben. Dennoch hat der Gesetzgeber generell zum Ziel
gehabt, Vorteile eines längeren Rentenbezuges durch einen verminderten
Zugangsfaktor auszugleichen (BT-Drucksache 14/4230, Seite 26 zu Nr. 16). Der
Gesetzesbegründung ist an keiner Stelle zu entnehmen, dass ein solcher verminderter
Zugangsfaktor lediglich für Versicherte gelten soll, die das 60. Lebensjahr vollendet
haben. Im Gegenteil geht die Gesetzesbegründung generell davon aus, dass die Höhe
der Erwerbsminderungsrenten an die Höhe der vorzeitig in Anspruch genommenen
Altersrenten in der Weise angeglichen wird, dass die Renten mit einem Abschlag von
höchstens 10,8 % versehen werden (BT-Drucksache 14/4230 Seite 24). Aus dieser
Formulierung ist zwar nur indirekt aber dennoch zwingend zu entnehmen, dass der
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Gesetzgeber davon ausging, dass die Verringerung des Zugangsfaktors auch
Erwerbsminderungsrenten erfasst, die vor Vollendung des 60. Lebensjahrs in Anspruch
genommen werden. Denn eine Begrenzung des "Abschlags" auf höchstens 10,8 %
braucht nur dann ausdrücklich erwähnt zu werden, wenn sich ohne eine ausdrückliche
entsprechende Formulierung ein höherer Abschlag errechnen könnte. Dies ist bei
isolierter Betrachtung von § 77 Abs. 2 Nr. 3 SGB VI - wie dargestellt - der Fall.
Schließlich ist das Ergebnis der Rechtsprechung des BSG nicht mit der ebenfalls durch
das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit eingeführten,
ab 01.01.2001 geltenden Verlängerung der Zurechnungszeit - von der auch der Kläger
profitiert - zu vereinbaren. Bis zum 31.12.2000 endete gemäß § 59 Abs. 3 SGB VI a. F.
die Zurechnungszeit mit dem Zeitpunkt, der sich ergibt, wenn die Zeit bis zum
vollendeten 55. Lebensjahr in vollem Umfang, die darüber hinausgehende Zeit bis zum
vollendeten 60. Lebensjahr zu einem Drittel hinzugerechnet wird. Seit dem 01.01.2001
endet die Zurechnungszeit gemäß § 59 Abs. 2 Satz 2 SGB VI erst mit Vollendung des
60. Lebensjahrs. Nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers (BT-Drucksache
14/4230 Seite 24, 26) sollten die Auswirkungen der Verminderung des Zugangsfaktors
dadurch abgemindert werden, dass die Zeit zwischen dem vollendeten 55. und 60.
Lebensjahr künftig voll als Zurechnungszeit angerech-net wird. Die Kammer hält es
nicht für angängig, entgegen dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers bei einem
Regelungskomplex - hier dem Zusammenspiel der Verlängerung der Zurechnungszeit
mit der Verminderung des Zugangsfaktors - einen Teil des Regelungskomplexes für
verfassungswidrig zu erklären, den anderen - begünstigenden - Teil hingegen
unangetastet zu lassen (ebenso Plagemann a.a.O.). Dann nämlich würde - vollständig
entgegen der Intention des Gesetzgebers - anstelle einer Verminderung der vorzeitigen
in Anspruch genommenen Erwerbsmin-derungsrenten deren Erhöhung die Folge sein.
Wegen der Verlängerung der Zurechnungszeit hält die Kammer schließlich den
verfassungsrechtlichen Ausgangspunkt der Argumentation des BSG nicht für stichhaltig
(ebenso von Koch/Kolakowski a.a.O.): Das BSG hält den Zugangsfaktor von 1,0 wohl
aufgrund des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 1
GG für verfassungsrechtlich geboten. Voraussetzung für einen Eigentumsschutz
sozialversicherungsrechtlicher Positionen nach Art. 14 Abs. 1 GG ist eine
vermögenswerte Rechtsposition, die nach Art eines Ausschließlichkeitsrechtes dem
Rechtsträger als privatnützig zugeordnet ist. Diese genießt den Schutz der
Eigentumsgarantie dann, wenn sie auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des
Versicherten beruht (zum Schutz sozialversicherungsrechtliche Ansprüche durch Art. 14
Abs. 1 GG vgl. BVerfG, Urteil vom 16.07.1985 - 1 BvL 5/80 = BVerfGE 69, 272 (300 f.);
Lenze, NRW 2003, 1427; Neumann, NZS 1998, 401). Das BVerfG hat hierbei einen
abgestuften Eigentumsschutz entwickelt: In dem durch Beitragsäquivalenz geprägten
Leistungsbereich ist der Eigentumsschutz intensiver, als im sonstigen Bereich der
Bewilligung von Leistungsanteilen ohne oder mit nur geminderter Beitragsleistung, hier
verfügt der Gesetzgeber über einen weiteren Gestaltungsspielraum (zu Ausbildungs-
Ausfallzeiten: BVerfG, Beschluss vom 01.07.1981 - 1 BvR 874/77 = BVerfGE 58, 81 =
SozR 2200 § 1255a Nr. 7). Das Prinzip der Beitragsbezogenheit des
Eigentumsschutzes rentenversicherungsrechtlicher Positionen wurde jüngst durch das
BVerfG in der Entscheidung vom 13.06.2006 (1 BvL 9/00 ) bestätigt. Nach dieser
Entscheidung unterliegen die durch das Fremdrentengesetz begründeten
Anwartschaften nicht dem Schutz des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG, wenn ihnen
ausschließlich Beitrags- und Beschäftigungszeiten zugrunde liegen, die in den
Herkunftsgebieten erbracht oder zurückgelegt wurden. Bei der Anerkennung der
Zurechnungszeit und insbesondere auch deren Verlängerung handelt es sich um dem
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Kläger zugute kommende rentenrechtliche Zeiten, die nicht auf Beitrags- und
Beschäftigungszeiten beruhen. Wenn auch für einen Versicherungsverlauf, in dem
derartige Zeiten enthalten sind, der ungeminderte Zugangsfaktor von 1,0
verfassungsrechtlich geboten wäre, würden auch diese Zeiten dem uneingeschränkten
Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG unterworfen. Ein derartiges Ergebnis
lässt sich aus der Rechtsprechung des BVerfG zum abgestuften Eigentumsschutz
sozialversicherungsrechtlicher Positionen nicht ableiten."
Diesen überzeugenden Erwägungen der 8. Kammer schließt sich die erkennende
Kammer in vollem Umfang an.
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Ergänzend merkt die Kammer zur Auslegung von § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI folgendes
an: Dieser Satz ("Die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres
des Versicherten gilt nicht als Zeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme.") bedeutet nicht,
dass die vorzeitige Inanspruchnahme vor Vollendung des 60. Lebensjahres eine
Minderung des Zugangsfaktors ausschließt. Vielmehr steht dieser Satz im Kontext mit
Absatz 3 des § 77 SGB VI. Nach dessen Satz 1 bleibt für diejenigen Entgeltpunkte, die
bereits Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer früheren Rente waren, der
frühere Zugangsfaktor maßgebend. Ohne die Regelung des § 77 Abs. 2 Satz 3 SBG VI
würde der bereits für die Erwerbsminderungsrente vor Vollendung des 60. Lebensjahres
geminderte Zugangsfaktor auch im Rahmen einer u.U. erst Jahrzehnte später zu
bewilligenden Altersrente Anwendung finden; dies ergibt sich aus § 77 Abs. 3 Satz 1
SGB VI. Um dieses vom Gesetzgeber nicht gewünschte Ergebnis zu vermeiden, ist die
Regelung des § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI aufgenommen worden (Mey, RVaktuell 2007,
S. 44, 46).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Die Kammer hat die Sprungrevision zugelassen, weil sie der Sache grundsätzliche
Bedeutung beimisst (§ 161 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
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Die Kammer hat das vom Kläger beantragte Ruhen des Verfahrens nicht angeordnet,
weil sie ein Ruhen nicht für zweckmäßig hält (§ 202 SGG i.V.m. § 251 ZPO). Die
Streitsache ist entscheidungsreif. Das Urteil des BSG vom 16.05.2006 hat in der
juristischen Literatur fast ausnahmslos Kritik erfahren; die Rentenversicherungsträger
setzen das Urteil nicht um und streben in weiteren Musterprozessen eine Klärung der
Rechtslage an, da sie - wie die Kammer - in dem Urteil Widersprüche und
Fehlinterpretationen erkennen; das Medienecho auf das Urteil und die nicht
Umsetzungspraxis der Rentenversicherungsträger ist enorm; inzwischen gibt es
mehrere Entscheidungen, die von dem Urteil des BSG abweichen. Angesichts dieser
Umständige erscheint es nach Auffassung der Kammer sinnvoll, möglichst schnell
mehrere Verfahren vor möglichst unterschiedliche Berufungs- und Revisionssenate zu
bringen, um möglichst schnell - ggf. durch ein Urteil des Großen Senats des BSG -
Rechtsklarheit zu schaffen. Dies gilt umso mehr, als auch die Bundesregierung
inzwischen ihr Unverständnis mit dem Urteil des BSG vom 16.05.2006 zum Ausdruck
gebracht hat. Sie hat in Antworten auf parlamentarische Anfragen die Vorgehensweise
der Rentenversicherungsträger ausdrücklich begrüßt, weil "die von der
Rentenversicherung weiterhin praktizierte Auslegung des Gesetzes der Intention des
Gesetzgebers entspricht" (BT-Drucksache 16/3710 S. 5; vgl. auch BT-Drucksachen
16/1948 und16/2176 sowie BT-Plenarprotokolle 16/72, 7183 bis 7185).
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