Urteil des SozG Aachen vom 27.02.2002
SozG Aachen: arbeitsentgelt, treu und glauben, vertrauensschutz, verjährungsfrist, beitragsforderung, beitragspflicht, verwirkung, stundenlohn, allgemeinverbindlicherklärung, form
Sozialgericht Aachen, S 4 RA 231/01
Datum:
27.02.2002
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
4. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 4 RA 231/01
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
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Streitig ist die Nachforderung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen für die
Beigeladene zu 1).
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Die Klägerin betreibt ein Geschäft zum Verkauf von Heimtextilien.
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Nach einer Betriebsprüfung bei der Klägerin machte die Beklagte mit Bescheid vom
06.02.2001 rückständige Sozialversicherungsbeiträge unter anderem für die
Beigeladene zu 1), die bei der Klägerin als Aushilfsverkäuferin arbeitete, geltend. Die
Nachforderung bezog sich auf Beiträge aus tarifvertraglich geschuldetem, der
Beigeladenen zu 1) aber nicht ausgezahltem und von dieser nicht gefordertem
Arbeitsentgelt. Die Beigeladene zu 1) wurde als geringfügig Beschäftigte bei der
Klägerin versicherungsfrei geführt, weil das tatsächlich gezahlte Arbeitsentgelt von 600/-
DM monatlich bei einem vereinbarten Stundenlohn von 10,- DM die
Geringfügigkeitsgrenze nicht überstieg. Seit dem 01.04.1999 waren für die Beigeladene
zu 1) die pauschalierten Beiträge zur Renten- und Krankenversicherung gezahlt
worden. Die Hochrechnung der gezahlten Gehälter auf das tarifvertraglich geschuldete
Arbeitsentgelt führte nach den Berechnungen der Beklagten zu einer Überschreitung
der Geringfügigkeitsgrenze und damit zur Versicherungspflicht. Die
Beitragsnachforderung bezüglich der Beigeladenen zu 1) betraf den Zeitraum vom
01.01.1999 bis zum 31.03.2000.
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Hiergegen erhob die Klägerin am 12.02.2001 durch ihren Steuerberater Widerspruch.
Sie machte geltend es sei wirtschaftlich nicht möglich, Aushilfen pauschal mit 16,00 DM
zu entlohnen. Ab dem 01.04.2000 bestehe keine Tarifbindung mehr. Die Nachforderung
der Sozialversicherungsbeiträge sei existenzgefährdend. Im Sozialversicherungsrecht
gelte das Zuflussprinzip.
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Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 25.07.2001 zurück. Die Prüfung
habe ergeben, dass die Beitragsberechnungen nicht nach dem Arbeitsentgelt erfolgt sei,
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auf das im Zeitpunkt der Arbeitsleistung nach den Regelungen des allgemeinverbindlich
erklärten Tarifvertrages im Wirtschaftsbereich Groß- und Außenhandel sowie im
Wirtschaftsbereich Einzelhandel in NRW ein Rechtsanspruch bestanden habe. Der
Beitragsanspruch hänge nicht davon ab, ob das geschuldete Arbeitsentgelt tatsächlich
gezahlt wurde/ es dem Arbeitnehmer also zugeflossen ist. Auch aus dem geschuldeten/
aber vom Arbeitgeber nicht gezahlten Arbeitsentgelt seien bereits mit dem Entstehen
des Anspruchs Beiträge fällig geworden.
Hiergegen richtet sich die am 15.08.2001 erhobene Klage. Die Klägerin meint/ nur vom
tatsächlich gezahlten Arbeitslohn seien Beiträge zu entrichten. Zudem beruft sie sich auf
Vertrauensschutz.
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Die Klägerin beantragt,
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den Bescheid vom 06.02.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.07.2001
in Höhe der auf die Beigeladene zu 1) entfallenen nachgeforderten
Sozialversicherungsbeiträge aufzuheben.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie meint die Einzugsstellen hätten zurecht nach dem Entstehungsprinzip über die
Versicherungs- und Beitragspflicht erkannt. Ein Vertrauensschutz gegen die
Beitragsforderungen komme nicht in Betracht. Der Beitragschuldner sei durch die
Verjährungsfrist von vier Jahren vor unzumutbaren Beitragsnachforderungen
hinreichend geschützt. Die Verwirkung von Ansprüchen unterhalb der Verjährung setze
voraus dass ein konkretes Verhalten des Gläubigers hinzukomme welches bei dem
Schuldner die berechtigte Erwartung erweckt hätte, dass eine Beitragsforderung nicht
bestehe oder nicht geltend gemacht werde. Die etwaige Untätigkeit der Einzugsstellen
bei der Einziehung der Beiträge oder im Rahmen von Betriebsprüfungen führten daher
nicht zu einem derartigen Vertrauensschutz. Das Entstehensprinzip sei nie in Frage
gestellt worden. Bereits mit Schreiben vom 04.02.1999 an den Zentralverband des
Deutschen Bäckerhandwerkes habe der Bundesminister für Arbeit- und Sozialordnung
dargelegt, dass im Interesse der Arbeitnehmer und der Sozialversicherung nicht
zugunsten der betroffenen Arbeitgeber von der Beitragspflicht des tariflich geschuldeten
Arbeitslohns abgewichen werden könne. Ebenso habe die Beklagte am 12.04.1999
Vertreter der Bundessteuerberaterkammer über den Umfang der Beitragsüberwachung
nach dem Entstehungsprinzip und die rechtlichen Grundlagen informiert. Auch durch die
Presse, einer Aufsatzreihe in der Zeitschrift "Impulse" im September 1998 sei für die
breite Öffentlichkeit über die Prüfungspraxis ausgiebig berichtet worden. Ein
Arbeitgeber, der Beiträge vom nicht ausgezahlten Lohn zu entrichten habe, werde nicht
stärker belastet, als ein Arbeitgeber, der seinen Beschäftigten den Tariflohn unter Abzug
der Arbeitnehmeranteile vom Lohn gewährt habe.
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Das Gericht hat die Beigeladenen zu 1) bis 4) beigeladen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie und der beigezogenen Verwaltungsakte, der Gegenstand der
mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist unbegründet. Der angefochtene Bescheid ist auch insoweit nicht
rechtswidrig im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG, als Gesamtversicherungsbeiträge für
die Beigeladene zu 1) nachgefordert werden.
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Die Beklagte war gemäß § 28 p Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 SGB IV berechtigt, bei der
Klägerin eine Betriebsprüfung durchzuführen und gemäß § 28 p Abs. 1 Satz 5 SGB IV
die sich anlässlich der Betriebsprüfung ergebenen Beitragsnachforderungen per
Bescheid festzustellen und einzuziehen. Die Beigeladene zu 1) war auch in der Zeit
vom 01.01.1999 bis zum 31.03.2000 nicht versicherungsfrei. Versicherungsfrei sind
nach § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB VI nur diejenigen Personen, die eine geringfügige
Beschäftigung im Sinne von § 8 Abs. 1 SGB IV ausüben. Danach liegt eine geringfügige
Beschäftigung vor, wenn die Beschäftigung regelmäßig weniger als 15 Stunden in der
Woche ausgeübt wird und das Arbeitsentgelt im Monat 630,00 DM nicht übersteigt.
Arbeitsentgelte sind nach § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IV alle laufenden oder einmaligen
Einnahmen aus einer Beschäftigung, gleichgültig ob ein Rechtsanspruch auf die
Einnahme besteht unter welcher Beziehung oder in welcher Form sie geleistet werden
und ob sie unmittelbar aus der Beschäftigung oder im Zusammenhang mit ihr erzielt
werden. Die Klägerin zahlte der Beigeladenen zu 1) ein monatliches Entgelt von 600,00
DM, woraus sich ein Stundenlohn von 10,00 DM errechnete in den Jahren 1999 und
2000.
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Allerdings sind bei der Bemessung des Arbeitsentgeltes nicht nur die tatsächlich
gezahlten/ sondern auch die geschuldeten Entgelte zu beachten (vgl. BSGE 59, 183,
189; BSG Urteil vom 30.08.1994 Az.: 12 RK 59/92). Für die Klägerin waren im
maßgeblichen Zeitraum die Tarifverträge für den Wirtschaftsbereich Groß- und
Außenhandel und den Wirtschaftsbereich Einzelhandel im Bundesland Nordrhein-
Westfalen maßgeblich. Die Geltung dieser Tarifverträge ergibt sich aus § 5 Abs. 4 des
Tarifvertragsgesetzes danach waren die Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt
worden. Mit der Allgemeinverbindlicherklärung erfassen die Rechtsnorm des
Tarifvertrages in seinem Geltungsbereich auch die nicht tarifgebundenen Arbeitgeber
und Arbeitnehmer. Aufgrund dieses allgemeinverbindlichen Tarifvertrages schuldete die
Klägerin der Beigeladenen für die Zeit von Januar bis Juni 1999 ein monatliches Entgelt
von 986,40 DM und für die Zeit von Juli 1999 bis zum März 2000 ein monatliches
Entgelt von 1.115,80 DM. Damit ist die Geringfügigkeitsgrenze des § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB
IV überschritten. Für dieses Arbeitsentgelt sind daher
Gesamtsozialversicherungsbeiträge nachzufordern es besteht eine
Sozialversicherungspflicht nach § 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI.
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Die Entstehung des Beitragsanspruchs hängt nicht davon ab/ ob das geschuldete
Arbeitsentgelt gezahlt wurde es dem Arbeitnehmer also zugeflossen ist (vgl. BSG Urteil
vom 30.08.1994- 12 RK 59/92; vom 26.11. 1985, Az 12 RK 51/83). Der
Beitragsanspruch entsteht vielmehr zu dem in § 23 Abs. 1 SGB IV bestimmten Zeitpunkt,
wenn nur das Entgelt durch die Arbeitsleistung "verdient" worden ist. Es ist deshalb
unerheblich, auf Grund welchen Tatbestandes nachträglich die Lohnzahlung unterbleibt.
Die Beitragsforderung ist eine öffentlich-rechtliche Forderung, die hinsichtlich ihres
Entstehens, ihrer Fälligkeit und ihrer Verjährung in den §§ 22/ 23 und 25 SGB IV dem
öffentlichen Recht unterliegt und nicht davon abhängt, ob die Beigeladene das
zusätzlich geschuldete Arbeitsentgelt noch beanspruchen kann.
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Die Klägerin kann sich gegenüber der mit dem Bescheid vom 06.02.2001 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 25.07.2001 geltend gemachten Nachforderung bezüglich
der Beigeladenen zu 1) nicht auf Vertrauensschutz berufen. Die Klägerin ist durch die
Verjährungsfrist von vier Jahren vor unzumutbaren Beitragsnachforderungen
hinreichend geschützt. Ferner setzt die Verwirrung von Ansprüchen unterhalb der
Verjährung nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts voraus/ dass die
Beklagte den Beitrag über einen längeren Zeitraum hinweg nicht geltend gemacht hat
und besondere Umstände hinzutreten, die ein späteres Geltendmachen nach Treu und
Glauben (§ 242 BGB) missbräuchlich erscheinen lassen (vgl. BSGE 47, 194; 41, 275).
Nicht zur Verwirkung führt es, wenn im Anschluss an eine Betriebsprüfung lediglich
keine Beiträge nacherhoben worden sind. Darin liegen keine besonderen Umstände,
die ein späteres Geltendmachen innerhalb der Verjährungsfrist als unzumutbar
erscheinen lassen. Ein bloßes Nichtstun reicht als Verwirkungshandlung nicht aus.
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Ein konkretes Verhalten der Beklagten, welches bei der Klägerin die berechtigte
Erwartung erweckt haben könnte, dass eine Beitragsforderung nicht bestehe oder nicht
geltend gemacht werde, liegt nicht vor. Vielmehr ist den sonstigen der Öffentlichkeit
zugänglich gemachten Erklärungen zu entnehmen, dass Sozialversicherungsbeiträge
von dem Arbeitsentgelt zu erheben sind, auf das der Arbeitnehmer einen Anspruch
erworben hat, unabhängig davon, in welche Höhe ihm das Arbeitsentgelt tatsächlich
ausgezahlt worden ist. Dies ergibt sich beispielsweise aus der von der Beklagten
vorgelegten Erklärung des Bundesministers für Arbeit- und Sozialordnung Walter
Riester vom 04.02.1999 an den Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks,
ferner aus dem Ergebnisprotokoll der Beklagten mit der Bundessteuerberaterkammer
von Oktober 1999 sowie aus dem ausführlichen Aufsatz in der Zeitschrift "Impulse" von
September 1998. Nichts anderes ist auch der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts der letzten Jahre zu entnehmen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
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