Urteil des SozG Aachen vom 11.12.2007

SozG Aachen: eltern, kaufmännischer angestellter, geburt, erwerbseinkommen, adoption, rechtssicherheit, budget, abgrenzung, verfassung, rechtskraft

Sozialgericht Aachen, S 13 EG 27/07
Datum:
11.12.2007
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
13. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 13 EG 27/07
Sachgebiet:
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander nicht
zu erstatten. Die Sprungrevision wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf Elterngeld für ein 2006 geborenes
Kind.
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Die 1974 geborene Klägerin ist deutsche Staatsangehörige und verheiratet. Sie gebar
am 00.00.2006 das eheliche Kind G. Vor der Geburt des Kindes war sie als
kaufmännische Angestellte beschäftigt. Bis Januar 2010 nimmt sie Elternzeit in
Anspruch und betreut und erzieht das Kind. Ihr Ehemann arbeitet ebenfalls als
kaufmännischer Angestellter. In den zwölf Monaten vor der Geburt, in denen sie noch
kein Mutterschaftsgeld erhielt, bezog die Klägerin ein steuerpflichtiges monatliches
Bruttogehalt von 2000,00 EUR (November und Dezember 2005) bzw. 2400,00 EUR
(Januar bis Oktober 2006).
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Am 16.04.2007 beantragte die Klägerin Elterngeld nach dem Bundeselterngeld- und
Elternzeitgesetz (BEEG) für die Zeit vom ersten bis zur Vollendung des zwölften
Lebensmonats des am 00.00.2006 geborenen Kindes.
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Das Versorgungsamt B. lehnte den Antrag durch Bescheid vom 30.04.2007 unter
Hinweis auf § 27 Abs. 1 BEEG ab, wonach für die vor dem 01.01.2007 geborenen
Kinder die Vorschriften des BErzGG in der bis 31.12.2006 geltenden Fassung weiter
anzuwenden seien. Da das Kind der Klägerin am 00.00.2006 geboren sei, bestehe kein
Anspruch auf Elterngeld.
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Den dagegen am 24.05.2007 eingelegten Widerspruch wies der Beklagte durch
Widerspruchsbescheid vom 09.08.2007 zurück.
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Dagegen hat die Klägerin am 06.09.2007 Klage erhoben. Sie hält die
Stichtagsregelung, nach der für Kinder, die vor dem 01.01.2007 geboren worden sind,
kein Elterngeld beansprucht werden kann, für verfassungswidrig. Sie ist der Auffassung,
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§ 27 BEEG verstoße gegen Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz (GG), jedenfalls aber gegen Art. 3
Abs. 1 GG. Eltern von seit dem 01.01.2007 geborenen Kindern würden gegenüber
Eltern, deren Kinder vor dem 01.01.2007 geboren sind, ohne sachlichen Grund
bevorzugt. Weiterhin entstehe für sie - die Klägerin - eine zusätzliche Benachteiligung,
sollte sie innerhalb von 24 Monaten nach der Geburt ihres ersten Kindes ein weiteres
Kind bekommen. Da sie während der Erziehungszeit kein Einkommen erziele, würde
sie für das zweite Kind nur ein Elterngeld in Höhe von 300,00 EUR (Sockelbetrag)
zuzüglich des Geschwisterbonus von 75,00 EUR erhalten. Hätte sie zuvor für das erste
Kind bereits Elterngeld erhalten, würde bei der Berechnung des Elterngeldes das
Einkommen vor der Geburt des ersten Kindes zur Berechnung herangezogen, sodass
ein deutlich höheres Elterngeld gezahlt würde. Diese Benachteiligung gelte analog für
weitere Kinder, die ggf. nach dem zweiten Kind geboren werden. Nach Auffassung der
Klägerin wäre es gerecht, wenn Elterngeld für die Zeit vom 01.01.2007 bis zur
Vollendung des zwölften Lebensmonats gewährt würde.
Die Klägerin beantragt, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom
30.04.2007 in der Fassung des Widerspruchs- bescheides vom 09.08.2007 zu
verurteilen, ihr für das am 00.00.2006 geborene Kind G. Elterngeld für die Zeit vom
01.01. bis 13.11. 2007 zu zahlen, hilfsweise, das Verfahren auszusetzen und dem
Bundesver- fassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen, ob § 27 Abs. 1 BEEG gegen
Artikel 3 Abs. 1 GG verstößt und verfassungswidrig ist.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er teilt die verfassungsrechtlichen Bedenken der Klägerin nicht. Er ist der Auffassung,
bei steuerfinanzierten und zweckgerichteten finanziellen Zuwendungen an Familien mit
kleinen Kindern stehe dem Gesetzgeber ein großer Gestaltungsspielraum zu. Davon
habe er aus Praktikabilitätsgründen zur Abgrenzung von Erziehungsgeld- bzw.
Elterngeldberechtigung durch die Einführung einer Stichtagsregelung Gebrauch
gemacht.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte des
Beklagten, die bei der Entscheidung vorgelegen haben, Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.
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Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide nicht beschwert im Sinne des §
54 Abs. 2 SGG, da sie nicht rechtswidrig sind. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf
Elterngeld nach dem BEEG, da das Kind, von dem sie den Anspruch herleitet, vor dem
01.01.2007 - nämlich bereits am 00.00.2006 - geboren ist.
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§ 27 Abs. 1 BEEG in der Fassung des Artikel 1 des "Gesetz zur Einführung des
Elterngeldes" vom 05.12.2006 (BGBl. I S. 2748) - in Kraft getreten am 01.01.2007 -
bestimmt, dass für die vor dem 01.01.2007 geborenen oder mit dem Ziel der Adoption
aufgenommenen Kinder die Vorschriften des Ersten und Dritten Abschnitts des BErzGG
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in der bis zum 31.12.2006 geltenden Fassung weiter anzuwenden sind; ein Anspruch
auf Elterngeld besteht in diesen Fällen nicht. Korrespondierend zu dieser
Stichtagsregelung bestimmt § 24 Abs. 4 BErzGG, angefügt durch Artikel 2 Abs. 8 des
Gesetzes zur Einführung des Elterngeldes, dass für die nach dem 31.12.2006
geborenen oder mit dem Ziel der Adoption aufgenommenen Kinder die Vorschriften des
BEEG anzuwenden sind.
Diese Stichtagsregelungen sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
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Es verstößt nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Artikel 3 Abs. 1 GG (und
auch nicht gegen andere Verfassungsnormen), dass der Gesetzgeber für die jeweiligen
Anspruchsgrundlagen - BEEG oder BErzGG - an den Zeitpunkt der Geburt des Kindes
anknüpft (vgl. bereits für das BErzGG: BVerfG, Beschluss vom 10.12.1987 - 1 BVR
1233/87 = SozR 3 7833 § 1 Nr. 3). Nach ständiger Rechtssprechung des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist es dem Gesetzgeber durch Artikel 3 Abs. 1 GG
nicht verwehrt, zur Regelung bestimmter Lebenssachverhalte Stichtage einzuführen.
Ihm steht für die Regelung des Übergangs von einer älteren zu einer neueren, den
Zielen der Verfassung und des rechtspolitischen Vorstellungen der Gegenwart besser
entsprechenden Regelungen notwendig ein gewisser Spielraum zu. Dies gilt
besonders, wenn - wie hier - ein ganzes Rechtsgebiet einer Neuordnung unterzogen
wird. Da es in solchen Fällen unmöglich ist, die unter dem alten Recht entstandenen
und womöglich schon abgewickelten oder noch abzuwickelnden Rechtsverhältnisse
vollständig dem neuen Recht zu unterstellen, und der Grundsatz der Rechtssicherheit
klare schematische Entscheidungen über die zeitliche Abgrenzung zwischen dem alten
und dem neuen Recht verlangt, ist es unvermeidlich, dass sich in der Rechtsstellung der
Betroffenen, je nachdem, ob sie dem alten oder dem neuen Recht zu entnehmen ist,
Unterschiede ergeben, die dem Ideal der Rechtsgleichheit widersprechen.
Insbesondere kann die der Rechtssicherheit dienende Einführung von Stichtagen zu
unter Umständen erheblichen Härten führen, wenn die tatsächliche Situation derjenigen
Personen, die durch die Erfüllung der Stichtagsvoraussetzungen unter die Neuregelung
fallen, sich nur geringfügig von der Lage derjenigen unterscheidet, bei denen diese
Voraussetzung fehlt. Solche allgemeinen Friktionen und Härten in Einzelfällen führen
jedoch nicht zur Verfassungswidrigkeit einer im Ganzen der Verfassung
entsprechenden Neuregelung. Die verfassungsrechtliche Prüfung von
Stichtagsvorschriften und anderen Übergangsvorschriften muss sich daher in Erkenntnis
des aufgezeigten Dilemmas darauf beschränken, ob der Gesetzgeber den ihm
zukommenden Spielraum in sachgerechter Weise genutzt hat, ob er die für die zeitliche
Anknüpfung in Betracht kommenden Faktoren hinreichend gewürdigt hat und die
gefundene Lösung sich im Hinblick auf den gegebenen Sachverhalt und das System
der Gesamtregelung durch sachliche Gründe rechtfertigen lässt oder als willkürlich
erscheint (BVerfG, Beschluss vom 08.12.1976 - 1 BVR 810/70, 1 BVR 57/73, 1 BVR
147/76 "Nichtehelichen-Erbrecht" = BVerfGE 44, 1 = NJW 1977, 1677 = FamRZ 1977,
446; vgl. auch BVerfGE 3, 58; 13, 31; 29, 283; 46, 299; 49, 260; 80, 297 und BVerfGE
87, 1 "Trümmerfrauen/Kindererziehungszeit").
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Nach diesen Maßstäben sind § 27 Abs. 1 BEEG und auch § 24 Abs. 4 BErzGG
verfassungsgemäß.
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Der Gesetzgeber hat die Leistung für die Betreuung und Erziehung eines Kindes in der
frühen Lebensphase, die bisher im BErzGG geregelt war, im BEEG nach Art, Umfang
und Höhe neu gestaltet. Erziehungsgeld wurde (und wird noch bis 31.12.2008) in zwei
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Alternativen - Budget (450,00 EUR) für zwölf Lebensmonate oder Regelbetrag (300,00
EUR) für 24 Lebensmonate - gewährt, wenn und soweit bestimmte Einkommensgrenzen
nicht überschritten wurden (werden). Das Elterngeld wird demgegenüber nach dem
zuletzt bezogenen Erwerbseinkommen bemessen und - bei geringem oder keinem
Erwerbseinkommen - mindestens in Höhe von 300,00 EUR für zwölf bzw. 14 Monate
gezahlt. Dem Gesetzgeber war klar, dass - je nach den individuellen Verhältnissen - für
einen Teil der Eltern das Erziehungsgeld, für einen anderen Teil der Eltern das
Elterngeld die "günstigere" Leistung sein würde. Eltern mit geringem oder keinem
Erwerbseinkommen konnten nach dem BErzGG für maximal 24 Monate 300,00 EUR
Erziehungsgeld, insgesamt also 7.200,00 EUR erhalten, während sie nunmehr für
maximal 14 Monate 300,00 EUR Elterngeld, insgesamt also nur 4.200,00 EUR erhalten
können. Diese Eltern stehen sich also besser, wenn ihr Kind vor dem 01.01.2007
geboren wurde. Dagegen können Eltern mit mittlerem oder hohem Einkommen, die
nach dem BErzGG kein oder nur gemindertes oder die Höchstbeträge von 5.400,00
EUR (Budget) bzw. 7.200,00 EUR (Regelbetrag) Erziehungsgeld erhalten hätten, nach
dem BEEG für zwölf Monate maximal 21.600,00 EUR beanspruchen. Sie stehen sich
also besser, wenn ihr Kind nach dem 31.12.2006 geboren worden ist. Ohne
Stichtagsregelung hätte es betroffenen Eltern freigestanden, die eine oder die andere
Leistung zu wählen oder sogar von der einen auf die andere Leistung zu wechseln, je
nach dem, welche für sie die günstigere gewesen wäre. Dies hätte es - z.B. bei einem
Leistungswechsel - notwendig gemacht, umfangreiche Regelungen über die
Anrechnung bereits bezogener Leistungen und verbrauchter Leistungszeiträume zu
schaffen. Die finanziellen Auswirkungen (vgl. für das vorliegende Gesetz zur Einführung
des Elterngeldes BT-Drucksache 16/1889, S. 3, 17) wären für den Gesetzgeber kaum
mehr eindeutig kalkulierbar gewesen.
Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung des Gesetzgebers, das BErzGG und das
BEEG für einen Zeitraum von 2 Jahren nebeneinander gelten zu lassen und die
Anwendbarkeit des jeweiligen Gesetzes mit Stichtagsregelungen zu verknüpfen (vgl.
BT-Drucksahce 16/1889, S. 28f. zu § 27 Abs. 1 und Artikel 2 Abs. 8) sachgerecht und
bewegt sich noch in dem ihm zukommenden legislativen Ermessensspielraum. Soweit
die Klägerin geltend macht, dass sich die Versagung eines Elterngeldanspruchs für ihr
2006 geborenes Kind auch nachteilig auf die Höhe eines möglichen Elterngeld-
anspruchs für ein weiteres Kind auswirken könnte, mag dies zwar im Hinblick auf die
Vorschrift des § 2 Abs. 7 Satz 5 BEEG zutreffend sein. Jedoch ist dieser Einwand im
vorliegenden Verfahren nicht entscheidungserheblich; er berührt ausschließlich einen in
der Zukunft liegenden Anspruch, dessen Entstehen ungewiss und der hier nicht
streitbefangen ist.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Die Kammer hat die Sprungrevision zugelassen, weil sie der Rechtssache
grundsätzliche Bedeutung beimisst (§ 161 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 160 Abs.
2 Nr. 1 SGG).
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