Urteil des SozG Aachen vom 15.06.2005

SozG Aachen: eingriff in grundrechte, unbestimmter rechtsbegriff, meldung, unverzüglich, minderung, beendigung, bestimmtheit, verwaltung, rechtsstaatsprinzip, obliegenheit

Sozialgericht Aachen, S 11 AL 51/05
Datum:
15.06.2005
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
11. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 11 AL 51/05
Nachinstanz:
Landessozialgericht NRW, L 9 AL 130/05
Sachgebiet:
Arbeitslosenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 23.03.2005 in
der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 08.04.2005 verurteilt,
der Klägerin ungemindertes Arbeitslosengeld auch für die Monate
Februar bis April 2005 zu zahlen. Die Beklagte hat die Kosten der
Klägerin zu erstatten.
Tatbestand:
1
Die Klägerin wendet sich gegen eine Minderung des an sie erbrachten
Arbeitslosengelds (Alg) wegen verspäteter Meldung als arbeitsuchend.
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Die am 00.00.1961 geborene Klägerin arbeitete zuletzt vom 17.02.2003 bis zum
17.02.2005 befristet als Altenpflegerin bei der Firma W in B. Am 01.02.2005 meldete sie
sich arbeitsuchend und beantragte am 11.03.2005 Alg. Nach Einholung einer
Arbeitsbescheinigung gewährte die Beklagte mit Bescheid vom 23.03.2005 Alg ab dem
18.02.2005 und nahm hierbei eine Minderung i.H.v. ingsesamt 1.050.- Euro für die Zeit
von 67 Leistungstagen, beginnend mit dem 18.02.2005, vor, da die Klägerin sich um 75
Tage zu spät arbeitsuchend gemeldet habe. Den am 24.03.2005 eingelegten
Widerspruch wies sie mit Bescheid vom 08.04.2005 zurück.
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Hiergegen richtet sich die am 00.00.0000 erhobene Klage.
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Die Klägerin führt aus, sie habe erst am 21.01.2005 erfahren, dass keine Verlängerung
des befristeten Arbeitsverhältnisses beabsichtigt sei. Im Übrigen ergebe sich bereits aus
der einschlägigen gesetzlichen Bestimmung nicht zweifelsfrei, wann die Meldung bei
Auslaufen eines befristeten Arbeitsverhältnisses erfolgen müsse.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 23.03.2005 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 08.04.2005 zu verurteilen, ihr ungemindertes
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Arbeitslosengeld auch für die Monate Februar bis April 2005 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie bleibt bei ihrer bisherigen Auffassung.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene
Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen ist, verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Entscheidungen der Beklagten
sind rechtswidrig i. S. von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Beklagte
durfte den Alg-Anspruch der Klägerin nicht wegen verspäteter Meldung mindern.
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Nach § 140 Satz 1 SGB III mindert sich der Anspruch auf Alg, das dem Arbeitslosen auf
Grund des Anspruchs zusteht, der nach der Pflichtverletzung entstanden ist, wenn sich
der Arbeitslose entgegen § 37 b SGB III nicht unverzüglich arbeitsuchend gemeldet hat.
Nach § 37 b Satz 1 SGB III sind Personen, deren Versicherungspflichtverhältnis endet,
verpflichtet, sich unverzüglich nach Kenntnis des Beendigungszeitpunkts persönlich bei
der Agentur für Arbeit arbeitsuchend zu melden. Gemäß § 37 b Satz 2 SGB III hat die
Meldung im Falle eines befristeten Arbeitsverhältnisses frühestens drei Monate vor
dessen Beendigung zu erfolgen.
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Die Beklagte durfte den Anspruch nicht mindern, weil die §§ 37 b Satz 1 und 2, 140
Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III) zu unbestimmt sind, um zu
einer Minderung des (von der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie in Art. 14 Abs.
1 Grundgesetz - GG - erfassten) Anspruchs auf Alg zu ermächtigen.
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Die §§ 37 b, 140 SGB III sind keine geeignete Ermächtigungsgrundlage zur Minderung
von Alg in Zusammenhang mit befristeten Arbeitsverhältnissen. § 37 b Satz 2 SGB III ist
in Verbindung mit § 37 b Satz 1 SGB III derart unbestimmt, dass er (wiederum i.V.m. §
140 SGB III) keine taugliche Ermächtigungsgrundlage für einen Eingriff in den Anspruch
auf Alg darstellt (SG Dortmund, Urteil vom 26.07.2004 - S 33 AL 127/04). Die Vorschrift
besagt mithin nicht, dass sich der Alg-Anspruch (nach Maßgabe von § 140 SGB III)
mindert, wenn die genannte Frist verstrichen ist und der Versicherte sich nicht
arbeitsuchend gemeldet hat. Vielmehr ist § 37 b Satz 2 SGB III bei verfassungsrechtlich
gebotener geltungserhaltender Reduktion (vgl. BVerfGE 69, 1, 55 m.w.N.) dahingehend
auszulegen, dass er lediglich regelt, ab wann sich ein Versicherter arbeitsuchend
melden und somit die Pflicht der Beklagten zur Arbeitsvermittlung nach § 38 Abs. 4 SGB
III auslösen kann.
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Aus dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG, ergibt sich, dass eine
Ermächtigung der Verwaltung zum Eingriff in Grundrechte durch Gesetz erfolgen und
insbesondere hinreichend bestimmt sein muss. Klarheit und Bestimmtheit einer
Vorschrift bedeutet Erkennbarkeit des gesetzgeberisch Gewollten. Betroffene müssen
die Rechtslage erkennen und ihr Verhalten danach einrichten können (BVerfGE 52, 1,
17
41). Das Handeln der Verwaltung muss für den Bürger voraussehbar und berechenbar
sein (BVerfGE 56, 1, 12; BVerwGE 100, 230, 236; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 7.
Aufl., 2004, Art. 20, Rn. 60, 61).
§ 37 b Satz 2 SGB III wird diesen Anforderungen schon deswegen nicht gerecht, weil
die Vorschrift in Zusammenschau mit § 37 b Satz 1 SGB III, auf den sie sich unmittelbar
bezieht, mehrere ungefähr gleich naheliegende und plausible Auslegungen zulässt, die
jedoch im Einzelfall zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen führen: § 37 b Satz 1 und 2
SGB III kann zum einen so verstanden werden, dass die Meldung mit Ablauf des
nächsten dienstbereiten Tages zu erfolgen hat, nachdem der Versicherte Kenntnis von
der Befristung hat und es nur mehr 3 Monate bis zur Beendigung des
Versicherungspflichtverhältnisses sind (Satz 1 als nähere Ausgestaltung des
Tatbestandsmerkmals "frühestens" in Satz 2). Denkbar ist jedoch auch eine Auslegung,
wonach die Meldung ab Kennntnis und Unterschreitung der Frist erfolgen kann, jedoch
nicht unverzüglich erfolgen muss (das Tatbestandsmerkmal "frühestens" in Satz 2
verdrängt das Tatbestandsmerkmal "unverzüglich" in Satz 1). Diese Unklarheiten
betreffen nicht nur den isoliert betrachteten Norminhalt von § 37 Satz 2 SGB III, sondern
auch die Frage, ob neben § 37 b Satz 2 SGB III noch Raum für eine subsidiäre
Anwendung von § 37 b Satz 1 SGB III ist. Welche der möglichen Auslegungen die vom
Gesetzgeber gewollte ist, erschließt sich den - regelmäßig mit juristischen
Auslegungsmethoden ohnehin nicht vertrauten - Betroffenen selbst bei genauer
Kenntnis des Wortlauts von § 37 b SGB III nicht. Die von dieser Regelung betroffenen
Versicherten haben mithin keinerlei Möglichkeit, das gesetzgeberisch Gewollte zu
erkennen und ihr Verhalten an der gesetzlichen Regelung auszurichten.
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Es handelt sich schließlich auch nicht um einen derjenigen Fälle, in denen ein Minus an
inhaltlicher Bestimmtheit zulässig ist, da der Gesetzgeber die fragliche Materie nur durch
Generalklauseln und/oder durch Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe regeln kann
(zu derartigen Konstellationen Jarass, a.a.O., Rn. 61). Dies mag auf die Verwendung
des Begriffs "unverzüglich" in § 37 b Satz 1 SGB III zutreffen, der Begriff "frühestens" ist
jedoch kein unbestimmter Rechtsbegriff.
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Auch angesichts der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 25.05.2005, B
11a/11 AL 81/04 R (hier zitiert nach der Presse-Mitteilung Nr. 26/05 vom 25.05.2005)
braucht das Gericht nicht zu klären, ob die Klägerin ihre in § 37 b SGB III
festgeschriebene Obliegenheit zur unverzüglichen Meldung kannte oder infolge grober
Fahrlässigkeit nicht kannte. Das Gericht sieht sich jedoch zu dem Hinweis veranlasst,
dass eine Kenntnis der Obliegenheit nicht schon dann unterstellt werden kann, wenn
sich der Arbeitslose nicht positiv auf die Rechtsunkenntnis beruft. Hierzu bedarf es
vielmehr konkreter Anhaltspunkte und zumindest im Regelfall eines aktenkundigen
Hinweises auf die geltende Rechtslage. Unterbleiben können Ermittlungen zu einer
etwaigen Rechtskennntnis deswegen, weil der Minderung von Alg nach der
Beendigung befristeter Versicherungspflichtverhältnisse das sich aus dem
Rechtsstaatsprinzip ergebende Erfordernis von Klarheit und Bestimmtheit einer
Vorschrift entgegen steht. Genügt eine Vorschrift bereits diesen fundamentalen
rechtsstaatlichen Anforderungen nicht, so kommt es auf eine Einzelfallprüfung nicht
mehr an und selbst Rechtskennntnis oder eine gleichgelagerte Rechtauffassung sind für
den Arbeitslosen unschädlich (vgl. SG Aachen, Urteil vom 25.05.2005, S 11 AL 27/05 -
vorheriger Hinweis - und SG Aachen, Urteil vom 15.12.2004, S 11 AL 68/04 - gleiche
Rechtsauffassungen -).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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