Urteil des SozG Aachen vom 02.02.2011

SozG Aachen: somatoforme schmerzstörung, behinderung, vergleich, erlass, gerichtsverfahren, behandlung, behinderter, rehabilitation, gesundheitszustand, gerichtsakte

Sozialgericht Aachen
Urteil vom 02.02.2011 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Aachen S 3 SB 196/09
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen L 10 SB 58/11
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ist, ob bei dem Kläger ein höherer Grad der Behinderung (GdB) als 50 festzustellen ist.
Mit Bescheid vom 07.05.2001 stellte der Beklagte bei dem am 00.00.00 geborenen Kläger einen GdB von 30 fest.
Seit dem Jahr 2004 ist bei dem Kläger nach der Durchführung eines Klageverfahrens, in dessen Rahmen ein
fachorthopädisches Gutachten von Herrn Dr. O. eingeholt wurde (vgl. S des Sozialgerichts Aachen), ein GdB von 50
anerkannt (vgl. Bescheid vom 07.04.2006).
Am 16.02.2009 stellte der Kläger einen Änderungsantrag, mit dem er neben der Erhöhung des GdB die Zuerkennung
des Merkzeichens G begehrte. Zur Begründung führte er aus, dass er unter Beschwerden an den Handgelenken, den
Beinen und der Wirbelsäule sowie unter Bluthochdruck leide.
Der Beklagte holte einen Befundbericht des Orthopäden L. und des Internisten Dr. M. ein. Nach Einholung einer
versorgungsärztlichen Stellungnahme lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 28.05.2009 die Feststellung eines
höheren GdB als 50 und der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G ab. Dabei ging er vom
Vorliegen der folgenden behinderungsrelevanten Gesundheitsstörungen aus:
1. Funktionsstörung der Wirbelsäule (Einzel-GdB von 40) 2. Funktionsstörung der oberen Gliedmaßen (Einzel-GdB
von 20) 3. Funktionsstörung der unteren Gliedmaßen (Einzel-GdB von 10)
Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26.06.2009 zurück.
Am 20.07.2009 hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung trägt er vor, dass seine orthopädischen Beschwerden
nicht hinreichend gewürdigt worden seien.
Er beantragt,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 28.05.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
26.06.2009 zu verurteilen, bei ihm einen GdB von 70 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist er auf zwei versorgungsärztliche Stellungnahmen, nach denen eine andere Beurteilung nicht
in Betracht komme.
Das Gericht hat zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts Befundberichte des Internisten Dr. M. und des
Orthopäden L. sowie ein fachorthopädisches Gutachten von Herrn Dr. O. eingeholt.
Zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf die genannten Unterlagen verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten
des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten, der
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Kläger ist nicht durch die angefochtenen Bescheide im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)
beschwert. Der Bescheid ist formell und materiell rechtmäßig. Hinsichtlich der Frage der Zuständigkeit der
Bezirksregierung Münster für den Erlass des Widerspruchsbescheides vom 26.06.2009 schließt sich das Gericht den
überzeugenden Ausführungen des Sozialgerichts Dortmund (vgl. Urteil vom 12.02.2010, S 51 (3) SB 205/08) an.
Demnach ist die Bezirksregierung Münster aufgrund des rückwirkend zum 01.01.2008 in Kraft getretenen § 4a des
Gesetzes zur Ausführung des Sozialgerichtsgesetzes im Lande Nordrhein-Westfalen (AGSGG NRW) rückwirkend
sachlich und örtlich zuständige Widerspruchsbehörde geworden (vgl. auch Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen,
Urteil vom 21.04.2010, L 10 SB 22/09). Die angefochtenen Bescheide sind auch in materieller Hinsicht rechtmäßig.
Die bei dem Kläger vorliegenden Gesundheitsstörungen sind mit einem GdB von 50 zu bewerten. Unabhängig davon,
dass der Kläger im Klageverfahren die Zuerkennung des Merkzeichens G nicht weiter verfolgte, liegen die
gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit
im Straßenverkehr (Merkzeichen G)" auch nicht vor.
Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz -
(SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen
oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine
wesentliche Änderung in diesem Sinne ist unter anderem gegeben, wenn der veränderte Gesundheitszustand eine
Änderung des GdB von wenigstens 10 bedingt oder die Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche für behinderte
Menschen erfüllt werden (vgl. Teil A Nr. 7 lit. a) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG), die in der Anlage
zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 niedergelegt sind).
Eine wesentliche Änderung ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme gegenüber dem Bescheid vom 07.04.2006
nicht eingetreten. Der Kläger leidet unter folgenden behinderungsrelevanten gesundheitlichen Beeinträchtigungen:
1. Funktionsstörung der Wirbelsäule (Einzel-GdB von 40) 2. Funktionsstörung der oberen Gliedmaßen (Einzel-GdB
von 20) 3. Funktionsstörung der unteren Gliedmaßen (Einzel-GdB von 10)
Dieses entnimmt die Kammer insbesondere dem Gutachten von Herrn Dr. Neusel. Das Gutachten wurde von einem
erfahrenen medizinischen Sachverständigen nach Durchführung aller erforderlichen Untersuchungen und in Kenntnis
der in der Akte befindlichen medizinischen Befunde erstellt. Zweifel daran, dass alle für die Beurteilung relevanten
Befunde richtig erhoben und bewertet worden sind, bestehen für die Kammer nicht.
Im Bereich des Funktionssystems "Rumpf" (vgl. zu den einzelnen Funktionssystemen Teil A Nr. 2 lit. e) der VMG)
leidet der Kläger an Funktionsstörungen der Wirbelsäule, die einen GdB von 40 bedingen. Gemäß Teil B Nr. 18.9 der
VMG sind Wirbelsäulenschäden mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende
Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurz dauernd auftretende leichte
Wirbelsäulensyndrome) mit einem GdB von 10 anzusetzen. Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen funktionellen
Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende
Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde
Wirbelsäulensyndrome) werden mit einem GdB von 20 bewertet. Wirbelsäulenschäden mit schweren funktionellen
Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende
Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde
Wirbelsäulensyndrome) werden mit einem GdB von 30 bewertet. Bei Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen bis
schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten ist ein GdB zwischen 30 und 40 angemessen.
Bei Wirbelsäulenschäden mit besonders schweren Auswirkungen (z.B. Versteifung großer Teile der Wirbelsäule) ist
von einem GdB zwischen 50 und 70 auszugehen. Bei dem Kläger ist ein GdB von 40 als angemessen zu betrachten.
Der Sachverständige Dr. O. hat nachvollziehbar und plausibel dargelegt, dass zwar schmerzhafte Funktionsstörungen
in allen drei Segmenten der Wirbelsäule festzustellen sind, jedoch - auch im Vergleich zu seiner Begutachtung im
Jahr 2005 (im Gerichtsverfahren S 18 SB 132/05) - keine radikuläre Symptomatik mit positivem Lasègue-Zeichen und
motorisch-sensiblen Defiziten der rechten unteren Extremität mehr nachzuweisen ist, so dass "nur" noch von einem
schwachen Vierziger auszugehen ist.
Im Bereich des Funktionssystems "Arme" ist ein GdB von 20 festzustellen. Der Sachverständige Dr. O. hat
überzeugend dargelegt, dass auch im Vergleich zur Begutachtung im Jahr 2005 keine Höherbewertung der
Behinderungen in diesem Funktionssystem in Betracht kommt. Zwar hat die Funktionseinschränkung des linken
Schultergelenks zugenommen, eine Verschlimmerung der weiteren Beeinträchtigungen im Bereich der Hände ist
jedoch nicht eingetreten. Die Beeinträchtigung im Bereich des Ellenbogens ist zudem nicht mehr nachweisbar. Somit
ist gemäß Teil B Nr. 18.13 der VMG von einem mittleren Zwanziger auszugehen.
Im Bereich des Funktionssystems "Beine" ist von einem starken Zehner auszugehen, vgl. Teil D 18.14 der VMG.
Diesbezüglich folgt das Gericht den Darlegungen des Sachverständigen Dr. O. Ein GdB von 20 ist aufgrund der
Beeinträchtigungen im Bereich der Hüften, der Knie und der Füße nicht festzustellen.
Für eine gegebenenfalls bestehende somatoforme Schmerzstörung ist derzeit kein eigenständiger GdB vorzusehen.
Eine entsprechende spezielle Behandlung wird nicht durchgeführt, so dass die bestehenden Schmerzen gemäß Teil A
2 lit. j) der VMG bislang von den für die jeweiligen orthopädischen Beschwerden anerkannten GdB hinreichend
umfasst sind.
Die bei dem Kläger vorliegende Behinderung ist insgesamt mit einem GdB von 50 zu bewerten. Auch bei dieser
Einschätzung folgt die Kammer der Einschätzung des Sachverständigen Dr. O.
Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen -
(SGB IX) und Teil A Nr. lit. 3 a) der VMG sind bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen deren
Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander zu würdigen.
Rechenmethoden sind hierbei nicht heranzuziehen, vielmehr ist von der Funktionsbeeinträchtigung mit dem höchsten
Einzel-GdB auszugehen und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und
inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird (Teil A Nr. 3 lit. c) der VMG). Hierbei führen leichte
Gesundheitsstörungen, die nur einen Einzel-GdB von 10 bedingen, ganz regelmäßig nicht zu einer Zunahme des
Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die in der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte. Auch bei
leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem Einzel-GdB von 20 ist der Schluss auf eine wesentliche Zunahme
des Ausmaßes der Behinderung vielfach nicht gerechtfertigt (Teil A Nr. 3 lit. d) ee) der VMG). Für die Bildung des
Gesamt-GdB ist angesichts all dessen insbesondere von Bedeutung, ob einzelne Funktionsbeeinträchtigungen
voneinander unabhängig sind und damit verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen oder ob sie
sich sogar aufeinander nachteilig auswirken (Teil A Nr. 3 lit. d) aa) bzw. bb) der VMG).
Nach diesen Kriterien liegt bei dem Kläger ein Gesamt-GdB von 50 vor. Auszugehen ist dabei vom Einzel-GdB von 40
für den Bereich des Funktionssystems "Rumpf" als höchstem Einzel-GdB. Das Hinzutreten der weiteren
Beeinträchtigungen in dem Funktionssystem "Arme" mit einem Einzel-GdB von 20 führt zu einer Erhöhung des
Gesamt-GdB um 10, also auf 50. Die weiteren Beeinträchtigungen in dem Funktionssystem "Beine" mit einem Einzel-
GdB von 10 bewirkt dagegen keine weitere Erhöhung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.