Urteil des SozG Aachen vom 17.01.2007

SozG Aachen: gesundheitsschaden, arbeitsunfähigkeit, einwirkung, belastung, begriff, kausalität, arbeitsunfall, befund, bedingung, antritt

Sozialgericht Aachen, S 1 U 5/06
Datum:
17.01.2007
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 1 U 5/06
Sachgebiet:
Unfallversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Der Bescheid vom 28.06.2005 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 14.12.2005 wird aufgehoben. Die
Beklagte wird verurteilt, die Ruptur der langen körpernahen
Bizepssehne rechts als Folge des Arbeitsunfalles vom 19.05.2005
anzuerkennen und dem Kläger Verletztengeld vom 20.05. bis10.07.2005
zu gewähren. Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen
außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand:
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Streitig ist, ob die Ruptur der langen Bizepssehne rechts durch einen Arbeitsunfall
entstanden ist und durch Verletztengeldzahlung entschädigt werden muss.
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Der am 00.00.1943 geborene Kläger trug am 19.05.2005 eine Kiste mit Hähnchen durch
den Servicebereich in die dahinter gelegene Küche. Um der aus der Küche kommenden
Frau W auszuweichen, stieß er mit der Kiste gegen den Türrahmen der offenen
Küchentür. Dabei verspürte er einen reißenden Schmerz im rechten Oberarm, der mit
dem Verlust jeglicher Tragkraft des rechten Armes verbunden und so stark war, dass die
Kiste samt Hähnchen zu Boden fiel. Der Durchgangsarzt Dr. L stellte eine Ruptur der
körpernahen langen Bizepssehne rechts fest. Am 24.05.2005 erfolgte eine
transhumerale Fixation. Der histologische Befund erbrachte ein aufgesplittertes, deutlich
ödematös aufgelockertes Sehnengewebe mit fortgeschrittenen degenerativen
Veränderungen und einer frischen Risskante.
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Die Beklagte verzichtete auf weitere Ermittlungen, da der beratende Arzt Dr. M
grundsätzlich den Hergang als nicht geeignet angesehen hatte, die lange Bizepssehne
reißen zu lassen. Mit Bescheid vom 28.06.2005 lehnte die Beklagte eine Entschädigung
des Ereignisses ab. Der angeschuldigte Vorgang sei nicht geeignet gewesen, die
krankhaften anlagebedingten Veränderungen wesentlich mitwirkend zu verschlimmern.
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Im Widerspruchsverfahren hörte die Beklagte 3 Zeugen an. Herr K gab an, der Kläger
habe zwei Stangen mit Hähnchen aus dem Grill genommen, auf eine Platte gelegt und
sei auf dem Weg in Richtung Küche dort gegen den Türrahmen gestoßen. Der Zeuge L2
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schilderte den Vorgang ähnlich. Der Kläger sei mit fertigen Hähnchen aus dem Grill in
Richtung Küche gelaufen. Dabei sei er in vollem Tempo wegen Gegenverkehr mit der
rechten Kistenseite gegen die Rahmentür gestoßen. Beide Zeugen gaben an, der
Kläger habe schmerzverzehrt aufgeschrien und die Hähnchen seien zu Boden gefallen.
Auch die Zeugin Frau W schilderte den Vorgang genauso. Die Beklagte wies den
Widerspruch mit Bescheid vom 14.12.2005 zurück. Der Vorfall habe lediglich die
Gelegenheit dargestellt, bei der das bisher nicht in Erscheinung getretene bzw. bereits
vorhandene krankhafte Leiden bemerkbar geworden sei.
Mit seiner Klage vom 17.01.2006 macht der Kläger geltend, vor dem Unfall habe er
keine Beschwerden am rechten Arm gehabt. Es bestünden keinerlei Anhaltspunkte
dafür, dass die Ruptur der langen Bizepssehne etwa zur gleichen Zeit und im gleichen
Umfang auch ohne das äußere Ereignis des Anstoßens mit dem Kistenrand an die
Rahmentür im Rahmen der alltäglichen Belastung eingetreten wäre.
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Der Kläger beantragt,
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den Bescheid vom 28.06.2005 in der Fassung des Widerspruchs- bescheides vom
14.12.2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger wegen der Ruptur
der langen Bizepssehne rechts als Folge des Arbeitsunfalles vom 19.05.2005
Verletztengeld nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Das Gericht hat einen Befundbericht eingeholt von Dr. L vom 28.02.2006 mit
Operationsbericht und histologischem Befund. Danach war der Kläger vom 20.05. bis
21.06. wegen körpernahem Riss der langen Bizepssehne rechts arbeitsunfähig. Der
behandelnde Hausarzt Dr. L3 bestätigte mit Attest vom 17.05.2006, dass der Kläger
wegen der Ruptur der langen Bizepssehne rechts vom 19.05. bis 10.07.2005
arbeitsunfähig war (Bl. 53).
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Das Gericht hat ein Gutachten von dem Orthopäden Prof. Dr. T vom 28.08.2006
eingeholt. Der Sachverständige ging davon aus, dass der Kläger eine Platte mit Rand
bzw. Kiste mit 8-10 gebratenen Hähnchen vor dem Körper getragen hat. Hieraus ergebe
sich ein Gewicht von mehr als 7 kg, das frei vor dem Körper ohne weitere Abstützung
bei gebeugten Ellenbogengelenken getragen worden sei. Aufgrund der Temperatur und
dem Gewicht der Hähnchen habe sich der Kläger sehr schnell auf die geöffnete Tür zu
bewegt und habe aufgrund des Ausweichmanövers abrupt und unerwartet mit der
äußeren rechten Plattenecke gegen den Türrahmen gestoßen. Da der Kläger das
schwere Tablett vor dem Körper trug, sei das Muskelsehnensystem vorgespannt
gewesen. Das Anstoßen an den Türrahmen sei unvermutet und mit der körperfernen
Ecke geschehen. Hierdurch habe ein langer Hebel auf das muskulär festgestellte
Gelenk gewirkt und die plötzliche Spitzenbelastung der Sehne habe durch den
vorgespannten Muskel und das überraschende Eintraten nicht mehr abgefangen
werden können, so dass die überfallartige Spitzenlast die Sehne gerissen habe. Zwar
sei die Sehne degenerativ vorgeschädigt gewesen, aufgrund des geeigneten
Unfallablaufs sei jedoch der Riss der körpernahen Bizepssehne im wesentlichen auf
das Ereignis zurückzuführen. Eine Arbeitsunfähigkeit von ca. 7 Wochen, wie sie von Dr.
L3 bestätigt worden sei, sei postoperativ nicht unüblich und als unfallbedingt
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anzusehen.
Die Beklagte hat sich dem Gutachten nicht anschließen können und hierzu eine
Stellungnahme ihres beratenden Chirurgen Dr. T2 vom 17.10.2006 zu den Akten
gereicht. Er macht geltend, dass exakte Gewicht sowie der genaue Unfallhergang sei
von dem Sachverständigengutachter nicht ermittelt worden. Das Tragen einer Kiste mit
gefüllten Hähnchen auf Grillstangen gehöre zu den arbeitstäglichen Verrichtungen.
Außergewöhnlich sei lediglich der abrupte und unerwartete Stoß der äußeren
Plattenecke gegen den Türrahmen gewesen; die hierdurch entstandene
Gewalteinwirkung sei jedoch nicht exakt ermittelt worden. Zusammenfassend müsse
daher das Anstoßen an den Türrahmen nicht als erhebliche Gewalteinwirkung
angesehen werden.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist begründet.
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Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide der Beklagten beschwert. Entgegen
der Entscheidung der Beklagten ist der Riss der körpernahen Bizepssehne rechts mit
Wahrscheinlichkeit wesentlich auf den Vorfall vom 19.05.2005 zurückzuführen und
deshalb von der Beklagten gemäß den §§ 8 Abs. 1, 45 des 7. Sozialgesetzbuches (SGB
VII) als Folge eines Arbeitsunfalles zu entschädigen.
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Nach § 45 Abs. 1 SGB VII ist Verletztengeld zu erbringen, wenn Versicherte in Folge
des Versicherungsfalles arbeitsunfähig sind. Versicherungsfälle sind Arbeitsunfälle und
Berufskrankheiten (§ 7 Abs. 1 SGB VII). Als Unfälle definiert das Gesetz (§ 8 Abs. 1 Satz
2 SGB VII) zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu
einem Gesundheitsschaden führen.
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Die von der Beklagten in ihrem Widerspruchsbescheid als zutreffend übernommene
Rechtsauffassung des Mediziners Dr. L, es liege kein Unfall im Sinne des Gesetzes vor,
hält einer rechtlichen Überprüfung nicht Stand. Dass auch eine normale Betriebstätigkeit
die Merkmale eines Unfallereignisses erfüllen kann, wird in Rechtsprechung und
Literatur einhellig anerkannt. Zuletzt hat das BSG mit Urteil vom 12.04.2005 (B 2 U
27/04 R) erneut festgestellt, dass für das von außen auf den Körper einwirkende zeitlich
begrenzte Ereignis kein besonderes, ungewöhnliches Geschehen erforderlich ist.
Alltägliche Vorgänge wie stolpern usw. genügen. Es dient der Abgrenzung zur
Gesundheitsschäden aufgrund von inneren Ursachen, wie Herzinfarkt, Kreislaufkollaps
usw., wenn diese während der versicherten Tätigkeit auftreten, sowie zu vorsätzlichen
Selbstschädigungen. Im vorliegenden Fall besteht die äußere Einwirkung in dem
Anstoßen an den Türrahmen mit der körperfernen rechten Ecke der mit 8 bis 10
gebratenen Hähnchen gefüllten Platte, wodurch ein langer Hebel auf das muskulär
festgestellte Gelenk wirkte. Das für den Begriff des Unfalles wesentliche "äußere"
Ereignis als Ursache der Körperschädigung liegt somit zweifelsfrei vor. Weiterhin
wesentlich für den Begriff des Unfalls ist neben dem äußeren Ereignis als Ursache auch
eine Körperschädigung als Wirkung (vgl. hierzu Urteil des BSG vom 02.05.2001, B 2 U
18/00 R). Die Körperschädigung als Wirkung ist in dem Riss der körpernahen
Bizepssehne rechts zu sehen.
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Liegt mithin ein Arbeitsunfall vor, so ist als weiterer Prüfungsschritt zu ermitteln, ob das
Unfallereignis (Anstoßen mit der Platte an den Türrahmen) zumindest eine wesentliche
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Mitursache für den Riss der rechten körpernahen Bizepssehne war
(haftungsbegründende Kausalität). Für die haftungsbegründende Kausalität zwischen
Unfallereignis und Gesundheitsschaden gilt die Theorie der wesentlichen Bedingung.
Diese setzt zunächst einen naturwissenschaftlichen Ursachenzusammenhang zwischen
dem Unfallereignis und dem Gesundheitsschaden voraus und in einem zweiten
wertenden Schritt, dass das versicherte Unfallereignis für den Gesundheitsschaden
wesentlich war. Denn als im Sinne des Sozialrechts ursächlich und rechtserheblich
werden nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum
Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (ständige Rechtsprechung: BSG E
1, 72, 76; 1, 150, 156 f; BSG SozR 3 - 2200 § 548 Nr. 13). Gibt es neben der
versicherten Ursache noch konkurrierende Ursachen, z. B. Krankheitsanlagen, so war
die versicherte Ursache wesentlich, solange die unversicherte Ursache nicht von
überragender Bedeutung war (BSG SozR Nr. 6 zu § 589 RVO; SozR Nr. 69 zu § 542
RVO a.F.) Eine Krankheitsanlage war von überragender Bedeutung, wenn sie so stark
oder so leicht ansprechbar war, dass die (naturwissenschaftliche) Verursachung akuter
Erscheinungen nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen
bedurfte, sondern jedes alltäglich vorkommende Ereignis zu der selben Zeit die
Erscheinungen verursacht hätte (BSG E 62, 220, 222 f = SozR 2200 § 589 Nr. 10 Seite
30). War die Krankheitsanlage von überragender Bedeutung, so ist die versicherte
naturwissenschaftliche Ursache nicht als wesentlich anzusehen und scheidet als
Ursache nach der Theorie der wesentlichen Bedingung und im Sinne des Sozialrechts
aus; sie ist dann bloß eine so genannte Gelegenheitsursache.
In Anwendung dieser Grundsätze ist die mit dem Anstoßen an den Türrahmen
einhergehende Krafteinwirkung auf die Bizepssehne als rechtlich wesentliche Ursache
für ihren Riss anzusehen. In Abwägung zwischen der degenerativen Vorschädigung der
Sehne und der Einwirkung durch das Unfallereignis ist letzterer ( Einwirkung ) die
Bedeutung einer wesentlichen Mitursache zu zumessen. Die Kammer entnimmt diese
Überzeugung dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. T vom
28.08.2006. Der Sachverständige hat für die Kammer nachvollziehbar dargelegt, dass
der Kläger, als er die schwere Platte vor dem Körper trug, sein Muskelsehnensystem
angespannt hat und das Gelenk muskulär festgestellt war. Durch das Anstoßen an den
Türrahmen mit der körperfernen rechten Ecke, wirkte unvermutet ein langer Hebel auf
das muskulär festgestellte Gelenk. Die hierdurch verursachte Spitzenbelastung der
Sehne konnte durch den bereits vorgespannten und festgestellten Muskel nicht mehr
abgefangen werden, so dass durch die überfallartige Spitzenlast die Sehne reißen
musste. Die plötzliche passive Belastung von muskulär fixierten Gelenken gilt als
geeigneter Unfallmechanismus bei dem Riss von Bizepssehnen (vgl. Urteil des
bayerischen Landessozialgerichtes vom 27.07.2005, L 3 U 211/03). Die Anmerkung des
gerichtlichen Sachverständigen, dass jeder Versicherte in dem Zustand geschützt sei, in
dem er sich bei Antritt der Arbeit befinde, das heißt auch mit einer degenerativ
veränderten Sehne, ist insofern missverständlich, als die Annahme, dass ( allein )
wegen dieses Grundsatzes im vorliegenden Fall davon auszugehen sei, das die
körpernahe Bizepssehnenruptur rechts im wesentlichen auf das angeschuldigte
Ereignis zurückzuführen sei, nicht zwingend ist. Wie oben bereits ausgeführt, ist eine
sorgfältige Abwägung der Ursachenbeiträge der anlagebedingten degenerativen
Veränderungen und des Unfallereignisses in ihrer Wertigkeit für den Eintritt des Erfolges
erforderlich. Ein Unfallereignis , das geeignet ist , auch eine gesunde oder nur leicht
vorgeschädigte Bizepssehne zum zerreißen zu bringen, ist jedenfalls als wesentlich für
den Eintritt des Erfolges anzusehen. In diesem Fall ist das Unfallereignis nämlich nicht
einem alltäglich vorkommenden Ereignis, das als Gelegenheitsursache zu werten wäre,
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gleichzusetzen. Nicht nachzuvollziehen vermag das Gericht den Hinweis des
beratenden Arztes der Beklagten Dr. T2 in seiner Stellungnahme vom 17.10.2006, der
Nachweis einer erheblichen Gewalteinwirkung durch den Stoß gegen den Türrahmen
müsse zunächst erbracht werden. Durch den bekannten Unfallhergang und die
Ausführungen des gerichtlichen Sachverständige Prof. Dr. T ist der Nachweis einer
erheblichen Gewalteinwirkung durch den Stoß gegen den Türrahmen sehr wohl
erbracht. Der Ablauf des Ereignisses vom 19.05.2005 ist auch durch die drei
Zeugenaussagen klar und exakt ermittelt.
Dem Kläger steht daher für die Zeit der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit vom 20.05. -
10.07.2005 Verletztengeld zu. Eine Arbeitsunfähigkeit von ca. 7 Wochen hat Prof. Dr. T
als postoperativ nicht unüblich angesehen. Die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit bis
zum 10.07.2005 durch Dr. L3 ist daher auch aus Sicht des gerichtlichen
Sachverständigen als unfallbedingt anzusehen.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
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