Urteil des SozG Aachen vom 20.07.2007

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Sozialgericht Aachen, S 8 AS 17/07
Datum:
20.07.2007
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 8 AS 17/07
Nachinstanz:
Landessozialgericht NRW, L 19 AS 43/07
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 11.945,- EUR nebst Zinsen
in Höhe von 5 Prozentpunkten über den Basiszinssatz/Jahr ab
17.01.2007 zu zahlen. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand:
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Streitig ist der Umfang der Verpflichtung der Beklagten zur Kostenerstattung wegen
eines Aufenthaltes im Frauenhaus.
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Die hilfebedürftige J. E. und ihre vier Kinder wohnten im Zuständigkeitsbereich der
Beklagten. Die ARGE E. bewilligte zuletzt mit Bescheid vom 20.12.2005 für diese
Personen und ihren Ehemann Grundsicherungsleistungen. Aufgrund von
Gewalttätigkeiten des Ehemannes zogen die Hilfebedürftige und ihre Kinder in der Zeit
vom 16.03.2006 bis zum 05.07.2006 in das Frauenhaus X. im Zuständigkeitsbereich der
Klägerin. Die Klägerin bewilligte der Familie Regelleistungen zur Sicherung des
Lebensunterhaltes einschließlich Sozialgeld, Unterkunftskosten, Kosten für eine
psychosoziale Betreuung, eine einmalige Beihilfe für die Teilnahme eines der Kinder an
einer Klassenfahrt sowie eine einmalige Beihilfe für die Erstausstattung einer Wohnung
im Kreis I. für die Zeit ab 06.07.2006 (letzteres mit Bescheid vom 12.06.2006). Die
Klägerin machte einen auf § 36 a SGB II gestützten Erstattungsanspruch bei der
Beklagten geltend, den diese nicht beglich.
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Die Klägerin hat am 17.01.2007 Klage erhoben. In der mündlichen Verhandlung hat die
Beklagte sich verpflichtet, Unterkunftskosten in Höhe von 2.427, 53 EUR sowie die
Kosten für die Klassenfahrt in Höhe von 90,00 EUR zu erstatten.
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Die Klägerin meint, die Beklagte sei auch hinsichtlich der Restsumme in Höhe von
11.945,- EUR erstattungspflichtig. Sie stützt sich auf § 36 a SGB II und meint, die
Erstattungspflicht nach dieser Vorschrift umfasse sämtliche Leistungen, die wegen des
Aufenthaltes der Familie im Frauenhaus durch die Klägerin erbracht werden mussten.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, 11.945,- EUR nebst Prozesszinsen in gesetzlicher Höhe ab
Rechtshängigkeit zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie meint, die Erstattungspflicht umfasse nicht die Kosten für die psychosoziale
Betreuung sowie die Erstausstattung der Wohnung. Hinsichtlich der Kosten für die
psychosoziale Betreuung entfalle die Erstattungsspflicht, weil die Klägerin mit der
hilfebedürftigen J. E. keine Eingliederungsvereinbarung geschlossen habe und es sich
deshalb nicht um Leistungen zur Eingliederung nach § 16 SGB II handele. Nur
hinsichtlich dieser Leistungen bestehe eine Erstattungspflicht. Die Kosten für die
Erstausstattung von Wohnraum könnten nicht übernommen werden, weil es sich hierbei
nicht um Kosten handele, die für die Zeit des Aufenthaltes im Frauenhaus im Sinne des
§ 36 a SGB II aufzuwenden seien. Vielmehr bezögen diese Kosten sich auf die Zeit
nach dem Frauenhausaufenthalt.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
gewechselten Schriftsätze sowie die beigezogenen Verwaltungsakten, deren
wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagte
auf Zahlung weiterer 11.945,- EUR.
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Die Erstattungspflicht ergibt sich sowohl hinsichtlich der Kosten der psychosozialen
Betreuung als auch hinsichtlich der Erstausstattung für die Wohnung aus § 36 a SGB II.
Sucht eine Person in einem Frauenhaus Zuflucht, ist der kommunale Träger am
bisherigen gewöhnlichen Aufenthaltsort nach dieser Vorschrift verpflichtet, dem durch
die Aufnahme im Frauenhaus zuständigen kommunalen Träger am Ort des
Frauenhauses die Kosten für die Zeit des Aufenthaltes im Frauenhaus zu erstatten.
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Die Beklagte ist kommunaler Träger im Sinne dieser Vorschrift. Träger der Leistungen
sind gem. § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB II die kreisfreien Städte und Kreise für die Leistungen
nach § 16 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 bis 4, §§ 22 und 23 Abs. 3, soweit durch Landesrecht nicht
andere Träger bestimmt sind. Die Klägerin ist durch die Aufnahme der Familie im
Frauenhaus X. zuständiger kommunaler Träger. Die grundsätzliche Erstattungspflicht ist
zwischen den Beteiligten nicht umstritten und von der Beklagten anerkannt.
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Die Erstattungspflicht erfasst auch die Aufwendungen für die psychosoziale Betreuung.
Deren Bewiligung richtet sich für die Mutter unmittelbar nach § 16 Abs. 2 Nr. 3 SGB II.
Die Bewilligung dieser Leistung an die Kinder erfolgte auf der Grundlage des § 7 Abs. 2
Satz 2 Nr. 2 SGB II. Durch die Betreuung der gesamten Familie werden - neben anderen
positiven Zwecken - auch Hemmnisse bei der Eingliederung der erwerbsfähigen
Hilfebedürftigen - hier der Mutter - beseitigt oder vermindert. Es ist für die Kammer nicht
zweifelhaft, dass nach den traumatisierenden Erfahrungen, die zur Zuflucht der Familie
ins Frauenhaus geführt haben, eine psychosoziale Stabilisierung unbedingt
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Voraussetzung dafür ist, dass an eine Erwerbstätigkeit der Mutter zu denken ist.
Deshalb ist der Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung im Sinne des § 15 SGB II
nicht Voraussetzung für die Erstattungspflicht.
Die Erstattungspflicht umfasst auch die gemäß § 23 Abs. 3 Nr. 1 SGB II von der Klägerin
gewährten Leistungen für Erstausstattung für die Wohnung. Die aktuelle Fassung von §
36 a beruht auf Artikel 1 Nr. 32 des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung
für Arbeitsuchende vom 20.07.2006 (BGBl 2006 I S. 1706 f). In der Gesetzesbegründung
hierzu wird ausgeführt, dass die Kostenerstattungspflicht Leistungen nach § 6 Abs. 1
Satz 1 Nr. 2 SGB II umfasst (BT-Drucksache 16/1410 Seite 27). Die Verweisung auf
Leistungen nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB II ist damit - dem Gesetzeswortlaut entsprechend
- umfassend und enthält hinsichtlich der Leistungen nach § 23 SGB II keine
Einschränkungen. Damit umfasst die Erstattungspflicht auch Leistungen für
Erstausstattung für die Wohnung gemäß § 23 Abs. 3 Nr. 1 SGB II. Wie die Klägerin
zutreffend meint, ist diese Interpretation auch mit dem Wortlaut von § 36 a SGB II zu
vereinbaren. Erstattungspflichtig sind hiernach Kosten für die Zeit des Aufenthalts im
Frauenhaus. Die Erstausstattung wird regelmäßig - wie auch im vorliegenden Fall -
nicht erst bewilligt, wenn die Familie eine neue Wohnung außerhalb des Frauenhauses
gefunden hat, sondern während des dortigen Aufenthaltes. Die Leistungspflicht setzt
auch voraus, dass Hilfebedürftigkeit im Sinne des § 9 SGB II zum Zeitpunkt der
Bewilligung der Leistungen, nicht erst zum Zeitpunkt des Einzugs in die neue Wohnung
besteht. Schließlich entspricht die Bejahung der Erstattungspflicht auch dem
erkennbaren Sinn von § 36 a SGB II, den kommunalen Träger am Ort des
Frauenhauses nicht mit Leistungen zu belasten, die allein aufgrund der Zuflucht in das
Frauenhaus durch ihn zu erbringen sind.
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Im Gegensatz zur Meinung der Beklagten ergibt sich aus dem Gesetzentwurf des
Bundesrates zur Optimierung des SGB II vom 12.07.2005 (BT-Drucksache 15/5908)
nichts anderes. Die Beklagte weist darauf hin, dass in diesem Gesetzentwurf in Artikel 1
Nr. 4 eine Neufassung von § 36 a SGB II vorgesehen war, nach deren Abs. 2 die
Erstattungspflicht von Leistungen nach § 23 Abs. 3 ausdrücklich geregelt war. Aus der
Tatsache, dass diese Vorschrift nicht Gesetz geworden ist, schließt die Beklagte, dass
eine entsprechende Erstattungspflicht nicht vorgesehen sei. Hierin irrt sie. Angesichts
der Tatsache, dass die jetzige Fassung von § 36 a eine Erstattungspflicht vorsieht, war
eine entsprechende Erweiterung der gesetzlichen Vorschrift nicht erforderlich. Aus
einem nicht Gesetz gewordenen Gesetzesentwurf lassen sich weitergehende Schlüsse
nicht ziehen.
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Der Zinsanspruch resultiert aus § 291 BGB, der im Erstattungsstreit zwischen
Grundsicherungsträgern entsprechend anwendbar ist (BVerwG, Urteil vom 22.02.2001 -
5 C 34/00 -, zu § 107 BSHG auch LSG Niedersachsen, Urteil vom 22.03.2007 - L 8 SO
38/06; näher zum Anspruch auf Prozesszinsen im sozialgerichtlichen Verfahren Reyels,
in: juris PR - SozR 2/2007 Anmerkung 6).
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 197 a SGG, 154 Abs. 1 VwGO.
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