Urteil des SozG Aachen vom 22.08.2006

SozG Aachen: teleologische auslegung, meldepflicht, meldung, sanktion, auskunft, beendigung, verschulden, ersetzung, minderung, kündigung

Sozialgericht Aachen, S 11 AL 47/06
Datum:
22.08.2006
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
11. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 11 AL 47/06
Nachinstanz:
Landessozialgericht NRW, L 1 AL 58/06
Sachgebiet:
Arbeitslosenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 02.05.2006 in
der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.05.2006 verurteilt,
der Klägerin Arbeitslosengeld auch für die Zeit vom 13.05.2006 bis zum
19.05.2006 zu zahlen. Die Beklagte hat die Kosten der Klägerin zu
erstatten. Die Berufung wird zugelassen
Tatbestand:
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Die Klägerin wendet sich gegen eine Sperrzeit bei verspäteter Arbeitsuchendmeldung.
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Die am 00.00.1966 geborene Klägerin arbeitete von 1992 bis zum 31.03.2006 als
Datenerfasserin bei der A B für I GmbH in W. Am 24.02.2006 meldete sich sich
arbeitsuchend; am 20.03.2006 meldete sie sich arbeitslos und beantragte
Arbeitslosengeld (Alg). Die Beklagte holte eine Arbeitsbescheinigung ein, wonach die
Klägerin das Arbeitsverhältnis am 14.02.2006 zum 31.03.2006 gekündigt hatte.
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Mit Bescheid vom 02.05.2006 stellte die Beklagte den Eintritt einer Sperrzeit vom
13.05.2006 bis zum 19.05.2006 fest (nachdem bereits anderweitig eine Sperrzeit bei
Arbeitsaufgabe vom 01.04.2006 bis zum 12.05.2005 festgestellt worden war). Ihren am
24.05.2006 erhobenen Widerspruch begründete die Klägerin damit, sie habe am
14.02.2006 (Tag der Kündigung) telefonisch bei der Agentur für Arbeit in C nachgefragt
und die Auskunft erhalten, sie müsse sich Ende März nach dem beabsichtigten Umzug
nach T bei der dortigen Arbeitsagentur melden. Auf diese Auskunft habe sie sich
verlassen.Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 29.05.2006 mit der
Begründung zurück, die Klägerin sei verpflichtet gewesen, sich binnen dreier Tage nach
der Kündigung arbeitsuchend zu melden.
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Hiergegen richtet sich die am 20.06.2006 erhobene Klage.
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Die Klägerin führt aus, ihr Anruf bei der Arbeitsagentur in C sei hilfsweise als
Arbeitsuchendmeldung zu werten; im Übrigen sei sie auch unrichtig beraten worden.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 02.05.2006 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 29.05.2006 zu verurteilen, ihr Arbeitslosengeld auch für
die Zeit vom 13.05.2005 bis zum 19.05.2005 zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie führt aus, eine telefonische Meldung sei nicht möglich und für eine Falschauskunft
bei der Arbeitsagentur C habe die Klägerin keinen Beweis erbracht. Auf eine Kenntnis
der Meldeobliegenheit komme es, anders als nach bisherigem Recht, nicht an.
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Hinsichtlich der wesentlichen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene
Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen ist, verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Entscheidungen der Beklagten
sind rechtswidrig im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Es ist
keine Sperrzeit bei verspäteter Arbeitsuchendmeldung eingetreten.
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Auch nach Neufassung von § 37 b SGB III und nach Ersetzung der in § 140 SGB III in
der bis zum 31.12.2005 geltenden Fassung (a.F.) vorgesehenen Minderung des Alg
durch die einwöchige Sperrzeit nach § 144 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB III bliebt es nach
Auffassung der Kammer dabei, dass eine Sanktion wegen verspäteter
Arbeitsuchendmeldung nur eintritt, wenn der Arbeitsuchende vorwerfbar (im Sinne
zumindest fahrlässigen Verhaltens) gegen die Meldeobliegenheit in § 37 b SGB III
verstoßen hat. Dies ist nicht der Fall, wenn der Arbeitslose sich nachvollziehbar darauf
beruft, er habe die Meldeobliegenheit nicht gekannt.
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Nach § 144 Abs 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 7, Abs. 6 2. Alt Sozialgesetzbuch - Drittes Buch -
Arbeitsförderung - (SGB III) ruht der Alg-Anspruch für die Dauer einer einwöchigen
Sperrzeit, wenn der Arbeitslose seiner Meldepflicht nach § 37 b SGB III nicht
nachgekommen ist (Sperrzeit bei verspäteter Arbeitsuchendmeldung). Nach § 37 b Satz
1 SGB III sind Personen, deren Arbeitsverhältnis endet, verpflichtet, sich spätestens drei
Monate vor dessen Beendigung persönlich bei der Agentur für Arbeit arbeitsuchend zu
melden. Liegen zwischen der Kenntnis des Beendigungszeitpunktes und der
Beendigung des Arbeitsverhältnis weniger als drei Monate, hat die Meldung innerhalb
von drei Tagen nach Kenntnis des Beendigungszeitpunktes zu erfolgen, § 37 b Satz 2
SGB III.
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Die Klägerin hat nicht gegen § 37 b SGB III verstoßen, da sie glaubhaft darlegen konnte,
dass sie keine Kenntnis von der dort normierten "Meldepflicht" hatte.
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Zu den Vorgängervorschriften §§ 37 b, 140 SGB III a.F. war zuletzt anerkannt, dass es
auch bei Vorliegen der "objektiven" Voraussetzungen für eine frühzeitige Meldung nicht
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zu einer Minderung des Alg kommt, wenn dem Arbeitslosen die Nichterfüllung der
"Verpflichtung" zur frühzeitigen Meldung nicht vorgeworfen werden kann (grundlegend
in der höchsrichterlichen Rechtsprechung hierzu BSG, Urteil vom 25.05.2005, B 11a/11
AL 81/04 R). Die Kammer verkennt hierbei nicht, dass das BSG bei dieser Auslegung
der insoweit ausschlaggebenden Vorschrift des § 37 b SGB III a.F. (§ 140 SGB III a.F.
knüpfte wie jetzt § 144 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB III lediglich an eine Verletzung von § 37
b SGB III an) zunächst auf das Tatbestandsmerkmal "unverzüglich" abgestellt hat (BSG,
a.a.O.), das in der nunmehr anzuwendenden Fassung der Vorschrift durch die Frist von
drei Monaten (Satz 1) bzw. drei Tagen (Satz 2) ersetzt worden ist.
Allerdings genügt die Ersetzung dieses Tatbestandsmerkmals (das in sich bereits ein
Verschuldenserfordernis enthielt) durch feste Fristen nicht, um § 144 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7
SGB III zu einer völlig verschuldensabhängigen Sanktion zu machen. Mit der
Neufassung des § 37 b SGB III hat der Gesetzgeber die dort normierte "Meldepflicht"
nicht völlig unabhängig vom Verschulden, und somit von der Kenntnis der Meldepflicht,
ausgestaltet (vgl. in diesem Zusammenhang auch Brand, in: Niesel, SGB III, 3. Aufl.,
2005, § 37 b, Rn. 4, 7, 8, der bei § 37 b SGB III a.F. die Kenntnis von der
Meldeobliegenheit als eigenständige Voraussetzung neben der Unverzüglichkeit im
engeren Sinne ansieht).
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Es kann dahinstehen, ob es nicht bereits dem Begriff der Rechtspflicht inhärent ist, dass
der objektiv von ihr Betroffene nur dann gegen sie verstoßen kann, wenn er - nach den
Maßstäben der sog. Parallelwertung in der Sphäre juristischer Laien - Kenntnis vom
Inhalt der Verhaltensanforderung hat. Jedenfalls hat das BSG unabhängig vom
Tatbestandsmerkmal der Unverzüglichkeit aus § 37 b SGB III a.F. festgestellt, dass
insbesondere die systematische und teleologische Auslegung der §§ 37 b, 140 SGB III,
beide a.F., gegen die Annahme eines Verstoßes gegen § 37 b SGB III sprach, wenn der
Arbeitsuchende sich auf Grund unverschuldeter Rechtsunkenntnis nicht innerhalb der
gebotenen Handlungsfrist bei der Arbeitsagentur gemeldet hatte (ausführlich BSG,
a.a.O.). Mit der Neufassung von § 37 b SGB III hat der Gesetzgeber die Gründe hierfür
nicht beseitigt. Insbesondere ist es auch nach Neufassung des § 37 b SGB III bei der in
§ 2 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 SGB III normierten Obliegenheit der Arbeitgeber geblieben, über
die Verpflichtung unverzüglicher Meldung zu informieren und den Arbeitnehmer hierzu
freizustellen.
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Wenn das BSG (a.a.O.) weiter diese Informationspflicht in den Zusammenhang mit
denjenigen Belehrungspflichten stellt, die der Gesetzgeber der Beklagten auferlegt,
bevor aus Obliegenheitsverletzungen des Arbeitslosen nachteilige Rechtsfolgen für
seinen Anspruch auf Alg eintreten können, so kommt diesem Argument nach der
Umwandlung der Sanktion in einen Sperrzeittatbestand (§ 144 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB
III) umso größere Bedeutung zu: Zwar enthält § 144 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB III selbst
kein solches Erfordernis. Allen anderen Sperrzeittatbeständen ist indes gemeinsam,
dass sie entweder (wie die Sperrzeit bei Arbeitsaufgabe, § 144 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB
III) auf Verschulden abstellen oder aber eine Belehrung über die Rechtsfolgen des
sanktionierten Verhaltens erfordern (§ 144 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 bis 6 SGB III, zum
Erfordernis der Rechtsfolgenbelehrung beim Sperrzeittatbestand in § 144 Abs. 1 Satz 2
Nr. 5 siehe BSG SozR 3-4100 § 119 Nr. 19 und Bayerisches LSG, Urteil vom
18.03.2004, L 11 AL 247/02). Im Übrigen wurzeln, wie § 144 Abs. 1 Satz 1 SGB III zeigt,
alle Sperrzeiten im Vorwurf versicherungswidrigen Verhaltens.
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Als ebenfalls weitestgehend auf die neue Rechtslage übertragbar erachtet die Kammer
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auch die Argumentation des BSG (Urteil vom 25.05.2005, B 11a/11 AL 81/04 R),
wonach Sinn und Zweck der Meldeobliegenheit gerade die Verhaltenssteuerung ist und
Obliegenheiten ihre verhaltenssteuernde Funktion nur entfalten können, wenn dem
Versicherten die Verhaltensnorm bekannt ist. Dass auch § 37 b SGB III in der nunmehr
geltenden Fassung das Verhalten eines demnächst Arbeitslosen zu steuern sucht,
bedarf keiner näheren Darlegungen.
Nicht zuletzt muss die Frage, wann versicherungswidriges Verhalten (§ 144 Abs. 1 Satz
1 und 2 SGB III) vorliegt, vor dem Hintergrund beurteilt werden, dass der Alg-Anspruch
von der von der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie in Art. 14 Abs. 1 Satz 1
Grundgesetz (GG) erfasst ist (BVerfGE 72, 9; BVerfG, Beschluss vom 10.02.1987 - 1
BvL 15/83; ganz h.M.) und § 144 SGB III daher als Inhalts- und Schrankenbestimmung
i.S.d. § 14 Abs. 1 Satz 2 GG fungiert. Dies bedeutet im Ergebnis, dass der Eintritt einer
Sperrzeit unter einem Verhältnismäßigkeitsvorbehalt steht (vgl. BVerfGE 72, 66, 77 f.).
Eine Auslegung von § 144 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB III, die auch denjenigen Arbeitslosen
mit einer Sanktion überzeiht, der keine Kenntnis von seiner Meldepflicht hatte oder aber
ihr aus anderen, nicht verschuldeten, Gründen (z.B. Krankheit, Unerreichbarkeit der
Arbeitsagentur etc.) nicht nachkommen konnte, erscheint gerade in Zusammenschau mit
den anderen Sperrzeittatbeständen als ungewöhnlich und unangemessen
einschneidend.
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Nach alledem vermag das Gericht im Verhalten der Klägerin keinen Verstoß gegen § 37
b SGB III zu sehen. Dass die seit 1992 ununterbrochen beschäftigte Klägerin auf die
Meldeobliegenheit aus § 37 b SGB III hingewiesen worden ist, ist nicht ersichtlich. Auch
der Umstand, dass die Vorgängervorschrift seit Sommer 2004 wiederholt Gegenstand
der Presseberichterstattung gewesen ist, ändert hieran nichts, denn auch einem
Versicherten, der sich mit dem Gedanken trägt, seine Beschäftigung aufzugeben, ist
nicht zuzumuten, die gesamt Presseberichterstattung unter diesem Aspekt
duchzusehen. Auch der Umstand, dass die Klägerin sich noch vor der Arbeitlosmeldung
arbeitsuchend gemeldet hat, lässt nicht auf eine zumindest vage Kenntnis der
Meldeobliegenheit schließen. Die Klägerin hat ihr Verhalten in der mündlichen
Verhandlung damit zu erklären vermocht, dass sie hiermit auf eine Auskunft reagiert
habe, die ihr Lebensgefährte zwischenzeitlich erhalten hatte.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, die Entscheidung über die Zulassung
der Berufung auf § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 SGG.
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