Urteil des SozG Aachen vom 04.07.2006

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Sozialgericht Aachen, S 11 R 99/05
Datum:
04.07.2006
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
11. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 11 R 99/05
Nachinstanz:
Landessozialgericht NRW, L 18 R 111/06
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung.
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Der am 00.00.1961 geborene Kläger ist gelernter Dreher und arbeitete zuletzt von 1992
bis Anfang 2004 als Sicherheitsfachkraft bei der Firma T GmbH; er bezog Krankengeld
von April 2004 bis Juni 2005, seither bezieht er Leistungen der Bundesagentur für
Arbeit.
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Seinen Rentenantrag vom 15.11.2004 begründete er mit Morbus Crohn bei Stoma,
Zustand nach Lendenwirbelkörperfraktur und Ellenbogenfraktur sowie Bluthochdruck.
Die Beklagte veranlasste eine sozialmedizinische Begutachtung durch ihren ärztlichen
Dienst und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 10.01.2005 mit der Begründung ab, der
Kläger könne trotz einer schubweise verlaufenden Erkrankung der Schleimhaut im
Verdauungstrakt bei künstlichem Darmausgang, Bluthochdruck und Zustand nach
Bruch zweier Lendenwirbelkörper 1995 mindestens sechs Stunden täglich auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt erwerbstätig sein. Das zugrundeliegende sozialmedizinische
Gutachten nennt außerdem als Diagnosen: angeborenes Schielen rechts, diskrete bis
geringfügige Handkraftminderung links, Zustand nach Schädelbasisbruch 1975,
Krampfaderbildung in beiden Unterschenkeln, Erhöhung der Blutharnsäurewerte und
mäßiges Übergewicht. Zur Begründung seines am 08.02.2005 erhobenen Widerspruchs
verwies der Kläger auf die zwischenzeitliche Bewilligung von Pflegestufe I; außerdem
könne er nach einer Mehrfachfraktur den linken Arm nicht mehr ganz strecken. Die
Beklagte zog ein Pflegegutachten des MDK Nordrhein von Januar 2005 bei, holte einen
Befundbericht der behandelnden Allgemeinmediziner L und N1 ein und ließ den Kläger
erneut durch ihren ärztlichen Dienst begutachten. Mit Bescheid vom 30.08.2005 wies sie
den Widerspruch zurück.
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Hiergegen richtet sich die am 27.09.2005 erhobene Klage.
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Der Kläger führt aus, er leide trotz Rückverlegung des künstlichen Darmausgangs an
unkontrolliert auftretenden Stuhlgängen 10 bis 12 mal am Tag. Nach den
Darmoperationen habe sich auch das Rückleiden verschlimmert, dem er nach Verlust
der Bauchmuskulatur nicht mehr entgegenwirken könne; schließlich sei eine
Kraftminderung im gesamten linken Arm aufgetreten.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 10.01.2005 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 30.08.2005 zu verurteilen, ihm Rente wegen
Erwerbsminderung unter Zugrundelegung eines Versicherungsfalles vom 15.11.2004 zu
zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie bleibt bei ihrer bisherigen Auffassung.
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Das Gericht hat eine Auskunft der zuständigen Pflegekasse eingeholt (wonach zuletzt
noch ein Pflegeaufwand von 2 Minuten täglich festgestellt worden sei) sowie die Akte
des erledigten Verfahrens S 00 AL 000/00 beigezogen. Zur weiteren Aufklärung des
sozialmedizinischen Sachverhalts hat es Befundberichte von L und dem Internisten C
sowie ein Gutachten der Internistin und Arbeitsmedizinerin Frau N2 vom 30.04.2006
eingeholt. Frau N2 hat den Kläger für in der Lage gehalten, körperlich leichte und
leidensangepasste Arbeiten ohne das Erfordernis beidäugigen Sehens sowie mit der
Möglichkeit, orts- und zeitnah eine Toilette aufzusuchen, vollschichtig zu verrichten. Der
Kläger sieht sich in dem Gutachten bestätigt und führt aus, angesichts insbesondere der
anfallsweise auftretenden Stuhlgänge sei ihm der allgemeine Arbeitsmarkt
verschlossen. Da er nur solche öffentlichen Verkehrsmittel benutzen könne, in denen
sich Toiletten befänden, könne er einen etwaigen Arbeitsplatz auch nicht erreichen.
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Zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt der genannten Unterlagen
verwiesen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie auf die beigezogene
Verwaltungsakte verwiesen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen
Verhandlung gewesen ist.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist unbegründet. Die angefochtenen Entscheidungen der Beklagten
sind nicht rechtswidrig im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG, da der Kläger keinen
Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung hat.
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Ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung setzt voraus, dass der
Versicherte voll erwerbsgemindert im Sinne des § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1
Sozialgesetzbuch - Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) ist.
Erwerbsgemindert ist nach § 43 Abs. 3 SGB VI nicht, wer unter den üblichen
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Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich
erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu
berücksichtigen.
Der Kläger kann unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes
mindestens sechs Stunden täglich arbeiten. Er leidet unter folgenden
Gesundheitsstörungen:
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1.Morbus Crohn bei Zustand nach Rückverlegung eines anus praeter und chronischen
Durchfällen, 2.Bluthochdruck, medikamentös eingestellt, 3.Zustand nach Bruch zweier
Lendenwirbelkörper 1995 bei wiederkehrenden Wirbelsäulenbeschwerden und
Bewegungseinschränkung, 4.Zustand nach Radiusköpfchenfraktur 2002 bei
verbliebener leichter Handkraftminderung links, 5. angeborenes Einwärtsschielen
rechts, fehlendes räumliches Sehvermögen, 6. wiederkehrende Kopfschmerzen bei
Zustand nach Schädelbasisbruch 1975, 7. Krampfadern an beiden Unterschenkeln, 8.
unklare Ausscheidung roter Blutkörperchen im Urin.
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Der Kläger ist angesichts dessen in der Lage, körperlich leichte Tätigkeiten im Wechsel
zwischen Stehen, Gehen und Sitzen in geschlossenen Räumen, ohne
Zwangshaltungen und in Tagesschicht auszuführen. Nicht möglich sind Tätigkeiten mit
besonderen Anforderungen an das beidäugige Sehen sowie Tätigkeiten, die eine volle
Kraftentfaltung auch der linken Hand als Beihand erfordern. Vermieden werden müssen
weiterhin Tätigkeiten in Kälte, Hitze und Temperaturschwankungen sowie in Zugluft
oder Nässe. Der Kläger kann keine Tätigkeiten unter Zeitdruck, Arbeiten an Automaten
oder laufenden Maschinen sowie Arbeiten auf Gerüsten oder Leitern verrichten.
Angesichts der chronischen Durchfälle muss die Möglichkeit bestehen, jederzeit die
Arbeit zu unterbrechen und ortsnah eine Toilette aufzusuchen. Unter Berücksichtigung
der genannten Einschränkungen ist der Kläger in der Lage, vollschichtig tätig zu sein. Er
kann täglich insgesamt viermal Wegstrecken von geringfügig mehr als 500m in jeweils
höchstens 20 Minuten zurücklegen.
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Das Gericht entnimmt dies dem Gutachten von Frau N2, dem die Beteiligten nicht
entgegen getreten sind. Streitig sind allein die hieraus zu ziehenden Folgerungen. Das
Gericht folgt der Einschätzung des Klägers nicht, angesichts der Sehbehinderung sowie
insbesondere der hohen Stuhlgangsfrequenz seien auch körperlich leichte Tätigkeiten
des allgemeinen Arbeitsmarktes ausgeschlossen. Hierbei verkennt das Gericht nicht,
dass (auch funktionelle) Einäugigkeit grundsätzlich als schwere spezifische
Leistungsbeeinträchtigung die Benennung einer Verweisungstätigkeit erforderlich macht
(vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 30). Die vorhandene Sehminderung ist jedoch einer
funktionellen Einäugigkeit nicht gleichzusetzen, denn das seit Geburt bestehende
Einwärtsschielen hat den Kläger nicht daran gehindert, von 1992 bis 2004 als
Sicherheitsfachkraft (und somit in einem Beruf, der gerade eine gute Übersichtsfähigkeit
voraussetzt) tätig zu sein. Ausweislich der beigezogenen Streitakte S 00 AL 000/00
wurde dem Kläger dort auch nicht etwa wegen eines verminderten Leistungsvermögens
gekündigt. Auch die Stuhlgangsfrequenz führt jedenfalls nicht dazu, dass Tätigkeiten
wie die eines Pförtners oder einer Bürohilfskraft verschlossen sind. Unter
Zugrundelegung der Angaben des Klägers bei der Begutachtung durch Frau N2 treten
im Laufe von 24 Stunden bis zu zwölf Stuhlgänge auf, von denen ungefähr zwei auf die
Nachtzeit entfallen. Auf eine achtstündige Tagesschicht entfallen somit durchschnittlich
fünf Stuhlgänge, was nach Auffassung der Kammer nicht erheblich über der Frequenz
liegt, die auch bei nicht erwerbsgeminderten Versicherten auftreten können. Es kommt
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hinzu, dass die Darmerkrankung schubweise verläuft und mithin in Phasen "relativer
Ruhe" und Phasen vermehrter Aktivität und höherer Stuhlgangsfrequenz zerfällt. Hierbei
kann eine Phase vermehrter Aktivität zu Arbeitsunfähigkeit führen und den
Beschwerden des Klägers durch entsprechende Feststellung Rechnung getragen
werden. Auch das konkrete Risiko einer Phase vermehrter Aktivität reicht allerdings
nicht aus, um einen Rentenanspruch zu begründen. Ebenso wenig schließen es die
Auswirkungen der Darmerkrankung aus, dass der Kläger einen Arbeitsplatz erreichen
kann. Die "eigentliche" Wegefähigkeit, d.h. das Erreichen einer Bushaltestelle ist
ausweislich des Gutachtens von Frau N2 nicht beeinträchtigt. Dass Fahrten in Bussen
und anderen Kraftfahrzeugen wegen fehlender Toiletten nicht in Betracht kommen,
vermag das Gericht dem Gutachten und auch dem übrigen Vortrag des Klägers nicht zu
entnehmen. Wenn - wie der Kläger angibt - Durchfälle besonders in zeitlichem
Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme auftreten, ist es ihm zuzumuten,
Nahrungsaufnahme und Arbeitsweg aufeinander abzustimmen. Hinsichtlich der Hände
ist eine schwere spezifische Leistungsbeeinträchtigung nicht erkennbar, denn hier sind
lediglich Arbeiten mit voller Kraftentfaltung auch der Beihand ausgeschlossen.
Es besteht auch kein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei
Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI, da der Kläger nicht berufsunfähig ist.
Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens 6 Stunden täglich
ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 240
Abs. 2 SGB VI). Der Kläger hat sozialversicherungspflichtig zuletzt als
Sicherheitsfachkraft gearbeitet und ist somit unter Zugrundelegung des von der
Rechtsprechung entwickelten Mehrstufenschemas (hierzu Niesel, in: Kasseler
Kommentar Sozialversicherungsrecht, § 240 SGB VI, Rn. 96 ff m.w.N.) zumutbar auf den
allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar. Derartige Tätigkeiten kann er - wie dargelegt -
auch verrichten.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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