Urteil des SozG Aachen vom 15.04.2005

SozG Aachen: grobe fahrlässigkeit, anerkennung, treu und glauben, geburt, altersrente, rücknahme, sorgfalt, verwaltungsakt, rechtswidrigkeit, öffentlich

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Nachinstanz:
Sachgebiet:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Rechtskraft:
Sozialgericht Aachen, S 8 R 24/05
15.04.2005
Sozialgericht Aachen
8. Kammer
Urteil
S 8 R 24/05
Landessozialgericht NRW, L 13 R 104/05
Rentenversicherung
nicht rechtskräftig
Der Bescheid vom 15.10.2004 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 01.02.2005 wird aufgehoben. Die
Beklagte hat die Kosten der Klägerin zu erstatten.
Tatbestand:
Die Klägerin wendet sich gegen die Aufhebung der Bewilligung von Altersruhegeld bzw.
Altersrente und die Rückforderung überzahlter Beträge.
Die am 00.00.1929 geborene Klägerin bezieht seit dem 01.09.1989 Altersrente. Sie ist die
Mutter des am 00.00.1949 geborenen I1 und der am 00.00.1958 geborenen I2. Die Klägerin
ist mit dem 1926 geborenen I3 verheiratet, der seit April 1986 Altersrente bezieht. Die
Beklagte erkannte mit Bescheid vom 08.08.1989 im Versicherungsverlauf der Klägerin die
Zeit vom 01.12.1949 bis zum 30.11.1950 als Kindererziehungszeit für L und die Zeit vom
01.12.1958 bis zum 30.11.1959 als Kindererziehungszeit für M an und zahlte eine
entsprechend erhöhte Rente. Die Anerkennung von Kindererziehungszeiten beruht auf
einem Antrag auf Feststellung von Kindererziehungszeiten vom 31. Mai 1988. Die Klägerin
erklärte in diesem Antrag, sie habe L und M während der ersten 12 Kalendermonate nach
dem Monat der Geburt erzogen.
Am 14.11.1985 hatten die Klägerin und ihr Ehemann eine Erklärung dahingehend
abgegeben, dass während der ersten 12 Kalendermonate nach dem Monat der Geburt der
Kinder der Vater diese überwiegend erzogen hat. Die Eheleute unterschrieben den "Zusatz
Fragebogen Kindererziehungszeiten" mit der einleitenden Erläuterung, dass bei einer
entsprechenden Erklärung die gesamten Zeiten der Kindererziehung dem Vater
angerechnet werden. Dementsprechend erkannte die Beklagte mit Bescheid vom
27.03.1986 beim Ehemann der Klägerin ebenfalls Kindererziehungszeiten für L und M an
und zahlte eine entsprechend erhöhte Rente.
Im Juni 2004 überprüfte die Beklagte durch einen EDV-Abgleich die Anerkennung der
Kindererziehungszeiten. Hierbei stellte sie fest, dass die Kindererziehungszeiten für L und
M sowohl bei der Klägerin als auch bei ihrem Ehemann anerkannt waren.
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Nach Anhörung hob die Beklagte mit Bescheid vom 15.10.2004 die Bewilligung des
Altersruhegeldes bzw. der Altersrente für die Zeit vom 01.09.1989 bis zum 30.11.2004 in
Höhe von 18.023,73 Euro auf und forderte den überzahlten Betrag zurück. Die Beklagte
stützte ihre Entscheidung auf §§ 45, 50 SGB X. Die doppelte Anerkennung der
Kindererziehungszeiten sei rechtswidrig, denn bei gemeinsamer Erziehung sei die
Erziehungszeit lediglich einem Elternteil zuzuordnen. Aufgrund der gemeinsamen
Erklärung vom 14.11.1985 seien die Erziehungszeiten und die Berücksichtigungszeit für
Kindererziehung dem Versicherungskonto des Ehemanns zuzuordnen gewesen.
Vertrauensschutz könne die Klägerin nicht geltend machen, denn die Anerkennung der
Kindererziehungszeiten beruhe auf Angaben, die sie grob fahrlässig in wesentlicher
Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht habe. Zudem hätte sie wissen müssen,
dass aufgrund der gemeinsamen Erklärung die Zeiten der Kindererziehung dem
Versicherungskonto ihres Ehemannes zugeordnet wurden.
Im Widerspruchsverfahren trug die Klägerin vor, sie habe die Antragsformulare zur
Anerkennung der Kindererziehungszeiten nicht selbst ausgefüllt sondern dies sei durch
eine Arbeitskollegin des Versicherungsamtes geschehen. Sie habe zudem nicht erkennen
können, dass die doppelte Anerkennung der Kindererziehungszeiten rechtswidrig war.
Mit Bescheid vom 01.02.2005 wies die Beklagte den Widerspruch unter Wiederholung und
Vertiefung der Begründung des angefochtenen Bescheides zurück.
Hiergegen richtet sich die am 00.00.0000 erhobene Klage. Die Beteiligten wiederholen und
vertiefen ihr bisheriges Vorbringen.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 15.10.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.02.2005
aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogenen
Verwaltungsakten, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen ist, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig im Sinne
des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG.
Grundlage für die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für
die Vergangenheit ist § 45 SGB X. Der Rentenbewilligungsbescheid vom 08.08.1989
sowie alle weiteren Bescheide über die Rente der Klägerin, die die Anerkennung von der
Erziehungszeiten und der Zahlung entsprechender Rentenbestandteile regeln, sind
rechtswidrig im Sinne des § 45 Abs. 1 SGB X. Denn gemäß §§ 1251 a Abs. 2 RVO, 56 Abs.
2 SGB VI werden Kindererziehungszeiten bei Vorliegen einer übereinstimmenden
Erklärung zwischen Vater und Mutter dahingehend, dass der Vater das Kind überwiegend
erzogen hat, dem Vater angerechnet. Da die Klägerin und ihr Ehemann eine
entsprechende Erklärung rechtswirksam abgegeben haben, hätten die
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Kindererziehungszeiten bei der Klägerin nicht angerechnet werden dürfen.
Eine Rücknahme (und damit auch eine Rückforderung, § 50 Abs. 1 SGB X) scheitert indes
an § 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X. Nach dieser Vorschrift darf ein rechtswidriger begünstigender
Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand
des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen
Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel
schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine
Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr unter nur unter unzumutbaren
Nachteilen rückgängig machen kann.
Mangels anderweitiger Anhaltspunkte ist davon auszugehen, dass die Klägerin auf den
Bestand der Rentenbewilligung auch hinsichtlich der Anerkennung der
Kindererziehungszeiten vertraut hat. Als Leistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes
wird sie die erbrachten Leistungen verbraucht haben.
Die Berufung der Klägerin auf Vertrauen ist nicht ausgeschlossen. Allerdings kann sich
gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2, 3 SGB X der Begünstigte auf Vertrauen nicht berufen,
soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die er vorsätzlich oder grob fahrlässig in
wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder er die
Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht
kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in
besonders schwerem Maße verletzt hat.
Die Anerkennung der Kindererziehungszeiten bei der Klägerin beruht nicht auf Angaben,
die diese in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Die Klägerin
hat keine falschen Angaben gemacht, insbesondere nicht im Antrag auf Feststellung von
Kindererziehungszeiten vom 31. Mai 1988. Sie hat in diesem Antrag lediglich erklärt, dass
ihre Kinder L und M von ihr während der ersten 12 Kalendermonate nach dem Monat der
Geburt erzogen wurden. Da die Klägerin ​ wie in der mündlichen Verhandlung bestätigt
wurde ​ die Kinder tatsächlich in den ersten 12 Kalendermonaten nach dem Monat der
Geburt erzogen hat, handelt es sich hierbei um eine richtige Angabe. Auch die Tatsache,
dass die Klägerin die Frage "Ist eines der aufgeführten Kinder während der ersten 12
Kalendermonate nach dem Monat der Geburt zeitweise überwiegend von anderen
Personen erzogen worden?" mit "nein" beantwortet hat, begründet den Vorwurf der
Falschangabe nicht. Denn auch insoweit hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung
glaubhaft erklärt, dass sie sich und nicht andere Personen während der ersten 12
Kalendermonate nach dem Monat der Geburt überwiegend um die Kinder gekümmert hat.
Die Tatsache, dass die Klägerin und ihr Ehemann am 14.11.1985 erklärt haben, dass der
Ehemann während der ersten 12 Kalendermonate nach dem Monat der Geburt
überwiegend erzogen hat, ist unbeachtlich. Sollte diese Angabe falsch sein, könnte dies
allenfalls eine Aufhebung der Anerkennung der Kindererziehungszeiten vom Vater, nicht
aber von der Klägerin begründen. Abgesehen davon setzt die Richtigkeit der
entsprechenden Erklärung lediglich voraus, dass die Eheleute die Kinder gemeinsam
erzogen haben. Denn allein dies war nach § 1251 a Abs. 2 Satz 1 RVO Grundlage dafür,
durch die Angabe einer überwiegenden Erziehung die Zuordnung der
Kindererziehungszeiten zum Vater zu bewirken.
Andere Angaben zu Kindererziehungszeiten, die den Vorwurf der Falschangabe
begründen könnten, sind nicht ersichtlich. Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass die
Beklagte in dem Antrag auf Feststellung von Kindererziehungszeiten nicht danach gefragt
hat, ob eine gemeinsame Erklärung im Sinne des § 1251 a Abs. 2 RVO abgegeben wurde.
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Unter der Rubrik "weitere Angaben zu Kindererziehungszeiten der Antragstellerin" fragt die
Beklagte detailliert viele Umstände, die sich auf die Anerkennung von
Kindererziehungszeiten auswirken können ab, stellt aber nicht die naheliegende Frage
nach einer gemeinsamen Erklärung gemäß § 1251 a Abs. 2 RVO.
Im Gegensatz zur in der mündlichen Verhandlung geäußerten Meinung der Beklagten kann
der Klägerin nicht entgegengehalten werden, überhaupt den Antrag auf Feststellung von
Kindererziehungszeiten gestellt zu haben. Denn der Umstand, eine nicht zustehende
Leistung beantragt zu haben, führt nicht dazu, dass diese im Falle der Bewilligung ohne
weiteres zurückgefordert werden darf. Hierfür enthält das Gesetz keine Grundlage.
Der Klägerin ist auch nicht vorzuwerfen, die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes infolge
grober Fahrlässigkeit nicht gekannt zu haben. Grobe Fahrlässigkeit ist nach der
Legaldefinition des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X nur gegeben, wenn der Begünstigte die
erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Die erforderliche Sorgfalt
in besonders schwerem Maße verletzt, wer schon einfachste, ganz naheliegende
Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem
einleuchten muss; dabei ist das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der
persönlichen Urteils ​ und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie der
besonderen Umstände des Falles zu beurteilen (subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff).
Voraussetzung für die Bejahung grober Fahrlässigkeit ist, dass sich die tatsächlichen oder
rechtlichen Mängel aus dem Bewilligungsbescheid oder anderen Umständen ergeben und
für das Einsichtsvermögen des Betroffenen ohne weiteres erkennbar sind. Ein
Antragsteller, der zutreffende Angaben gemacht hat, ist im allgemeinen nicht zu Gunsten
der Fachbehörde gehalten, Bewilligungsbescheide des Näheren auf ihre Richtigkeit zu
überprüfen. Der Antragsteller darf davon ausgehen, dass eine Fachbehörde nach den für
die Leistung erheblichen Tatsachen fragt und seine wahrheitsgemäßen Angaben
zutreffend umsetzt (hierzu näher BSG, Urteil vom 08.02.2001 ​ B 11 AL 21/00 R ​).
Der Klägerin ist nicht vorzuwerfen, schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen
nicht angestellt zu haben. Denn aufgrund der Tatsache, dass die Beklagte in dem Antrag
auf Feststellung von Kindererziehungszeiten nicht danach gefragt hat, ob eine
gemeinsame Erklärung nach § 1251 a Abs. 2 RVO abgegeben wurde, durfte die Klägerin
annehmen, dass dieser Umstand für die Leistungsbewilligung unbeachtlich ist. Zudem ist
zu berücksichtigen, dass die gemeinsame Erklärung bereits am 14.11.1985 abgegeben
wurde, während die Bewilligung der Altersrente im August 1989, also fast vier Jahre später,
erfolgte. Allein aufgrund dieses Zeitablaufes musste sich für die Klägerin nicht aufdrängen,
dass die Anerkennung der Kindererziehungszeiten bei ihr fehlerhaft ist. Zum einen kann sie
schlicht vergessen haben, die gemeinsame Erklärung abgegeben zu haben, was
möglicherweise fahrlässig, nicht aber grob fahrlässig ist Zum anderen ist aus Sicht der
Klägerin, wenn man ihr schon unterstellt, rechtliche Überlegungen angestellt zu haben
bzw. hierzu verpflichtet zu sein ​ durchaus denkbar, dass innerhalb von vier Jahren sich die
Rechtslage so ändert, dass eine doppelte Anerkennung von Kindererziehungszeiten
möglich ist. Es beruht jedenfalls nicht auf einfachsten, ganz naheliegenden Überlegungen,
zu erkennen, dass eine solche doppelte Anerkennung ausgeschlossen ist. Schließlich ist
zu beachten, dass die Klägerin nicht wissen musste, dass die Kindererziehungszeiten
bereits beim Ehemann anerkannt wurden.
Da bereits die Voraussetzungen für eine Rücknahme nach § 45 SGB X mithin nicht
vorliegen, brauchte die Kammer nicht näher zu prüfen, ob die Beklagte ihr
Rückforderungsrecht verwirkt hat. Denn es kann durchaus als Verstoss gegen das auch ein
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öffentlich-rechtliches Sozialversicherungsverhältnis prägende Prinzip von Treu und
Glauben angesehen werden, im Leistungsantrag wesentliche Fragen nicht zu stellen, um
dann 15 Jahre später für den Versicherten völlig überraschend auf die Idee zu kommen zu
prüfen, ob eventuell eine doppelte Anerkennung von Kindererziehungszeiten erfolgt ist. Der
Überprüfungsvorgang aus Juni 2004 hätte ebensogut bei Bewilligung der Rente erfolgen
können. Es ist gerichtsbekannt, dass die Beklagte bereits im Jahre 1989 über eine EDV-
Ausstattung verfügte. Schließlich ist nicht ersichtlich, was die Beklagte davon abgehalten
hat, im Antrag auf Feststellung von Kindererziehungszeiten nach einer gemeinsamen
Erklärung gemäß § 1251 a Abs. 2 RVO zu fragen. Es ist jedenfalls nicht zulässig, ein
derartiges Versäumnis jetzt auf dem Rücken der Klägerin auszugleichen zu versuchen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.