Urteil des SozG Aachen vom 13.05.2009

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Sozialgericht Aachen, S 19 SO 21/08
Datum:
13.05.2009
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
19. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 19 SO 21/08
Sachgebiet:
Sozialhilfe
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 03.12.2007 in
der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.02.2008 verurteilt,
die für den Zeitraum vom 01.01.2003 bis zum 31.07.2005 und vom
01.07.2006 bis zum 31.12.2007 ergangenen Leistungsbescheide
abzuändern und der Klägerin insoweit Leistungen ohne die Anrechnung
von Kindergeld als Einkommen zu gewähren. Der Beklagte hat die
Kosten der Klägerin zu erstatten.
Tatbestand:
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Die Klägerin begehrt im Überprüfungsverfahren nach § 44 des Zehnten Buches
Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X)
rückwirkend höhere Grundsicherungsleistungen ohne Anrechnung von Kindergeld.
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Die am 00.00.0000 geborene Klägerin lebt im Haushalt ihrer Pflegemutter und
Betreuerin. Sie bezog in den Jahren 2003 und 2004 Leistungen nach dem Gesetz über
eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (GSiG), ab
dem 01.01.2005 bezieht sie Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung nach dem Sozialgesetzbuch - Zwölftes Buch - Sozialhilfe (SGB XII),
wobei der Beklagte das der Betreuerin bewilligte und auf das Konto der Klägerin
gezahlte Kindergeld in den streitgegenständlichen Bewilligungszeiträumen als
anspruchsminderndes Einkommen der Klägerin berücksichtigte.
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Den Antrag der Klägerin auf Nachzahlung höherer Leistungen vom 29.11.2007 lehnte
der Beklagte mit Bescheid vom 03.12.2007 mit der Begründung ab, das Kindergeld sei
als Einkommen anzurechnen gewesen, da die Klägerin einen eigenen Haushalt geführt
habe und das Kindergeld an sie ausgezahlt worden sei. Ab Januar 2008 nahm der
Beklagte keine Anrechnung mehr vor, nachdem die Betreuerin die Überweisung des
Kindergeldes auf ihr eigenes Konto veranlasst hatte.
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Ihren am 31.12.2007 erhobenen Widerspruch begründete die Klägerin (unter Hinweis
auf die Kindergeldbescheide) damit, nicht sie sei kindergeldberechtigt gewesen,
sondern ihre Betreuerin. Das Kindergeld sei nur deswegen auf ihr Konto gezahlt
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worden, weil die Betreuerin nach der Trennung von ihrem Ehemann zunächst kein
eigenes Konto gehabt habe. Auch später hätten sie und die Betreuerin keinen Anlass zu
einer Änderung gesehen, da von dem Konto auch die Miete für die gemeinsame
Wohnung abgebucht worden sei. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom
21.02.2008 zurück und führte aus, es sei unerheblich, aus welchem Grund das
Kindergeld an die Klägerin gezahlt worden sei. Jedenfalls sei es ihr zugeflossen und
damit bei ihrem Leistungsanspruch zu berücksichtigen.
Hiergegen richtet sich die am 25.03.2008 erhobene Klage.
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Die Klägerin führt ergänzend aus, verfügungsbefugt über ihr Konto seien sowohl sie als
auch die Betreuerin. Sie habe jedoch regelmäßig nur einen Betrag in Höhe ihres
Arbeitsentgelts nach Belieben ausgegeben und den Restbetrag unangetastet gelassen.
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Die Klägerin beantragt,
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den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 03.12.2007 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 21.02.2008 zu verurteilen, die für den Zeitraum vom
01.01.2003 bis zum 31.07.2005 und vom 01.07.2006 bis zum 31.12.2007 ergangenen
Leistungsbescheide abzuändern und der Klägerin insoweit Leistungen ohne die
Anrechnung von Kindergeld als Einkommen zu gewähren.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er führt aus, die Zuordnung von Einkommen könne nicht aufgrund einfacher
Erklärungen der Klägerin oder ihrer Betreuerin erfolgen, zumal das Kindergeld der
Klägerin auch tatsächlich zur Verfügung gestanden habe.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene
Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen ist, verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist zulässig und begründet. Die Klägerin ist durch die angegriffenen
Entscheidungen beschwert i.S.d. § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Sie
hat Anspruch auf Abänderung der bestandskräftigen Bewilligungsbescheide und auf
Nachzahlung höherer Leistungen nach dem GSiG und dem SGB XII.
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Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar
geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im
Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem
Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und deshalb
Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.
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Die Vorschrift findet auch auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung nach dem SGB XII Anwendung (ausführlich BSG, Urteil vom
16.10.2007, B 8/9b SO 8/05 R). Was die Rechtslage nach dem GSiG in den Jahren
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2003 und 2004 angeht, so sprechen gute Gründe dafür, § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X
abweichend von der Rechtslage bei der "regulären" Sozialhilfe nach dem
Bundessozailhilfegesetz (BSHG) auch insoweit anzuwenden (vgl. hierzu BSG, Urteil
vom 26.08.2008, B 8 SO 26/07 R). Letztlich bedarf diese Frage im vorliegenden Fall
jedoch keiner Entscheidung. Der Beklagte hat - als Herr des Verwaltungsverfahrens -
seine ablehnende Entscheidung nicht auf eine mangelnde Anwendbarkeit von § 44
SGB X gestützt, sondern ist in eine umfassende Neuprüfung des klägerischen
Begehrens eingetreten. Das Gericht ist nur mehr zur Überprüfung des hierbei vom
Beklagten gefundenen Ergebnisses berufen. Aus denselben Gründen ist der
Nachprüfung durch das Gericht entzogen, ob die in § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X
normierten Voraussetzungen für den erneuten Eintritt in eine vollumfängliche Prüfung
der Sach- und Rechtslage tatsächlich vorgelegen haben. Angesichts der
Sachentscheidung durch den Beklagten kommt es nicht mehr darauf an, ob er den
Überprüfungsantrag auch aus den "formellen" Gründen fehlender Voraussetzungen
nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X hätte ablehnen dürfen.
Die unter dieser Prämisse vorgenommene "materielle" Überprüfung führt zu dem
Ergebnis, dass der Beklagte das Kindergeld in den streitgegenständlichen Zeiträumen
nicht als Einkommen der Klägerin anrechnen durfte.
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Sowohl in dem bis Ende 2004 geltenden Sozialhilferecht (einschließlich der
bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem GSiG)
als auch nach dem SGB XII war bzw. ist Kindergeld das Einkommen dessen, an den es
ausgezahlt wird (vgl. bereits zum alten Recht BVerwG, Urteil vom 28.04.2005, 5 C
28/04, juris, Rn. 9 m.w.N.). Das Kindergeld steht grundsätzlich den Eltern und nicht dem
Kind zu und ist deswegen regelmäßig nicht bei dem Kind als Einkommen anzurechnen
(vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.04.2004, 12 B 1577/03). Unter
Auszahlung ist im vorliegenden Zusammenhang allerdings nicht der konkrete
Zahlungsweg zu verstehen, sondern vielmehr - wie das BSG klargestellt hat (BSG,
Urteil vom 16.10.2007, B 8/9b SO 8/06 R, juris Rn. 22 m.w.N.) die Erbringung an den
Leistungs- oder Abzweigungsberechtigten. Der Inhaberschaft an dem Empfängerkonto
kommt somit nur eine Indizwirkung zu, die in Fällen wie dem vorliegenden durch die
Adressateneigenschaft der Kindergeldbescheide widerlegt ist. Mit anderen Worten: Es
kommt nicht auf das Konto als solches an, sondern darauf, wer (gegenüber der
Kindergeldbehörde) bestimmen darf, auf welches Konto das Kindergeld gezahlt werden
soll. Bestimmt der Kindergeldberechtigte, dass das Kindergeld auf das Konto eines
Dritten fließen soll, so kann dies ein Indiz für eine Weiterleitung an diesen Dritten sein
(dazu sogleich), ändert aber nichts an der Leistungsberechtigung. Die Überweisung auf
das Konto der Klägerin stellt sich als rein technisches Detail dar, das an der
Leistungsberechtigung der Betreuerin und somit der Zuordnung des Kindergeldes als
deren Einkommen nichts ändert.
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Eine Anrechnung des Kindergeldes aufgrund einer Weiterleitung von der Betreuerin an
die Klägerin scheidet im vorliegenden Fall ebenso aus wie die Annahme anderweitiger
Bedarfsdeckung i.S.d. § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII.
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Eine Anrechnung als Einkommen nach § 82 Abs. 1 Satz 2 SGB XII scheitert daran, dass
die (0000 geborene) Klägerin bereits zu Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums
nicht mehr minderjährig war.
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Hinreichende Anhaltspunkte für eine tatsächliche Weiterleitung des Kindergeldes an die
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Klägerin (mit der Folge, dass dies dort als Einkommen berücksichtigt werden könnte)
liegen nicht vor. Insbesondere reicht insoweit nicht aus, dass das Kindergeld in einen
"gemeinsamen Topf" fließt, aus dem der Aufwand für den Lebensunterhalt des Kindes
und des Kindergeldberechtigten bestritten wird (vgl. Niedersächsisches OVG, Urteil vom
12.09.2004, 12 LC 144/04). Im vorliegenden Fall ist bereits zu beachten, dass die
"Weiterleitung" (eher: Umleitung) des der Betreuerin zustehenden Kindergeldes auf das
Konto der Klägerin technischer Natur war. Maßgeblich erscheint der Kammer jedoch der
Umstand, dass von dem fraglichen Konto gerade auch Ausgaben für gemeinsame
Zwecke (hier: die Mietzahlungen) abgewickelt worden sind. Es kommt hinzu, dass die
Betreuerin auch nach Eingang des Kindergeldes auf dem Konto der Klägerin noch über
den Betrag verfügen konnte und dies im Innenverhältnis schon deswegen auch durfte,
weil ihr das Kindergeld zustand.
Der Beklagte dringt im vorliegenden Fall auch mit seinem Einwand nicht durch, die
Zuordnung von Einkommen dürfe nicht allein aufgrund einfacher (Tatsachen-)
Erklärungen der Betroffenen erfolgen. Das Gericht verkennt nicht, dass dieser Einwand
dem Grunde nach seine Berechtigung hat und es grundsätzlich gewisser äußerer
Indizien bedarf, um einen behaupteten wirtschaftlichen Zustand der rechtlichen
Würdigung zugrundezulegen. Im vorliegenden Fall liegt indes ein solcher nachprüfbarer
äußerer Umstand gerade darin, dass das Kindergeld rechtlich betrachtet der Betreuerin
zugeordnet ist. Der von der Betreuerin gewählte Zahlungsweg wiegt angesichts der
Abwicklung der Mietzahlungen vom Konto der Klägerin - auch dies ein äußerer
Umstand - nicht hinreichend schwer, um von dieser grundsätzlichen Zuordnung
abzuweichen.
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Eine nachträgliche Berücksichtigung des Kindergelds als Fall der anderweitigen
Bedarfsdeckung (§ 28 Abs. 1 Satz 2 1. Alt SGB XII) scheidet ebenfalls aus. Das
Verhältnis zwischen der Anrechnung von Einkommen und Fällen der anderweitigen
Bedarfsdeckung ist in den Einzelheiten ungeklärt. Es dürfte jedoch weitgehend
anerkannt sein, dass eine Herabbemessung des Regelsatzes wegen ganz oder
teilweiser anderweitiger Bedarfsdeckung gerade voraussetzt, dass gerade ein
bestimmter Bedarf (in der Praxis meist die Ernährung) durch kostenlose
Naturalleistungen eines Dritten gedeckt wird (vgl. Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf,
SGB XII, 2. Aufl., 2008, § 28, Rn. 12 und 14). Im vorliegenden Fall lässt sich indes kein
bestimmter Bedarf identifizieren, sondern es käme höchstens eine Verwendung des
Kindergeldes für die anteilige Deckung aller anerkannten Bedarfe in Betracht.
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Der zeitliche Umfang der Rücknahme und der Nachzahlung von Leistungen ergibt sich
aus § 44 Abs. 4 Satz 3 i.V.m. Satz 1 SGB X. Die Klägerin hat keine Ansprüche geltend
gemacht, die vor Beginn des rückschreitend zu berechnenden Zeitraums (der die Jahre
2003 bis 2007 erfasst) liegen. Dass somit im Ergebnis Leistungen für mehr als vier
Jahre nachzuzahlen sind, ist wegen der Regelung über den "Beginn" des Zeitraums (§
44 Abs. 4 Satz 2 SGB X) unschädlich.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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