Urteil des SozG Aachen vom 23.05.2006

SozG Aachen: grobe fahrlässigkeit, zustandekommen, verhinderung, sicherheit, lebenserfahrung, absender, dokumentation, lebenslauf, beweislast, firma

Sozialgericht Aachen, S 11 AL 13/06
Datum:
23.05.2006
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
11. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 11 AL 13/06
Sachgebiet:
Arbeitslosenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 27.10.2006 in
der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 01.02.2006 verurteilt,
der Klägerin Arbeitslosengeld auch für die Zeit vom 13.09.2005 bis
03.10.2005 zu zahlen. Die Beklagte hat die Kosten der Klägerin zu
erstatten. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand:
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Die Klägerin wendet sich gegen eine Sperrzeit wegen Arbeitsablehnung.
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Die am 00.00.1981 geborene Klägerin bezog seit Juni 2005 Arbeitslosengeld (Alg). Mit
Schreiben vom 08.09.2005 forderte die Beklagte sie auf, sich schritftlich auf eine Stelle
als Hotelfachfrau bei der Firma I N B1 H AG (i.F.: Arbeitgeber) in B2 zu bewerben.
Nachdem der Arbeitgeber der Beklagten mitgeteilt hatte, die Klägerin habe sich nicht
vorgestellt, teilte die Klägerin auf Nachfrage mit, sie habe sich bereits am 09.09.2005
per E-Mail beworben. Da sie jedoch seinerzeit mehrere Bewerbungen per E-Mail
versandt habe, habe sie ältere Bewerbungen (darunter auch die Bewerbung beim
Arbeitgeber) nach dem Absenden in ihrem eigenen Account gelöscht, um Speicherplatz
für neue platzaufwändige Bewerbungen zu schaffen. Aus diesem Grund könne sie ihre
Bewerbung nun auch nicht mehr vorlegen.
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Nachdem die Beklagte erneut Nachfrage beim Arbeitgeber gehalten hatte, stellte sie mit
Bescheid vom 27.10.2005 den Eintritt einer Sperrzeit vom 13.09. bis 03.10.2005 fest,
hob die Alg-Bewillung entsprechend auf und forderte 178,56 Euro erstattet. Ihren am
07.11.2005 erhobenen Widerspruch begründete die Klägerin damit, sie habe sich
zwischenzeitlich erneut beim Arbeitgeber beworben. Die Beklagte wies den
Widerspruch mit Bescheid vom 01.02.2006 zurück.
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Hiergegen richtet sich die am 21.02.2006 erhobene Klage.
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Die Klägerin beantragt,
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den Bescheid vom 27.10.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
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01.02.2006 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, Arbeitslosengeld auch für die
Zeit vom 13.09.2005 bis 03.10.2005 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Beide Beteiligte wiederholen und vertiefen ihr bisheriges Vorbringen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene
Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen ist, verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Entscheidungen der Beklagten
sind rechtswidrig i.S.d. § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da keine
Sperrzeit eingetreten ist. Mangels Eintritt einer Sperrzeit bestand auch im streitigen
Zeitraum Anspruch auf Alg und die Beklagte durfte die vorangegangene Alg-
Bewilligung nicht aufheben und auch keine Leistungen erstattet verlangen, §§ 48 Abs. 1
Satz 1, 50 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren
und Sozialdatenschutz - (SGB X).
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Nach § 144 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch - Drittes Buch - Arbeitsförderung -
(SGB III) tritt eine Sperrzeit ein, wenn der Arbeitslose trotz Belehrung über die
Rechtsfolgen eine von der Agentur für Arbeit unter Benennung des Arbeitgebers und der
Art der Tätigkeit angebotene Beschäftigung nicht annimmt oder nicht antritt oder die
Anbahnung eines solchen Beschäftigungsverhältisses, insbesondere das
Zustandekommen eines Vorstellungsgespräches, durch sein Verhalten verhindert
(Sperrzeit wegen Arbeitsablehnung). Hierunter fällt auch die bloße Untätigkeit (Niesel,
in: Niesel, SGB III, 3. Aufl., § 144, Rn. 59 a). Der Tatbestand des § 144 Abs. 1 Satz 2 Nr.
2 SGB III beschränkt sich (anders als Nr. 1 der Vorschrift) nicht auf Vorsatz und grobe
Fahrlässigkeit, setzt jedoch vorwerfbares Handeln voraus (BSG, Urteil vom 14.07.2004,
B 11 AL 67/03 R). Die Beweislast für das Vorliegen der Sperrzeittatbestände aus § 144
Abs. 1 Satz 2 SGB III trägt die Beklagte (Niesel, a.a.O., Rn. 90).
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Das Gericht sieht es nicht als mit hinreichender Sicherheit erwiesen an, dass die
Klägerin vorwerfbar das Zustandekommen eines Vorstellungsgespräches verhindert
hat. Vorwerfbares Verhalten auf Seiten der Klägerin liegt nicht bereits darin, dass sie
sich beim Arbeitgeber per E-Mail beworben hat. Auch eine Bewerbung per E-Mail erfolgt
schriftlich im Sinne des Stellenangebots der Beklagten. Im Übrigen ist sie vielen und
gerade größeren Arbeitgebern heutzutage auch bereits deswegen erwünscht, weil in
diesem Fall keine Bewerbungsunterlagen zurückgesandt werden brauchen.
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Als Verhinderung eines Vorstellungsgespräches kommt somit allein eine - von der
Beklagte behauptete - unterlassene Bewerbung in Betracht. Das Gericht sieht es jedoch
nicht als erwiesen an, dass die Klägerin sich nicht am 09.09.2005 beim Arbeitgeber
beworben hat. Dass die E-Mail den Arbeitgeber offenbar nicht erreicht hat, ist kein
hinreichender Beweis für eine Nichtabsendung. Nach Auffassung der Kammer
entspricht es allgemeiner Lebenserfahrung, dass auch E-Mails (ebenso wie
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Briefsendungen) bei der Übermittlung "verloren gehen" können, d.h. den Adressaten
nicht erreichen, ohne dass dies ihm oder dem Absender erkennbar ist. Die Klägerin
macht auf die Kammer einen insgesamt glaubwürdigen Eindruck; im Übrigen ist in der
Akte der Beklagten umfänglich dokumentiert, dass sie sich im selben Zeitraum - z.T.
auch initiativ - bei verschiedenen anderen Arbeitgebern beworben hat.
Insbesondere bewertet das Gericht den Vortrag der Klägerin als glaubhaft und
nachvollziehbar, wonach sie ihre E-Mail an den Arbeitgeber nach dem Absenden auch
aus ihrem eigenen E-Mail-Account gelöscht hat, um auf diese Weise Platz für weitere
speicherplatzaufwändige E-Mail-Bewerbungen zu schaffen. Glaubhaft erscheint dies vor
allem deswegen, weil eine Bewerbung per E-Mail nur dann sinnvoll ist, wenn sämtliche
weiteren Bewerbungsunterlagen (Lebenslauf, Zeugnisse etc.) als Anlagen (sog.
Attachments) angefügt sind. Derartige Anlagen sind regelmäßig besonders
speicherplatzaufwändig und versperren somit den Speicherplatz, der für weitere
Bewerbungen benötigt wird.
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Es kann dahinstehen, ob die Klägerin sich fahrlässig verhalten hat, indem sie nicht
lediglich die Attachments gelöscht und die E-Mails an sich weiterhin dokumentiert
gelassen hat, denn dies betrifft nicht mehr die eigentliche Bewerbung beim Arbeitgeber,
sondern deren Dokumentation für andere Zwecke.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, die Entscheidung über die Zulassung
der Berufung auf § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG.
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