Urteil des SozG Aachen vom 17.06.2008

SozG Aachen: medizinische rehabilitation, abgabe von hilfsmitteln, behinderung, rollstuhl, medizinische indikation, diabetes mellitus, versorgung, krankenversicherung, wohnung, prothese

Sozialgericht Aachen, S 13 (2) KR 26/07
Datum:
17.06.2008
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
13. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 13 (2) KR 26/07
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander nicht
zu erstatten.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf Versorgung mit einem Rollstuhl-Hand-
Bike (Speedy-Bike) zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung.
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Dem 1947 geborenen Kläger wurde im April 2004 infolge einer peripheren arteriellen
Verschlusskrankheit (pAVK) das linke Bein amputiert. Darüberhinaus bestehen bei ihm
ein Wirbelsäulensyndrom, eine Herzkrankheit, ein Diabetes mellitus, Bluthochdruck und
eine Fettstoffwechselstörung. Er ist mit einer Prothese, einem Gehgestell,
Unterarmgehstützen und einem Greifreifenrollstuhl versorgt.
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Am 06.12.2006 beantragte der Kläger die Versorgung mit einem Speedy-Bike. Er legte
eine Hilfsmittelverordnung des Hausarztes vom 09.11.2006 für ein Speedy-Bike zum
Anbau an den vorhandenen Rollstuhl vor, des weiteren einen Kostenvoranschlag einer
Reha-Technik-Firma über 3.246,92 EUR.
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Nach Einholung einer Stellungnahme des Medizinischen Dienst der
Krankenversicherung (MDK) lehnte die Beklagte den Antrag durch Bescheid vom
14.12.2006 ab mit der Begründung, es bestehe keine medizinische Indikation für eine
Versorgung mit einem Speedy-Bike.
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Dagegen legte der Kläger am 29.12.2006 Widerspruch ein: Durch seine Beinamputation
sei er in der Beweglichkeit stark eingeschränkt; da aber Bewegung das "A" und "O" für
eine gute Durchblutung sei und der Hausarzt die Anschaffung des Speedy-Bike für
sinnvoll erachte, bitte er um erneute Überprüfung.
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Die Beklagte wies den Widerspruch nach Einholung einer weiteren MDK-
Stellungnahme durch Widerspruchsbescheid vom 03.04.2007 zurück. Sie führte aus, es
stehe außer Frage, dass körperliche Aktivität bei Gefäß- und Zuckerleiden sinnvoll sei;
nach der Rechtssprechung des Bundessozialgericht (BSG) sei aber insofern ein
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Speedy-Bike bei Erwachsenen nicht erforderlich.
Dagegen hat der Kläger am 04.05.2007 Klage erhoben. Er hat ein hausärztliches Attest
vom 14.08.2007 vorgelegt, in dem die Benutzung eines Speedy-Bikes befürwortet
wurde, um weitere Schäden zu vermeiden und die Belastbarkeit zu stärken. Der Kläger
trägt vor, aufgrund seiner Behinderung nur kurze Strecken bis 500 m unter erheblicher
Anstrengung zurücklegen zu können; auch sei das schnelle Antreiben des Rollstuhls
aufgrund seines Alters und der körperlichen Beeinträchtigung für seinen
Bewegungsbedarf nicht ausreichend; es bedürfe eines deutlich schnelleren
Bewegungsablaufes, der mit dem Speedy-Bike herzustellen sei. Im Vordergrund stehe
für ihn die Ermöglichung eines größeren Bewegungsradius, als er mit dem Rollstuhl in
Verbindung mit der Prothese gewährleistet werden könne. Mit dem Rollstuhl und der
Prothese könne er sich nur bis 500 m selbstständig fortbewegen. Das reiche aber nicht
aus, um den Nahbereich der Wohnung zu erschließen.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14.12.2006 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 03.04.2007 zu verurteilen, ihn mit einem Rollstuhl- Hand-
Bike (Speedy-Bike) zu versorgen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie bleibt bei ihrer in den angefochtenen Bescheiden vertretenen Rechtsauffassung.
Ergänzend verweist sie auf die Rechtsprechung des BSG, wonach regelmäßige
Krankengymnastik nicht nur ausreiche, sondern sogar gezielter und vielseitiger die
angestrebten Verbesserungen der körperlichen Verfassung erreichen könne. Die
Beklagte hat dazu eine weitere MDK-Stellungnahme vom 27.03.2008 vorgelegt, in der
diese Auffassung medizinisch bestätigt wird.
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Das Gericht hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts einen Befundbericht nebst
ergänzender Stellungnahme des behandelnden Hausarztes vom 25.10.2007 und
19.02.2008 eingeholt, auf die verwiesen wird.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der
Gerichtsakte sowie der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, die
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.
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Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2
Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie nicht rechtswidrig sind. Die Beklagte hat
zurecht die Versorgung des Klägers mit einem Speedy-Bike als Hilfsmittel der
gesetzlichen Krankenversicherung abgelehnt.
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Nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte
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einen Anspruch gegen ihre Krankenkasse auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen,
Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall
erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden
Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel
nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder
nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind. Zwar ist ein Rollstuhl-Hand-Bike (auch:
Rollstuhl-Bike, "Rolli-Bike" oder "Handy-Bike" oder "Speedy-Bike" genannt), wie es der
Kläger begehrt, kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, weil es
speziell für die Bedürfnisse behinderter Menschen konstruiert und nur von ihnen
eingesetzt wird (BSG, Urteile vom 16.09.1999 - B 3 KR 13/98 R und B 3 KR 2/99 R;
Urteil vom 10.10.2000 - B 3 KR 29/99 R). Ein solches Hilfsmittel ist auch nicht durch die
zu § 34 Abs. 4 SGB V erlassene Rechtsverordnung von der Leistungspflicht der
gesetzlichen Krankenversicherung ausgenommen. Dem Anspruch des Klägers auf ein
Speedy-Bike steht jedoch entgegen, dass dieses nicht "erforderlich" ist, um den Erfolg
der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder
eine Behinderung auszugleichen.
Bei dem Rollstuhl-Bike handelt es sich um eine Handkurbel in Brusthöhe mit Kette oder
Kupplungsgestänge zur Kraftübertragung auf die Räder, wodurch ein effektiverer Antrieb
als mit den Greifreifen möglich ist. Die Kammer verkennt nicht, dass das Fahren mit
einem Speedy-Bike geeignet ist, die Belastbarkeit des Klägers zu stärken, einen
bewegungs- therapeutischen Effekt hat und wegen der Herz-Kreislauferkrankung
sinnvoll ist, wie der Hausarzt dies im Attest vom 14.08.2007 und zuletzt in seiner
Stellungnahme vom 19.02.2008 mitgeteilt hat. "Um den Erfolg der Krankenbehandlung
zu sichern" (vgl. § 33 Abs. 1 Satz 1, Erste Alternative SGB V), ist das Speedy-Bike
jedoch nicht erforderlich, weil hierzu weniger aufwändigere wirtschaftlichere (vgl. § 12
Abs. 1 SGB V) Therapiemaßnahmen zur Verfügung stehen. In diesem Zusammenhang
hat das BSG jedoch mehrfach festgestellt, dass regelmäßige Krankengymnastik nicht
nur ausreicht, sondern sogar gezielter und vielseitiger die angestrebten Verbesserungen
der körperlichen Verfassung erreichen könne, einschließlich der Stärkung von
Muskulatur, Herz-Kreislauf-System-, Lungenfunktion, Körperkoordination und
Balancegefühl (vgl. BSG, Urteil vom 21.11.2002 - B 3 KR 8/02 R; Beschluss vom
27.07.2006 - B 3 KR 11/06 B).
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Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf das Speedy-Bike, um "einer drohenden
Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen". Dieser Zweck eines
von der gesetzlichen Krankenversicherung zu leistenden Hilfsmittels bedeutet nicht,
dass nicht nur die Behinderung selbst, sondern auch sämtliche direkten und indirekten
Folgen einer Behinderung auszugleichen wären. Aufgabe der gesetzlichen
Krankenversicherung ist allein die medizinische Rehabilitation, also die möglichst
weitgehende Wiederherstellung der Gesundheit und der Organfunktionen einschließlich
der Sicherung des Behandlungserfolges, um ein selbstständiges Leben führen und die
Anforderung des Alltags meistern zu können. Eine darüberhinausgehende berufliche
oder soziale Rehabilitation, die auch die Versorgung mit einem Hilfsmittel umfassen
kann, ist hingegen Aufgabe anderer Sozialleistungssysteme (BSG, Urteil vom
16.09.1999 - B 3 KR 9/98 R = SozR 3-2500 § 33 Nr. 32). Bei einem unmittelbar auf den
Ausgleich der beeinträchtigten Organfunktion selbst gerichteten Hilfsmittel, z.B. einem
künstlichen Körperglied, ist ohne Weiteres anzunehmen, dass eine medizinische
Rehabilitation vorliegt. Hingegen werden nur mittelbar oder teilweise die
Organfunktionen ersetzende Mittel lediglich dann als Hilfsmittel im Sinne der
Krankenver-sicherung angesehen, wenn sie die Auswirkungen der Behinderung nicht
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nur in einem bestimmten Lebensbereich (Beruf/Gesellschaft/Freizeit), sondern im
gesamten täglichen Leben ("allgemein") beseitigen oder mildern und damit ein
"Grundbedürfnis des täglichen Lebens" betreffen (BSG a.a.O. mit weiteren
Nachweisen). Nach ständiger Rechtsprechung gehören zu derartigen
Grundbedürfnissen die allgemeinen Verrichtungen des täglichen Lebens wie Gehen,
Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, elementare
Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen
körperlichen und geistigen Freiraums, die auf die Aufnahme von Informationen, die
Kommunikation mit anderen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen
Grundwissens (Schulwissens) umfassen. Auch das Grundbedürfnis der Erschließung
eines "gewissen körperlichen Freiraums" hat die Rechtsprechung nur im Sinne eines
Basisausgleichs der Behinderung selbst und nicht im Sinne des vollständigen
Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Mobilitätsmöglichkeiten des Gesunden
verstanden (BSG, a.a.O.). Dieses Bedürfnis wird in aller Regel durch die Erschließung
des Nahbereichs erfüllt. Nahbereich ist die Entfernung, die ein Gesunder zurücklegt, um
sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei
einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die - üblicherweise
im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen
Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (BSG, Urteil vom 16.09.1999 - B 3 KR 8/98 R = SozR
3-2500 § 33 Nr. 31). Dieser Nahbereich wird bei gehbehinderten Menschen regelmäßig
durch einen handbetriebenen oder Elektro-Rollstuhl erschlossen (BSG, Urteil vom
19.04.2007 - B 3 KR 9/06 R = SozR 4-2500 § 33 Nr. 15). Soweit der Kläger das Speedy-
Bike zum Zurücklegen längerer Wegstrecken an der frischen Luft, vergleichbar einem
Radfahrer, nutzen will, gehört dies nicht zu den Grundbedürfnissen des täglichen
Lebens und führt daher ebenfalls nicht zu einem Anspruch eines Behinderten auf ein
Hilfsmittel. Das Rollstuhl-Bike beschränkt sich dann auf eine bloße Freizeitbetätigung,
die nicht zu den Grundbedürfnissen gehört (BSG, Urteil vom 21.11.2002 - B 3 KR 8/02
R).
Diese vom BSG aufgestellten Grundsätze entbinden die Krankenkasse und das Gericht
nicht von einer Prüfung der Besonderheiten jedes einzelnen Falles. Die Kammer hat
deshalb auch im Fall des Klägers geprüft, ob Besonderheiten vorliegen, die bei ihm die
Versorgung mit einem Speedy-Bike erforderlich machen. Sie ist zum Ergebnis
gekommen, dass solche Besonderheiten nicht vorliegen. Der Kläger ist in der Lage, sich
den Nahbereich der Wohnung selbstständig mittels seines Greifreifenrollstuhls zu
erschließen. Er hat selbst dargelegt, dass er - wenn auch unter Anstrengung - in der
Lage ist Entfernungen bis zu 500 m mit dem Greifreifenrollstuhl in Verbindung mit der
Prothese zurückzulegen. Dies hat der Hausarzt in seinem Befundbericht vom
25.10.2007 bestätigt. Nach hausärztlicher Einschätzung ist der Kläger in der Lage mit
dem Greifreifenrollstuhl innerhalb und außerhalb des Hauses zu fahren und damit
Strecken bis 500 m zurückzulegen; ohne Rollstuhl ist er allein mit Hilfe seiner Prothese
in der Lage, Wegstrecken bis 50 m zurückzulegen. Mit diesem Entfernungsradius ist der
vom BSG beschriebene übliche Nahbereich der Wohnung zu erschließen. Darauf, dass
ihm dies in Einzelsituationen, z.B. bei Steigungen, nicht oder nur schwer möglich ist,
kommt es nicht an. Denn es sind nicht die konkreten Wohn- und Lebensverhältnisse
eines einzelnen Versicherten entscheidend, sondern die Tatsache, dass in einem
städtischen Nahbereich grundsätzlich die Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (BSG,
Urteil vom 16.09.1999 - B 3 KR 8/98 R = SozR 3-2500 § 33 Nr. 31; Urteil vom
19.04.2007 - B 3 KR 9/06 R = SozR 4-2500 § 33 Nr. 15).
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Schließlich begründet auch die vertragsärztliche Verordnung des Hausarztes vom
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09.11.2006 keinen Anspruch des Klägers auf Versorgung mit einem Speedy-Bike. Eine
solche Verordnung allein bewirkt keinen Leistungsanspruch; sie ist dafür nur eine
"formale" Voraussetzung. Denn gem. §§ 2 Abs. 4, 12 Abs. 1 Satz 2 SGB V dürfen die
Krankenkassen unwirtschaftliche Leistungen nicht bewilligen. Nach § 275 Abs. 3 Nr. 1
SGB V können sie nach der Verordnung eines Hilfsmittels durch einen Vertragsarzt eine
Prüfung durch den MDK zu der Frage herbeiführen, ob die Hilfsmittelversorgung
erforderlich ist. Nach § 30 Abs. 8 Satz 1 Bundesmantelvertrag-Ärzte sowie § 16 Abs. 8
Satz 1 Bundesmantelvertrag-Ärzte/Ersatzkassen, die die Verordnungstätigkeit regeln,
hängt die Abgabe von Hilfsmitteln von der Genehmigung durch die Krankenkasse ab.
Daraus folgt, dass eine Verordnung eines Vertragsarztes noch keine verbindliche
Aussage über den Versorgungsanspruch des Versicherten darstellt, sondern dass der
Anspruch der Entscheidung der Krankenkasse vorbehalten ist (Schleswig-
Holsteinisches LSG, Urteil vom 03.04.2001 - L 1 KR 35/00 - unter Hinweis auf BSG,
Urteil vom 16.04.1998 - B 3 KR 9/97 R = SozR 3-2500 § 33 Nr. 27).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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