Urteil des SozG Aachen vom 09.12.2005
SozG Aachen: europäisches recht, widerspruchsverfahren, jugend, analogie, schulausbildung, versorgung, eltern, 1791, parlament, taschengeld
Sozialgericht Aachen, S 8 R 126/05
Datum:
09.12.2005
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 8 R 126/05
Nachinstanz:
Landessozialgericht NRW, L 14 R 6/06
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten
Tatbestand:
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Streitig ist ein Anspruch auf Waisenrente.
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Der am 00.00.1986 geborene Kläger ist der Sohn des am 00.00.2005 verstorbenen E
(Versicherter). Der Kläger besuchte bis Juli 2005 die Schule. Seit dem 01.09.2005
absolviert er einen Europäischen Freiwilligendienst in Griechenland, getragen durch
den "Internationalen Bund – Freier Träger der Jugend -, Sozial- und Bildungsarbeit
e.V.". Der Freiwilligendienst beruht auf dem Beschluss Nr. 1031/2000/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.04.2000 zur Einführung des
gemeinschaftlichen Aktionsprogramms "Jugend".
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Mit Bescheid vom 04.07.2005 bewilligte die Beklagte Halbwaisenrente vom 01.05.2005
bis zum 31.07.2005. Über diesen Zeitraum hinaus bestehe kein Anspruch auf Rente,
weil der Kläger im Juli 2005 die Schulausbildung beendet habe.
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Im Widerspruchsverfahren beantragte der Kläger Gewährung der Waisenrente über den
31.07.2005 hinaus. Der Europäische Freiwilligendienst sei einem freiwilligen sozialen
Jahr im Sinne des § 48 Abs. 4 Nr. 2 c SGB VI gleichzustellen. Er legte eine
Bescheinigung des Internationalen Bundes vor, wonach sein Dienst dem genannten
Beschluss Nr. 1031/2000/EG entspreche.
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Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 14.09.2005 zurück. Für die
Weiterzahlung der Waisenrente gebe es keine Rechtsgrundlage.
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Hiergegen richtet sich die am 00.00.0000 erhobene Klage. Die Beteiligten wiederholen
und vertiefen ihre Rechtsauffassung.
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Der Kläger beantragt,
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den Bescheid vom 04.07.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
14.09.2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, Waisenrente über den
31.07.2005 hinaus nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu zahlen
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene
Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen ist, verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der angefochtene Bescheid ist nicht
rechtswidrig im Sinne des § 54 Abs. 2 S. 1 SGG. Der Kläger hat über den 31.07.2005
hinaus keinen Anspruch auf Halbwaisenrente.
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Der Anspruch auf Halb- oder Vollwaisenrente besteht nach Vollendung des 18.
Lebensjahres bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres gem. § 48 Abs. 4 Nr. 2 SGB VI
nur, wenn die Waise a) sich in Schulausbildung oder Berufsausbildung befindet oder b)
sich in einer Übergangszeit von höchstens vier Kalendermonaten befindet, die zwi
schen zwei Ausbildungsabschnitten oder zwischen einem Ausbildungsab- schnitt oder
der Ableistung eines freiwilligen Dienstes im Sinne des Buchstabens liegt, oder c) ein
freiwilliges soziales Jahr im Sinne des Gesetzes zur Förderung eines freiwilligen
sozialen Jahres oder ein freiwilliges ökologisches Jahr im Sinne des Gesetzes zur
Förderung eines freiwilligen ökologischen Jahres leistet oder d) wegen körperlicher,
geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Der
Kläger erfüllt seit dem 01.08.2005 keines der Tatbestandsmerkmale dieser Vorschrift.
Insbesondere leistet er kein freiwilliges soziales Jahr im Sinne des Gesetzes zur
Förderung eines freiwilligen sozialen Jahres. Dies ist zwischen den Beteiligten nicht
umstritten.
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Die Tätigkeit des Klägers im Europäischen Freiwilligendienst ist einem freiwilligen
sozialen Jahr nicht gleichzusetzen. Mangels einer ausdrücklichen Regelung kommt
eine Gleichsetzung nur im Wege der Rechtsfortbildung in Betracht. Im vorliegenden Fall
kommt eine Analogie zu § 32 Abs. 4 Nr. 2 d) 2. Halbs. EStG in Betracht. Hiernach wird
bei einem Anspruch auf Kindergeld ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat,
auch berücksichtigt, wenn es einen Freiwilligendienst im Sinne des Beschlusses Nr.
1031/2000/EG leistet. Eine derartige Analogie setzt indes voraus, dass die Regelung
des § 48 Abs. 4 Nr. 2 SGB VI unbeabsichtigt lückenhaft ist (vgl. hierzu näher: Larenz,
Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 373 ff.). Dies kann nicht
angenommen werden. § 48 Abs. 4 SGB VI ist zuletzt neu gefasst worden durch Gesetz
vom 21.07.2004 – BGBl I 1791 ff. - mit Wirkung vom 01.08.2004. Die genannte
Bestimmung des § 32 Abs. 4 Nr. 2 d) EStG war zu diesem Zeitpunkt lange in Kraft. Es
muss daher angenommen werden, dass dem Gesetzgeber bei Neufassung des § 48
Abs. 4 Nr. 2 SGB VI die Rechtslage zum Kindergeldrecht bekannt gewesen ist.
Deswegen kann nicht von einer unbeabsichtigten Regelungslücke ausgegangen
werden. Für die Differenzierung zwischen der Weiterzahlung des Kindergeldes während
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eines Europäischen Freiwilligendienstes einerseits und der Nichtweiterzahlung der
Waisenrente andererseits gibt es auch einen sachlichen Grund im Sinne des Art. 3 Abs.
1 GG, so dass die Interessenlage unterschiedlich ist und die Differenzierung nicht als
willkürlich angesehen werden muss. Mit dem Kindergeld soll die Unterhaltsbelastung
der Berechtigten, in erster Linie der Eltern, ausgeglichen werden. Diese besteht
typischerweise auch während der Ableistung des Europäischen Freiwilligendienstes
fort. Die Waisenrente dient demgegenüber der Versorgung des Kindes. Wie sich aus der
im Widerspruchsverfahren vom Kläger vorgelegten Bescheinigung des Internationalen
Bundes ergibt, erhält der Kläger für die Zeit seines Freiwilligendienstes ein monatliches
Taschengeld in Höhe von 190 Euro sowie freie Unterkunft und Verpflegung durch die
Aufnahmeorganisation. Damit kann davon ausgegangen werden, dass der Freiwillige
während der Ableistung des Dienstes hinreichend versorgt ist, so dass die
Weiterzahlung der Waisenrente nicht erforderlich ist.
Der Ausschluss der Weiterzahlung der Waisenrente wäre rechtswidrig, wenn er gegen
europäisches Recht verstieße. Indes enthält der Beschluss Nr. 1031/2000/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.04.2000 (Amtsblatt der Europäischen
Gemeinschaften L 117/1) keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Waisenrente
fortzuzahlen. Unabhängig von der Frage der Rechtsqualität des Beschlusses bestimmt
Art. 5 Abs. 4 des Beschlusses lediglich: "Die Mitgliedstaaten ergreifen die für den
reibungslosen Ablauf des Programms erforderlichen Maßnahmen; sie bemühen sich
ferner, soweit dies möglich ist, solche Maßnahmen zu treffen, die ihnen notwendig und
geeignet erscheinen, um etwaige rechtliche oder administrative Hindernisse für die
Teilnahme an diesem Programm zu beseitigen". Aus der Vielzahl der unbestimmten
Rechtsbegriffe dieser Norm sowie in Ermangelung eines normativen Befehls lässt sich
ersehen, dass das Europäische Parlament und der Rat gerade nicht von einer
Verpflichtung der Mitgliedstaaten ausgegangen sind, jeglichen Rechtsnachteil, der
durch die Absolvierung des Europäischen Freiwilligendienstes entstehen kann, zu
vermeiden.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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