Urteil des SozG Aachen vom 18.07.2006
SozG Aachen: erwerb, darlehen, beihilfe, verkehrswert, leistungsanspruch, wohnung, wohnfläche, lebensmittelpunkt, arbeitslosenhilfe, verordnung
Sozialgericht Aachen, S 11 AS 105/05
Datum:
18.07.2006
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
11. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 11 AS 105/05
Nachinstanz:
Landessozialgericht NRW, L 19 AS 30/06
Sachgebiet:
Grundsicherung für Arbeitssuchende
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Beklagte wird unter Abänderung des undatierten Bescheides von
August 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom
21.11.2005 verurteilt, der Klägerin und dem Kläger für die Zeit vom
01.08.2005 bis zum 31.12.2005 Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitsuchende ab dem 01.08.2005 als Beihilfe anstatt als Darlehen zu
zahlen. Die Beklagte hat die Kosten der Klägerin und des Klägers zu
erstatten.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten darum, ob der Klägerin und dem Kläger angesichts der Größe
des von ihnen bewohnten Hausgrundstücks die Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitsuchende als Beihilfe oder lediglich als Darlehen zustehen.
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Die Klägerin (geboren am 00.00.1948) und der Kläger (geboren am 00.00.1945)
bewohnen ein in ihrem Eigentum stehendes Hausgrundstück mit einer Gesamtfläche
von 1088 qm. Das weitere Vermögen belief sich zum Zeitpunkt der Antragstellung im
August 2004 auf knapp 19.000 Euro. Mit Bescheid vom 02.02.2006 wurde dem Kläger
Altersrente wegen Arbeitslosigkeit für die Zeit ab dem 01.01.2006 bewilligt, ein
Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende besteht ab diesem
Zeitpunkt unstreitig nicht mehr.
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Mit undatiertem Bescheid von August 2005 bewilligte die Beklagte die Leistungen für
die Zeit vom 01.08.2005 bis zum 31.01.2006 nur mehr als Darlehen und führte zur
Begründung aus, die Gesamtfläche des Hausgrundstücks sei unangemessen groß, da
sie den maßgeblichen Grenzwert von 800 qm überschreite. Den am 25.08.2005
eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Bescheid vom 21.11.2005 mit der
Begründung zurück, zwar sei die Wohnfläche sei mit 130 qm angemessen, jedoch stelle
das Hausgrundstück angesichts seiner Gesamtgröße kein geschütztes Vermögen dar.
Auch liege der Verkehrswert des Hausgrundstücks nach Abzug der derzeitigen
Belastungen bei 102.402,59 Euro übersteige somit den Vermögensfreibetrag (von
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41.360.- Euro).
Hiergegen richtet sich die am 13.12.2005 erhobene Klage.
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Von Klägerseite wird ausgeführt, auf den unangemessen großen Teil entfalle (unter
Zugrundelegung des von der Beklagten ermittelten Preises von 6 Euro/qm für den
rückwärtigen Grundstücksteil) ein Wert von 1728.- Euro. Selbst wenn eine Teilung
möglich wäre und dieser Preis erzielt werden könnte, sei der zu erwartende Erlös von
den Freibeträgen abgedeckt. Die Veräußerung des gesamten Grundstücks sei schon
deswegen unzumutbar, weil sich der Wert des überschießenden Teils sich auf 1
Prozent des Gesamtwertes belaufe.
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Die Klägerin und der Kläger beantragen,
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die Beklagte unter Abänderung des undatierten Bescheides von August 2005 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2005 zu verurteilen, ihnen
Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende für die Zeit vom 01.08.2005 bis zum
31.12.2005 als Beihilfe anstatt als Darlehen zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hält es - analog dem Verfahren bei unangemessenen Kraftfahrzeugen - für
zumutbar, ein unangemessen großes Hausgrundstück zu veräußern, um sodann vom
Veräußerungserlös ein angemessen großes zu erwerben. Der hierzu benötigte Teil des
Erlöses sei als Schonvermögen anzusehen.
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Hinsichtlich der wesentlichen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene
Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen ist, verwiesen
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Entscheidungen sind
rechtswidrig i.S.d. § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Klägerin und der
Kläger haben Anspruch auf Leistungen in Form der Beihilfe.
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Streitig ist die Leistungsgewährung im Zeitraum vom 01.08.2005 bis zum 31.12.2005.
Für die Zeit danach besteht aufgrund der inzwischen erfolgten Rentenbewilligung kein
Leistungsanspruch.
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Dass im streitgegenständlichen Zeitraum grundsätzlich ein Anspruch auf Leistungen der
Grundsicherung für Arbeitsuchende bestanden hat, ist nicht streitig. Der Beklagte durfte
die Leistungsgewährung auch nicht auf ein Darlehen nach § 9 Abs. 4 Sozialgesetzbuch
- Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) beschränken. Der
Tatbestand der Darlehensgewährung nach § 9 Abs. 4 SGB II wäre nur dann erfüllt
gewesen, wenn das Hausgrundstück zu berücksichtigendes Vermögen im Sinne dieser
Vorschrift ist. Hieran fehlt es jedoch, denn das Hausgrundstück bleibt nach § 12 Abs. 3
Satz 1 Nr. 4, Abs. 2 Nr. 1 SGB II insgesamt unberücksichtigt.
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Nach § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 SGB II ist ein selbst genutztes Hausgrundstück von
angemessener Größe als Vermögen nicht zu berücksichtigen. Den Begriff der
Angemessenheit definiert das Gesetz (bis auf den Hinweis auf die während des
Leistungsbezugs maßgeblichen Lebensumstände, § 12 Abs. 3 Satz 2 SGB II) nicht
näher. Da das Gesetz anders als in § 90 Sozialgesetzbuch - Zwölftes Buch - Sozialhilfe
- (SGB XII) nicht von einem angemessenen Hausgrundstück spricht, ist der
Verkehrswert des Grundstücks nach dem insoweit eindeutigen Wortlaut der Vorschrift
bei der Frage der Angemessenheit nicht zu berücksichtigen (Zeitler, in: Mergler/Zink,
SGB II/SGB XII, § 12 SGB II, Rn 90; Mecke, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, § 12, Rn. 70).
Dies entspricht auch der Intention der Vorschrift, die angemessen große (nicht:
angemessen wertvolle) Wohnung als Lebensmittelpunkt zu schützen (Brühl, in: LPK-
SGB II, § 12, Rn. 43).
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Die angemessene Größe der Wohnfläche wird von der Beklagten nicht angezweifelt
und ist angesichts des hier weitgehend für einschlägig gehaltenen Grenzwerts von 130
qm (vgl. hierzu die Nachweise bei Brühl, a.a.O., Rn. 44) auch zu bejahen. Soweit die
Beklagte aus der Überschreitung des entsprechenden Grenzwerts für die
Grundstücksgröße (800 qm in ländlichen Gebieten, vgl. auch hierzu die Nachweise bei
Brühl, a.a.O., Rn. 45) automatisch auf die Unangemessenheit des Hausgrundstücks
schließt, folgt das Gericht dem nicht.
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Wie der Konflikt zwischen Haus- und Grundstücksgröße zu lösen ist, gibt das Gesetz
nicht vor. Angesichts des Wortlauts abzulehnen ist jedenfalls die in der Literatur
vertretene Auffassung, es komme maßgeblich auf die Größe der Wohneinheit an (so
Brühl, a.a.O.). Festzuhalten ist allerdings, dass der Hilfebedürftige nicht zur
vollständigen Veräußerung eines Hausgrundstücks gezwungen sein darf, wenn das
Grundstück mit einem "an sich" angemessenen Wohnhaus bebaut ist, denn § 12 Abs. 3
Satz 1 Nr. 4 SGB II soll gerade die eigene Wohnung als Lebensmittelpunkt schützen
und will es dem Hilfebedürftigen im Zweifel nicht auferlegen, dass er sein
Hausgrundstück insgesamt veräußern muss, um es wirtschaftlich gleichsam gegen ein
angemessenes einzutauschen (Mecke, a.a.O., Rn. 73; Brühl, a.a.O., Rn. 43; vgl. auch
SG Berlin, Urteil vom 30.01.2004, S 58 AL 490/03, info also 2004, 164 ff. zur
arbeitsförderungsrechtlichen Rechtslage bis zum 31.12.2004). Die Kammer entnimmt
dies nicht allein "ideellen" Erwägungen zum Schutz eines bisherigen
Lebensmittelpunktes, sondern stützt ihr Ergebnis auch auf den Gegenschluss aus § 12
Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 SGB II. Hieraus ergibt sich, dass die Auffassung der Beklagten, der
Erlös aus der Veräußerung eines unangemessenen Hausgrundstücks sei in Höhe der
zum Erwerb eines angemessenen Grundstücks benötigten Aufwendungen als
Schonvermögen anzusehen, nicht mit dem SGB II in Einklang steht. § 12 Abs. 3 Satz 1
Nr. 5 SGB II schützt Vermögen, das nachweislich zur baldigen Beschaffung eines
Hausgrundstücks von angemessener Größe bestimmt ist, nur insoweit, als das
Hausgrundstück zu Wohnzwecken behinderter oder pflegebedürftiger Menschen
bestimmt ist und dieser Zweck durch Einsatz oder Verwertung des Vermögens gefährdet
würde. Eine weite Auslegung dieses bewußt eng gefassten Ausnahmetatbestands
scheidet aus. Die Vorschrift ist vor dem Hintergrund der Vorgängervorschriften über die
Berücksichtigung eines Hausgrundstücks beim Bezug von Arbeitslosenhilfe (Alhi)
auszulegen. Während hier nach § 6 Abs. 3 Satz 2 Nr. 7 der einschlägigen Verordnung
(Alhi-VO) 1974 noch das zum alsbaldigen Erwerb angemessenen Wohnraums
bestimmte Vermögen geschützt war, verengte bereits § 1 Abs. 3 Nr. 5 Alhi-VO 2002 den
Schontatbestand auf Vermögen, das zur Erhaltung (nicht: zum Erwerb) von Wohnraum
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verwendet werden sollte. All dem liegt die gesetzgeberische Wertung zugrunde, wonach
die Bezieher von Fürsorgeleistungen ihr Vermögen vorrangig zum Lebensunterhalt und
nicht zum Erwerb von Immobilien einsetzen sollen. Für Fälle wie den vorliegenden
bedeutet dies aber zugleich, dass der Veräußerungserlös, soweit er den Freibetrag (§
12 Abs. 2 Nr. 1 SGB II) übersteigt, nicht als Schonvermögen anzusehen wäre und der
Hilfebedürftige Gefahr liefe, auf den vorrangigen Einsatz dieses Vermögens verwiesen
zu werden, ohne dass ihm sein Einwand weiterhelfen könnte, er wolle sich hiervon ein
angemessenes Hausgrundstück anschaffen. Dies aber führt dazu, dass der
Hilfebedürftige vor der Neuinvestition des Veräußerungserlöses in ein Hausgrundstück
von angemessener Größe keinen Leistungsanspruch hat und die Neuinvestition des
Geldes selbst möglicherweise den Sanktionstatbestand des § 31 Abs. 4 Nr. 1 SGB II
verwirklicht sowie - was erheblich schwerer wiegt - einen Ersatzanspruch nach § 34
SGB II auslöst. Angesichts des oben dargestellten Normzwecks von § 12 Abs. 3 Satz 1
Nr. 4 und 5 SGB II erscheint es zumindest gut vertretbar, wenn der Leistungsträger dem
Hilfebedürftigen entgegenhält, es käme im Anwendungsbereich der §§ 31, 34 SGB II
nicht darauf an, ob die Bedürftigkeit durch den Erwerb von Schonvermögen
herbeigeführt worden ist.
Weder eine Abtrennung des unangemessenen Grundstückteils (von 288 qm) noch eine
im Verhältnis zur Gesamtgröße stehende Beleihung lässt einen Ertrag erwarten, der
über dem - für den Kläger gemäß § 65 Abs. 5 SGB II zu ermittelnden -
Vermögensfreibetrag läge. Selbst die nach allgemeiner Lebenserfahrung ertragreichere
Veräußerung des unangemessenen Grundstücksteils lässt (unter Zugrundelegung der
unstreitigen Wertberechnung durch die Beklagte) nur einen Erlös von 1.728.- Euro
erwarten, wovon im Übrigen noch die Aufwendungen für eine Teilungsvermessung
abzuziehen wären.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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