Urteil des SozG Aachen vom 07.03.2006

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Sozialgericht Aachen, S 20 AY 3/06 ER
Datum:
07.03.2006
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
20. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
S 20 AY 3/06 ER
Sachgebiet:
Sozialhilfe
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen An- ordnung
verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom 13.02.2006 bis
31.03.2006 Leistungen nach dem Asyl- bewerberleistungsgesetz
(AsylbLG) einschließlich der angemessenen Unterkunftskosten zu
gewähren. Im übrigen wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung abgelehnt. Der Antragsgegner trägt die Hälfte der
notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.
Gründe:
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I.
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Der Antragsteller (Ast.) hält sich aus humanitären Gründen erlaubt (Aufenthaltserlaubnis
gemäß § 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz) in Deutschland auf. Er leidet an einer schweren
psychiatrischen Erkrankung (wiederkehrende Depressionen bei Verdacht auf schizoide
Persönlichkeitstörung und mittelgradige Intelligenzminderung). Er hat seit 01.02.2004
eine Wohnung im Haus Tstr. 0 gemietet. Bis 30.04.2005 bezog er Arbeitslosengeld II.
Diese Leistung wurde eingestellt unter Hinweis auf einen Anspruch auf Leistungen nach
dem AsylbLG. Vom 04.07. bis 31.12.2005 bezog der Ast. von dem Antragsgegner (Ag.)
Leistungen auf der Grundlage der §§ 1 und 3 bis 7 AsylbLG. Die Unterkunftskosten
wurden bis November 2005 in tatsächlicher Höhe (monatlich 380,00 EUR), ab
Dezember 2005 in angemessener Höhe (320,63 EUR) gezahlt.
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Durch Bescheid vom 12.01.2006 stellte der Ag. die Leistungen ab 01.01.2006 ein mit
der Begründung, der Ast. seit in der angemieteten Wohnung Tstr. 0 in B1 nicht wohnhaft.
Mit weiterem Bescheid vom 17.01.2006 hob der Ag. die Entscheidungen über die
Bewilligung von Leistungen nach dem AsylbLG für die Zeit vom 04.07. bis 31.12.2005
auf und forderte die Erstattung von 2838,31 EUR. Zur Begründung stützte er sich auf
Erkenntnisse anlässlich eines Hausbesuchs beim Ast. am 11.01.2006. Danach gebe es
keine Anhaltspunkte, dass der Ast. in der Wohnung wohne; die Wohnung sei nicht
möbliert; Fensterdekoration, Elektrogeräte, Essbesteck, Lebensmittel sowie Kleidung
seien nicht vorhanden gewesen; Licht habe es nur in der Abstellkammer und im
Badezimmer gegeben; in allen anderen Räumen seien noch nicht einmal Glühlampen
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vorhanden gewesen; im Schlafzimmer habe sich auf dem Boden lediglich eine Matratze
mit Bettzeug und eine Tüte mit dreckigen Socken und einem Pullover befunden. Es sei
davon auszugehen, dass der Ast. den Lebensunterhalt durch eigenes Einkommen oder
Einkommen bzw. Vermögen von anderen Personen sichergestellt habe.
Sowohl der Einstellungsbescheid vom 12.01.2006 als auch der Aufhebungs- und
Erstattungsbescheid vom 17.01.2006 sind durch Widerspruch angefochten und nicht
bestandskräftig.
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Am 13.02.2006 hat der Ast. um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Er hat
eidesstattlich versichert, in der Tstr. 0 in B1 auf der 1. Etage zu wohnen; es sei
zutreffend, dass seine Wohnung bisher nur unvollkommen eingerichtet gewesen sei, er
habe nicht das Geld für eine komplette Wohnungseinrichtung gehabt. Es sei auch
zutreffend, dass er gelegentlich bei seinem Neffen B2 am Wochenende übernachte;
dies komme aber allenfalls 2 mal im Monat vor neben häufigeren Besuchen. Sein Neffe
und seine Familie seien die einzigen Verwandten in Deutschland, mit denen er häufiger
verkehre; wenn er bei seinem Neffen und dessen Familie (Frau und 1 Kind) sei, werde
er dort auch bewirtet, was in seiner Kultur selbstverständlich sei; es sei allerdings nicht
so, dass er regelmäßig zu seinem Neffe gehe und dort verköstigt werde. Der Ast. wies
darauf hin, dass er psychisch krank sei; seine Bedürfnisse und Vorstellungen von einer
Wohnung wichen offenbar von denen der zuständigen Sachbearbeiterin des Ag. ab;
dies rechtfertige aber nicht die Einstellung der lebensnotwendigen Sozialleistungen. In
der Vergangenheit sei es zu einer vorübergehenden Sperrung der Strom- und
Gasversorgung gekommen, weil er seine Abschlagszahlungen nicht habe leisten
können. Der Ast. hat eine Erklärung seiner Vermieterin vorgelegt, wonach der
Mietrückstand für Januar und Februar 2006 inzwischen 640,00 EUR beträgt. In ebenfalls
vom Ast. vorgelegten Erklärungen und einer eidesstattlichen Versicherung vom
28.02.2006 hat eine Mieterin einer anderen Wohnung im Haus Tstr. 0, Frau M, bestätigt,
dass der Ast. seit Februar 2004 tatsächlich in seiner Wohnung Tstr. 0 auf der 1. Etage
lebt; sie selbst wohne mit ihrer Familie auf der 3. Etage und sehe den Ast. mehrfach
wöchentlich, wenn er nach Hause komme oder die Wohnung verlasse; sie sei schon 2
mal in der Wohnung des Ast. gewesen und habe gesehen, dass dieser nicht viel Möbel
habe, bestätige aber nochmals, dass er tatsächlich im Haus wohne; sie sehe ihn
mehrfach in der Woche, auch, dass der Ast. seine Straßenschuhe vor der Wohnungstüre
stehen habe.
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Der Antragsteller beantragt schriftsätzlich,
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den Antragsgegner zu verpflichten, ihm vorläufig Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz ab 01.01.2006 zu zahlen.
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Der Antragsgegner beantragt,
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den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
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Er meint, eine Gewährung von Leistungen für den Zeitraum vom 01.01. bis 12.02.2006
komme schon deshalb nicht in Betracht, weil Leistungen vor Eingang des Antrags bei
Gericht nicht mehr der Vermeidung einer gegenwärtigen Notlage dienen könnten. Aber
auch für die Zeit ab 13.02.2006 fehle es an einem Anordnungsanspruch: Der Ag. sei für
die Bewilligung von Leistungen nach dem AsylbLG örtlich nicht zuständig, da sich der
Ast. im Bereich des Ag. nicht tatsächlich aufhalte. Der Ag. stützt sich für seine Annahme
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auf die Erkenntnisse bei dem Hausbesuch vom 11.01.2006, die im Bescheid vom
17.01.2006 ihren Niederschlag gefunden haben. Der Ag. hält auch im Hinblick auf die
vorgelegten Erklärungen und eidesstattlichen Versicherungen des Ast., seiner
Vermieterin, seiner Mitbewohner und seines Neffen die Darlegungen des Ast. für
zweifelhaft und nur schwerlich nachvollziehbar.
II.
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und teilweise
begründet.
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Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht einstweilige
Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges
Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher
Nachteile nötig erscheint. Der Ast. muss glaubhaft machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG
i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO), dass ihm ein Anspruch auf die geltend
gemachte Leistung zusteht (Anordnungsanspruch) und dass das Abwarten einer
gerichtlichen Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren für ihn mit unzumutbaren
Nachteilen verbunden wäre (Anordnungsgrund). Einstweilige Anordnungen kommen
grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Beseitigung einer gegenwärtigen Notlage
dringend geboten ist.
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Der Ast. hat die Voraussetzungen für das Vorliegen eines Anordnungsgrundes und
eines Anordnungsanspruches glaubhaft gemacht.
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Der Ast. gehört zum Personenkreis der Leistungsberechtigten nach § 1 AsylbLG. Er
erfüllt die wirtschaftlichen Voraussetzungen für Leistungen nach dem AsylbLG, da er nur
in begrenztem Umfang über Einkünfte verfügt, die zur Bestreitung des Lebensunterhalts
nicht ausreichend sind. Das einzusetzende Einkommen ergibt sich aus den Bezügen
einer Erwerbstätigkeit, wie es der Ag. auch im Leistungszeitraum von Juli bis Dezember
2005 berücksichtigt hat. Darüber hinausgehende Mittel zur Bestreitung des
Lebensunterhalts stehen dem Ast. ersichtlich nicht zur Verfügung. Soweit er anlässlich
seiner Besuche bei seinem Neffen B2 verköstigt wird, handelt es sich nicht um
einzusetzendes Einkommen oder Vermögen. Auch aus dem Umstand, dass die
Wohnung des Ast. in der Tstr. 0 nur spärlich eingerichtet ist, kann nicht geschlossen
werden, dass er sich dort nicht tatsächlich aufhält. Der Ast. ist psychisch krank und hat
glaubhaft und nachvollziehbar dargelegt, unter welchen Umständen er lebt und dass er
sich auch unter diesen Bedingungen überwiegend in der eigenen Wohnung in der Tstr.
0 aufhält. Die bei dem Hausbesuch am 11.01.2006 durch den Ag. gewonnenen
Erkenntnisse mögen zwar nach hiesigen Vorstellungen von Wohn- und Esskultur sowie
Hygiene seltsam anmuten; sie rechtfertigen gleichwohl nicht die Einstellung
lebensnotwendiger Leistungen, gestützt auf Spekulationen und Vermutungen, wenn
diese – wie hier – durch plausible Erklärungen und eidesstattliche Versicherungen auch
Dritter entkräftet werden.
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Der Anordnungsgrund ergibt sich daraus, dass der Ast. seit über 2 Monaten nicht mehr
die zur Bestreitung des Lebensunterhalts notwendigen Leistungen erhält und für
inzwischen 3 Monate mit der angemessenen Miete in Rückstand geraten ist. Wenn er
auch die Abschläge an das Energieversorgungsunternehmen nicht mehr leisten kann,
drohen ihm in absehbarer Zeit eine Kündigung des Mietvertrages und eine Sperrung der
Strom- bzw. Gasversorgung.
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Allerdings kann der Ast. die begehrten Leistungen erst ab dem Eingang des
Rechtsschutzantrages bei Gericht (13.02.2006) beanspruchen. Für den davor – in der
Vergangenheit – liegenden Zeitraum liegt ein dringlicher Entscheidungsbedarf und eine
im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes zu beseitigende existenzielle Notlage nicht
vor. Mit der Begrenzung der Leistung bis zum 31.03.2006 wird dem Anspruch auf
Beseitigung einer gegenwärtigen Notlage ebenfalls in ausreichendem Umfang
Rechnung getragen. Da der Eilantrag des Ast. über diesen Zeitraum hinaus ging, war er
im entsprechendem Umfang abzulehnen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Da der Ast. für ca. 1 ½ Monate
Leistungen erhält, andererseits sein Antrag aber für weitere 1 ½ in der Vergangenheit
liegende Monate abgelehnt wird, ist es angemessen, dass der Ag. (nur) die Hälfte der
außergerichtlichen Kosten des Ast. trägt.
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