Urteil des SozG Aachen vom 05.03.2007

SozG Aachen: sexueller missbrauch, speicher, vernehmung von zeugen, versorgung, radio, persönlichkeitsstörung, luxemburg, angriff, kausalität, einwirkung

Sozialgericht Aachen, S 22 VG 20/05
Datum:
05.03.2007
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
22. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 22 VG 20/05
Sachgebiet:
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu
erstatten.
Tatbestand:
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Streitig ist die Gewährung von Versorgungsleistungen nach dem Gesetz über die
Entschädigung von Opfern von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG).
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Die am 00.00.0000 geborene Klägerin kam wenige Tage nach ihrer Geburt in das
Kinderheim F. und lebte dort bis 0000. Träger des Kinderheimes war zu der Zeit die
Ordensgemeinschaft der B. Ab dem 5. Lebensjahr war die Klägerin in der Gruppe T., die
von Schwester M. und Frau I. betreut wurde.
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Am 00.00.0000 beantragte die Klägerin eine Beschädigtenversorgung nach dem OEG
beim Versorgungsamt B ... Ihren Antrag begründete sie mit "u.a. Missbrauch im F.
Kinderheim 1958 - 1963 auf dem Speicher Gruppe T.". Bei ihr bestehe eine sexuelle
Deviation, gestörte Sexualpräverenz durch Kindheitstraumata und körperliche
Gebrechen. Als Tatverursacher benannte sie "Frau I., ( ...), Schwester M. ( ...) und
andere". Dem Antrag lag unter anderem ein Brief der Klägerin vom 00.00.0000 bei. Dort
heißt es: "Ich habe alles von 0000 - 0000 an Misshandlungen schwerster Art des F.
Kinderheims im Kopf habe, Täter und Opfer. Ich war der Liebling der Oberin und durfte
nicht geschlagen werden, mußte aber die Mißhandlungen der Kinder immer mit
ansehen." In einem "Bericht über die mißhandelten Kinder im F. Kinderheim T." schreibt
die Klägerin: "Im Kindergarten wurde kein Kind mißbraucht bzw. mißhandelt, das weiß
ich, ich kann mich als Baby zurückerinnern! Schwester B. und Schwester C. waren sehr
lieb. ( ...) Ich habe dem Orden schon lange verziehen, dennoch kann ich nach 30 Jahren
nicht mehr schweigen, wo ich vom Heim heute als ehrenamtliche Richterin und
Geschäftsfrau eingeladen werde, damals mißbraucht wurde, knapp überlebte, aber
selber nie angerührt wurde, nur weil ich der Liebling der Oberin war. ( ...) Einzige
Mißhandlung meinerseits waren, außer dem den Orden nicht anzulastenden Mißbrauch,
die brutalen Versuche ab dem 5. Lebensjahr meine weibliche Seele zu verdrängen
durch zwangsweises Anziehen von gehaßter Jungenkleidung und Versuch "männlicher
Erziehung"." In ihrem Schreiben vom 00.00.0000 an die Staatsanwaltschaft B. verwies
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die Klägerin darauf, dass Kinder im F. Kinderheim in der Zeit von 1960 bis 1971 brutal
misshandelt worden seien. Sie sei bei diesen Misshandlungen oft zugegen gewesen
und sei in diesem Heim aufgewachsen.
Am 00.00.0000 teilte die Klägerin nach einem Telefonat mit einer Mitarbeiterin des
Versorgungsamts B. folgenden Sachverhalt zur besseren Verständlichkeit mit: "Ich bin
von Frau I. auf dem Speicher von 0000 - 0000 sexuell mißbraucht worden "ich wurde auf
der Glasplatte hin und her geschoben", auch sah ich Blut (durch Züchtigen) und Frau I.
"stöhnte". Jahrelang habe ich das mitmachen müssen, bis ich wie berichtet sexuell an
Glasplatten, Bildern, Böden (glatten Flächen) etc empfand ( ...). Frau I. hatte mich auch
als ich in Pubertät war in ihr Zimmer auf Glasplatten gelegt. ( ...) Weiteres Verbrechen an
mir war, daß ich als Mädchen aufwuchs, ab dem 6. Lebensjahr wieder "Junge" war,
obwohl genetisch als Junge geboren mit Namen L., entstand der Haß ab dem 7
Lebensjahr auf das "Jungesein"."
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Mit Schreiben vom 00.00.0000 wies das Versorgungsamt B. die Klägerin darauf hin,
dass die Tatsache, dass sie die Misshandlungen habe mitansehen müssen und sich
Misshandlungen anderer Kinder auf einem Speicher zugetragen haben, nicht als gegen
die Klägerin gerichteter tätlicher Angriff zu werten sein. Zu ihrem Vorbringen vom
00.00.0000 sei eine detaillierte Beschreibung erforderlich. Darauf erwiderte die
Klägerin: "Kinder auf Glasplatten "hin und her zu schieben" ist Missbrauch, denn meine
Sexualität wurde dadurch geprägt (Glasfetischismus)( ...) Übrigens gibt es eine
Fotodukumentation des Speichers aus dem Jahr 0000 (00.0.). Der Speicher war so, wie
ich ihn zuletzt vor 0000 beschrieben habe (niedrig und staubig und dreckig). ( ...) Warum
sonst sollten Kinder auf diesen Speicher 1 m über der Tür des Schwesternzimmers und
wo Erwachsene nicht mal gerade stehen konnten, Kinder sich in diesem dreckigen
Verließ aufhalten, wenn nicht zur Misshandlung und Missbrauch ! ( ...) Mein Leben
wurde durch auch der Züchtigungen von Sr. C. als Kleinkind geschädigt. Diese Sr.
schlug mich so oft, weil ich den Vanillepudding immer erbrach, das Erbrochene essen
musste und fast erstickte!" (Schreiben vom 00.00.0000 )
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Im Rahmen des Verfahrens auf Feststellung eines Grades der Behinderung stellte das
Versorgungsamt B. bei der Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 70 fest
(seelische Beeinträchtigung mit Auswirkungen Einzel-GdB: 40; hormonelle
Beeinträchtigung Einzel-GdB: 30; Sehbehinderung Einzel-GdB: 30;
Funktionsbehinderung der Wirbelsäule Einzel-GdB: 10). (Bescheid vom 00.00.0000)
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Im Rahmen einer persönlichen Vorsprache gab die Klägerin gegenüber dem
Versorgungsamt B. am 00.00.0000 an, dass bei ihr ein ständiger Missbrauch durch das
Erziehungspersonal stattgefunden habe. Sie seien ständig gezwungen worden,
Mahlzeiten gegen ihren Willen zu sich zu nehmen. Wenn sie sich geweigert habe, eine
bestimmte Mahlzeit zu essen, sei sie unter Schlägen gezwungen worden, die Mahlzeit
zu sich zu nehmen. Wenn sie dann aufgrund der Übelkeit das Essen erbrochen habe,
habe man ihr unter Schlägen bzw. Ohrfeigen das Erbrochene wieder in den Mund
gelöffelt und sie gezwungen, das alles herunterzuschlucken. Bei einem Vorfall sei sie
von Schwester C. so heftig gegen einen Heizkörper geworfen, dass sie wohl eine
Schädelfraktur mit Platzwunde erlitten habe. Sie könne sich noch genau daran erinnern,
dass sie in einer Blutlache im Spielzimmer des Kindergartens unmittelbar neben dem
Heizkörper wach geworden sei. Den Vorfall bzw. die Folgen könne Herr L. bezeugen.
Der Vorfall mit der Heizung habe kurz vor Nikolaus im Jahr 0000 oder 0000
stattgefunden. Zu diesem Zeitpunkt habe sie noch nicht gehen können und sei mit
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einem vierräderigen Maikäfer im Heim herumgefahren. In der Zeit von 0000 bis 0000
seien auf einem besonderen Speicher des Kinderheims die Kinder und auch sie
missbraucht worden. Zum damaligen Zeitpunkt vor dem Umbau habe ein Erwachsener
auf dem Speicher nicht stehen können. Die Zugangstür des Speichers liege ca. einen
Meter über der Tür des Schwesternzimmers, so dass man hier ohne Leiter keinen
Zugang habe. Auf Nachfrage erklärte die Klägerin zu Art und Weise der
Misshandlungen, dass auf dem Speicher eine Glasplatte gelegen habe. Auf diese
Glasplatte habe sie sich nackt legen müssen. Sie sei auf der Glasplatte entweder von
Schwester M. oder von Frau I. oder von anderen Pflegekräften hin- und her- bewegt
worden. Sie sei in die Achselhöhlen gefasst worden. Ob man ihr Geschlechtsteil
angefasst habe, könne sie heute nicht mehr sagen. Sie sei einfach zu schockiert
gewesen. Frau I. habe sie mit dem Vorwand, an einem Tonbandgerät Aufnahmen von
Radio Luxemburg machen zu können, in ihr Zimmer gelockt. Auch dann habe sie sie
gezwungen, sich nackt auf eine Glasplatte zu legen, so dass sie dann wieder an ihr
habe herumfummeln können. Herr T. könne zumindest das Verbringen in den Speicher
bestätigen. Diese Angaben korrigierte die Klägerin am 00.00.0000 dahingehend, dass
nur Frau I. sie missbraucht habe. Schwester M. habe die Kinder qualvoll und brutal
gezüchtigt. Die von der Klägerin als Zeugin für den Vorfall mit dem Heizkörper
angegebene Frau E. gab gegenüber dem Versorgungsamt B. an, auf der Säuglings- und
Krabbelstation gearbeitet zu haben. Ein Kind L. (Geburtsname der Klägerin) habe sie
nicht betreut.
Im Rahmen der Begutachtung durch Herrn Dr. C. am 00.00.0000 in einem Rechtsstreit
vor dem Landgericht berichtete die Klägerin im Rahmen der Krankheitsvorgeschichte,
als Kind im Heim in F. von Ordensschwestern häufig körperlich misshandelt worden zu
sein. Sie gab auf Befragen an, kein Schädelhirntrauma durchgemacht zu haben. Sie sei
im Kinderheim von 0000 bis 0000 von einer weiblichen Person auf dem Speicher des
Kinderheims regelmäßig sexuell missbraucht worden. Sie sei nackt ausgezogen
worden, auf eine vorgewärmte Glasplatte gelegt worden. Die Person habe sie
abgeküsst am ganzen Körper und sie hin- und hergeschoben. An Gewaltausübung
habe sie keine Erinnerung. Im Jahr 1963 hätten die Misshandlungen schlagartig
aufgehört.
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Das Versorgungsamt B. führte daraufhin umfangreiche Vernehmungen durch (u.a. L.,
L1., L.2, N, N1) und holte schriftliche Stellungnahmen ein (z.B. von Q). Des weiteren
veranlasste es eine versorgungsärztliche Untersuchung der Klägerin durch Herrn Dr. T.
(Nervenarzt - Kinderpsychiater). Nach der Zusammenfassung im Gutachten vom
00.00.0000 gab die Klägerin im Rahmen der Untersuchung an, dass es ab dem dritten
Lebensjahr auf dem Speicher des Kinderheims zu sexuellen Missbrauchshandlungen
durch eine Erzieherin gekommen sei, wobei sie auf eine Glasplatte nackt gelegt worden
sei und man sie hin- und hergeschoben habe. Bis zum achten Lebensjahr sei es zu
diesen Handlungen gekommen. Des Weiteren erklärte sie, dass die Misshandlungen
bis 1963 besonders schlimm gewesen seien und danach insofern nachgelassen hätten,
als sie der Liebling der Oberin gewesen sei. Herr Dr. T. führte in seinen
Untersuchungsbefunden Flash-Backs mit ausgeprägtem Traumverhalten auf. Er kommt
in seinem Gutachten zu folgenden Ergebnis: "Setzt man voraus, dass die in der Akte
dargelegten körperlichen Misshandlungen und sexuellen Missbrauchshandlungen
sowie die gezwungene Änderung der Geschlechteridentität im Kleinkinderalter
tatsächlich stattgefunden haben, wie dies auch vom Antragsteller eindrucksvoll durch
die Exploration und die vorgelegten Unterlagen unterstrichen wurden", sei von einer
Persönlichkeitsstörung mit Störung der Geschlechtsidentität und Störung der
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Sexualpräferenz (Fetischismus) (Minderung der Erwerbsfähigkeit -MdE- 60) als
Schädigungsfolge sowie als Nichtschädigungsfolgen von einer Sehstörung,
Wirbelsäulenfunktionsstörung, hormonelle Beeinträchtigung (MdE 30) und daraus
folgend einer Gesamt-MdE von 70 auszugehen. Bei zusätzlichem Klärungsbedarf
empfahl er eine Untersuchung durch einen Spezialisten für Sexualmedizin und
entsprechender Erfahrung im Fachgebiet Tiefenpsychologie.
Das Versorgungsamt B. holte daraufhin ein Gutachten von Herrn Prof. L., Klinik und
Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, L. ein. Im Gutachtenauftrag werden als
zugrunde zu legenden Umstände u.a. genannt: Misshandlungen im Kinderheim. In dem
Gutachten sollten insbesondere die einzelnen Schädigungsfolgen (Kausalität) beurteilt
werden. Im Rahmen der Begutachtung berichtete die Klägerin, dass die Atmosphäre im
Kindergarten "brutal" gewesen sei. Täglich seien Kinder geschlagen worden. Sie habe
dies ständig mitansehen müssen und nicht verstanden warum. Ab und zu sei sie selber
auch geschlagen worden. Sie habe dann nach den Schlägen weiter essen müssen,
manchmal bis sie erbrochen habe. Auch das Erbrochene habe sie essen müssen,
anderenfalls seien die Schläge die Folge gewesen. Sie habe bis zum achten
Lebensjahr Mädchenkleider tragen müssen, danach habe sie wieder Jungenkleidung im
Kinderheim bekommen. Im Alter von drei Jahren sei sie wohl das erste Mal sexuell
missbraucht worden. Sie sei von einer Schwester auf den Speicher gebracht worden.
Dort habe man ihr versichert, dass nichts passiere, wenn sie nicht schreie. Wenn sie
dies täte, bekäme sie Prügel. Dann sei sie auf eine Glasplatte gelegt worden. Diese sei
zuvor angewärmt worden, darunter habe sich eine Art Campingkocher befunden. Es sei
tatsächlich angenehm warm gewesen. Man habe sie auf dieser Platte hin- und
hergeschoben. Es sei eine Atmosphäre von Erregung zu spüren gewesen. Sie sei
abgeküsst worden. Dabei habe die Schwester jedesmal gestöhnt. Dieser Akt habe ca.
30 Minuten gedauert und habe zweimal pro Woche stattgefunden vom dritten bis zum
elften Lebensjahr. Ab dem siebten Lebensjahr sei dies nicht mehr im Speicher erfolgt,
sondern in einem Zimmer. Sie habe zur Belohnung für gute Noten Radio hören dürfen.
Sobald das Radio angeschaltet gewesen sei, hat man das Zimmer abgeschlossen und
sie ausgezogen. Dann sei sie stets gefragt worden "spürst du das". Sie sei nackt
ausgezogen worden, habe verwelkte Brüste liebkosen müssen, bis zum Orgasmus der
betreffenden Schwester. Zu einem späteren Zeitpunkt sei sie Liebling der Oberin
geworden. Sie sei dann weniger häufig geschlagen worden, habe allerdings ständig
das Schlagen der anderen Kinder miterleben müssen. Herr Prof. L. stellte in seinem
Gutachten vom 00.00.0000 unter Berücksichtigung eines testpsychologischen
Zusatzgutachtens von Herrn Prof. T. vom 00.00.0000 folgende Diagnosen: 1.
Kombinierte Persönlichkeitsstörung mit emotional-instabilen impulsiven und
narzißtischen Zügen 2. Transsexualismus 3. Fetischismus Die Höhe der Gesamt-MdE
auf psychiatrischen Gebiet bewertete Herr Prof. L. mit 60. Nach dem Gutachten sei der
Fetischismus bei der Klägerin als vollständig schädigungsbedingt anzusehen; die
Persönlichkeitsstörung und der Transsexualismus seien in diesem Fall zumindest in
hohem Maße hauptsächlich schädigungsbedingt.
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Mit Bescheid vom 00.00.0000 stellte das Versorgungsamt B. fest, dass die Klägerin
keinen Anspruch auf Versorgung nach dem OEG habe. Eine Gewalttat im Sinne des
OEG sei insoweit nachgewiesen, als die Klägerin einmal gezwungen worden sei,
Vanillepudding zu essen, obwohl sie dabei erbrochen habe und unter Androhung von
Schlägen den Teller einschließlich des Erbrochenen habe essen müssen. Auch
einmalige Schläge mit einem Kleiderbügel beim Spielen im Sandkasten seien belegt.
Insoweit lägen bestätigende Zeugenaussagen vor. Diese beiden Gewalttaten seien
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jedoch für sich nicht geeignet, die Gesundheitsstörungen, für die die Klägerin
Versorgung begehre, zu verursachen. Der von ihr geschilderte Wurf gegen einen
Heizkörper habe von keinem Zeugen bestätigt werden können. Der Vortrag der
Klägerin, der Vorfall habe im Jahre 1961 und 1962 stattgefunden und zu diesem
Zeitpunkt habe sie noch nicht gehen können und sei mit einem Maikäfer im Heim
herumgefahren, sei nicht glaubhaft, insbesondere, dass sie zu diesem Zeitpunkt noch
nicht habe gehen können, da sie fünf bzw. sechs Jahre alt gewesen sei. Diese Angaben
könnten daher nach § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der
Kriegsopferversorgung (VfG-KOV) der Entscheidung nicht zugrunde gelegt werden. Der
Vortrag, dass sie ständig geschlagen worden sei, sei durch Zeugenaussagen nicht
belegt. Die eigenen Angaben der Klägerin hierzu seien widersprüchlich. Der von der
Klägerin vorgetragene sexuelle Missbrauch habe von keinem der befragten ehemaligen
Heimbewohner bestätigt werden können. Die eigenen Angaben der Klägerin
erschienen nicht glaubhaft. Sie habe die gegenüber Prof. L. gemachten konkreten
Missbrauchsschilderungen nicht von Beginn des Verfahrens an eingebracht. Die
Aussage habe sich erst im Laufe des Verfahrens gebildet. Die Angabe, dass sie bis zum
sechsten Lebensjahr als Mädchen erzogen worden sei, obwohl sie als Junge geboren
wurde, und danach als Junge erzogen worden sei, stelle keine tätliche Gewalthandlung
dar und begründe kein entschädigungspflichtiges Verhalten. Es handele sich allenfalls
um ein erzieherisches Verhalten, dessen Einzelheiten zudem weder bekannt noch
erwiesen seien. Da schon dem Grunde nach kein Anspruch auf Versorgung bestehe,
habe es keiner Prüfung der weiteren Voraussetzungen des § 10 a Abs. 1 Satz 1 OEG
bedurft.
Dagegen legte die Klägerin am 00.00.0000 Widerspruch ein. Nach dem Gutachten von
Herrn Prof. L. und Herrn Prof. T. seien die bestehenden psychischen Erkrankung auf die
Erfahrungen im Kinderheim zurückzuführen. Mit Widerspruchsbescheid vom 15.06.2005
verwies das beklagte Land den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Gutachten
von Prof. T. und Prof. L. gingen von falschen Voraussetzungen aus. Die von der
Klägerin gemachten Angaben, soweit sie die übrigen geltend gemachten schädigenden
Ereignisse betreffen, seien nicht so eindeutig, dass sie der Entscheidung zugrunde
gelegt werden könnten. Der Einholung der Gutachten von Prof. Dr. L. und Prof. Dr. T.
hätte es nicht bedurft, da bereits die grundsätzlichen Voraussetzungen zur Gewährung
von Versorgung nach dem OEG nicht erfüllt seien.
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Mit der am 00.00.0000 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Ziel weiter. Nach der
durchgeführten Beweisaufnahme trägt die Klägerin im Wesentlichen vor, dass ihr
Vortrag hinsichtlich der Gewaltanwendung durch die Zeugenaussagen bestätigt werde.
Soweit einige Zeugen diese Gewaltanwendung negieren, müsse dies so gewertet
werden, dass eine konkrete Erinnerung, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr
vorliege. Als Gegenbeweis für die Unrichtigkeit ihres Vorbringens seien diese Aussagen
nicht geeignet. Hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs gebe es zwar keine Zeugen. Die
Existenz von Speicherraum und Glasplatte würde nicht in Abrede gestellt. Der Zeuge T.
könne zumindest von der Existenz des Speicherraumes und der dort vorgefundenen
Glasplatte berichten. Dies decke sich mit den Ausführungen der Klägerin in ihrer
persönlichen Anhörung. Es seien keine Anhaltspunkte ersichtlich, die die Ausführungen
der Klägerin oder der Zeugen als wenig glaubwürdig erscheinen lassen könnten. Auch
ihre Erziehung als Mädchen erfülle den Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. Dies
dürfte zumindest bis zur Einschulung der Fall gewesen sein. Teilweise sei dies durch
Zeugen bestätigt worden, die Lichtbilder dazu seien vorgelegt worden. Welche
Konsequenzen dies bei der Klägerin im Hinblick auf ihre sexuelle Selbstbestimmung
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gehabt habe, sei umfassend dargelegt. Auch die tägliche Gewalt und Prügel seien unter
Beweis gestellt worden. Für die Erfüllung des Tatbestandes mache es keinen
Unterschied, ob die Klägerin selbst von der Prügel betroffen gewesen sei oder nicht.
Selbst wenn sie es nicht gewesen wäre, seien die Zustände ausreichend, um auf Dauer
eine gesundheitliche Schädigung hervorzurufen. Dies sei bei ihr der Fall. Sie habe
jahrelang in der permanenten Angst vor Schlägen und Repressalien gelebt. Von dieser
Angst sei ihr gesamte Verhalten bestimmt. Zum vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen
Angriff gehörten nicht nur die unmittelbare körperliche Einwirkung, sondern auch ein
grober Pflichtverstoß und ein grobes Fehlverhalten der sorgeberechtigten und
sorgeverpflichteten Personen im Kinderheim.
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt,
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das beklagte Land unter Aufhebung des Bescheides vom 00.00.0000 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 00.00.0000 zu verurteilen, der Klägerin Versorgung nach
dem Opferentschädigungsgesetz nach Rechtsauffassung des Gerichts zu gewähren.
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Der Vertreter des Beklagten Landes beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung verweist die Beklagte ergänzend darauf, dass der Vortrag der Klägerin
auch auf Erinnerungsfehlern beruhen könne.
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Auf die Anfrage des Gerichts bei der P. zur Heimorganisation (Gruppengröße; Betreuer;
Gruppenmitglieder etc.) hat diese mitgeteilt, dass sie über keinerlei Unterlagen über die
Zeit des Aufenthalts von Frau T. verfüge. Seit 0000 sei die L. T. Träger des
Kinderheimes. Die Anfrage bei der Kirchengemeinde hat ergeben, dass der Grundriss
des damaligen Gebäudes noch vorgelegt werden konnte. Weitere Angaben waren der
Kirchengemeinde nicht möglich, da aufgrund eines Wasserschadens die Akten erst ab
0000 vorhanden seien.
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Das Gericht hat die Klägerin im Rahmen der Erörterung am 00.00.0000 und am
00.00.0000 sowie in der mündlichen Verhandlung am 00.00.0000 zum Sachverhalt
befragt. Insoweit wird auf die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.
21
Des weiteren ist Beweis erhoben worden durch Vernehmung von Zeugen. Die Zeugen
O., U., I., X., L., N. und T. konnten keine Angaben zu Vorfällen machen, die die Klägerin
betrafen. Der Zeuge L. konnte weder bestätigen, dass die Klägerin geschlagen wurde,
noch dass sie Erbrochenes essen musste. Der Zeuge H. sagte aus, dass er von Frau I.
sexuell missbraucht worden sei und er berichtete in einer schriftlichen Ergänzung seiner
Zeugenaussage, die er über die Klägerin dem Gericht vorlegte, dass die Klägerin im
Spielzimmer Tonbandaufnahmen zusammen mit I. gemacht habe. Der Zeuge L. erklärte,
gesehen zu haben, dass die Klägerin einmal mit einem Kleiderbügel von Schwester M.
verdroschen worden sei. Nach der Aussage des Zeugen S. habe die Klägerin genauso
wie alle anderen Schläge bekommen; er habe sich aber im wesentlichen auf sich selber
konzentriert und könne sich daran erinnern. Er selber sei von Frau I. sexuell missbraucht
worden.
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Hinsichtlich des weiteren Ergebnisses der Beweisaufnahme sowie des weiteren Sach-
und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen
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Verwaltungsakten des Beklagten und der Schwerbehindertenakte Bezug genommen.
Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die Klägerin ist durch den Bescheid vom
00.00.0000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 00.00.0000 nicht beschwert im
Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Dieser Bescheid ist rechtmäßig. Das
beklagte Land hat es zu Recht abgelehnt, der Klägerin Versorgung nach dem OEG zu
gewähren.
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Nach § 1 Abs.1 Satz 1 OEG erhält derjenige, der infolge eines vorsätzlichen,
rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch
dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der
gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender
Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Gemäß § 10 Satz 2
OEG i.V.m. § 10 a Abs. 1 OEG erhalten Personen, die in der Zeit vom 23. Mai 1949 bis
15. Mai 1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie (1.) allein
infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt sind und (2.) bedürftig sind und (3.) im
Geltungsbereich dieses Gesetzes ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
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Das Gericht konnte nicht feststellen, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen
rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden ist. Für die Feststellung, ob die Klägerin
Opfer einer Gewalttat geworden ist, kommt es nicht darauf an, welche Umstände im
Allgemeinen in dem Kinderheim in F. geherrscht haben. Entscheidend ist, ob im
Hinblick auf die Klägerin konkrete Handlungen festgestellt werden können.
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Die Klägerin hat im Laufe des Verfahrens fünf Komplexe vorgetragen, die sie als
Gewalttaten an sich ansieht:
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a) Prügel b) Erbrochenes essen müssen c) sexueller Missbrauch d) Mädchenkleidung
tragen müssen e) Gewalt gegen andere erleben.
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zu a) Prügel Dass die Klägerin im Kinderheim geschlagen und geprügelt wurde, konnte
das Gericht nicht feststellen. Die Klägerin hat im Laufe des Verfahrens einen Vorfall
geschildert, bei dem sie geschlagen worden sein soll, was dazu geführt habe, dass sie
in einer Blutlache gelegen habe. Die Angaben der Klägerin dazu waren nicht
überzeugend. Ihr Vortrag war in sich widersprüchlich. Sie gab unterschiedliche
Handlungen an (Schwester B. habe sie gegen den Heizkörper geworfen - 00.00.0000 -);
sie sei so auf den Kopf geschlagen worden, dass sie in einer Blutlache gelegen habe -
00.00.0000 -). Ihre Schilderung dazu war sehr karg. Im Rahmen der Befragung am
00.00.0000 wich sie sehr schnell vom eigentlichen Geschehen ab und schilderte
stattdessen z.B. in allen Einzelheiten den Stuhl, neben dem sie aufgewacht sei. Auch
stand dieser Vortrag, sie sei geschlagen worden, im Widerspruch zu ihrem Aussage, als
Liebling der Oberin habe sie nicht geschlagen werden dürfen sowie ihrer Einschätzung,
dass Schwester C. - die sie zunächst als Täterin angegeben hatte - sehr lieb gewesen
sei. Diese Einschätzung bekräftigte die Klägerin in der mündlichen Verhandlung am
00.00.0000. Darüber hinaus war auffällig, dass die Klägerin erst vorgetragen hatte,
selber geschlagen worden zu sein, nachdem das Versorgungsamt B. sie darauf
hingewiesen hatte, dass andernfalls (wenn keine eigene Gewalterfahrung bestehe) eine
Opferentschädigung nicht in Betracht komme. Letztlich hat die Klägerin in der
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mündlichen Verhandlung am 00.00.0000 eingeräumt, sich nur daran erinnern zu
können, in einer Blutlache gelegen zu haben; sie wisse aber nicht, wie es dazu
gekommen sei.
Auch die Aussage des Zeugen L. führt nicht dazu, dass sich das Gericht davon
überzeugen konnte, dass die Klägerin geschlagen wurde. Der Zeuge L. erklärte, er
erinnere sich daran, dass die Klägerin im Sandkasten gespielt habe. Sie habe ein
Röckchen angehabt. Auf Nachfrage, den Vorfall genau zu schildern, gab er an, dass die
Klägerin im Sandkasten gespielt habe. Sie sei von Schwester M. gerufen worden. Er
habe dann gesehen, wie Schwester M. die Klägerin mit einem Kleiderbügel
verdroschen habe. Der Aussage des Zeugen L. lassen sich keine Merkmale entnehmen,
die dafür sprechen, dass es sich bei der Schilderung um ein tatsächlich so erlebtes
Ereignis handelt. Die Aussage enthält keinerlei Details, keinen gefühlsmäßigen
Nachhall. Erst auf Nachfrage berichtet er von den Schlägen, obwohl er aufgefordert
worden war, in allen Einzelheiten Ereignisse zu schildern, die die Klägerin betreffen.
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zu b) Erbrochenes essen müssen Es ließ sich nicht feststellen, dass die Klägerin selber
von ihr Erbrochenes wieder essen musste. Der Zeuge L., der im Verwaltungsverfahren
schriftlich erklärt hatte, die Klägerin habe Erbrochenes essen müssen, sagte im
Klageverfahren als Zeuge aus, dass er nicht sagen könne, ob die Klägerin Erbrochenes
habe essen müssen. Die Angaben der Klägerin dazu sind nicht glaubhaft. Sie erklärte
erst am 00.00.0000 auf den Hinweis des Versorgungsamtes B., dass ohne eigene
Gewalterfahrung keine Opferentschädigung in Betracht komme, dass sie Erbrochenes
habe essen müssen. Als Täterin benannte sie Schwester C ... Dies wiederholte sie unter
dem 00.00.0000 und ergänzte, dass sie ständig unter Schlägen gezwungen worden sei,
Mahlzeiten zu essen. Im Klageverfahren erweiterte sie ihre Aussage am 00.00.0000
dahingehend, dass sie auch von Schwester M. gezwungen worden sei, Erbrochenes zu
essen. Auffällig war, dass die Klägerin ihre eigene Aussage um Details ergänzte, die
zuvor von anderen Zeugen ausgesagt worden waren. So tauchte ein Handfeger als
Gegenstand, mit dem geschlagen worden sei, in ihren Ausführungen erst auf, nachdem
zuvor der Zeuge X. berichtet hatte, dass beim Mittagessen eine Schwester mit dem
Handfeger neben ihm gesessen habe und eine gewisse Drohkulisse entstanden sei. Es
entstand der Eindruck, dass die Klägerin selber keine Details zu dieser Art von Vorfällen
aus eigenem Erleben berichten konnte und deshalb auf die Details zurückgriff, die von
anderen Zeugen genannt worden waren. Andere Gegebenheiten konnte die Klägerin
bis ins kleinste Detail schildern. Dazu, wie es war, Erbrochenes essen zu müssen,
schilderte die Klägerin keinerlei Einzelheiten. auch lies sich nicht feststellen, dass die
Schilderung dazu mit besonderen Emotionen für die Klägerin verbunden gewesen wäre.
Letztlich hat sich der Eindruck, dass die Klägerin hinsichtlich dieses Vorfalls kein
eigenes Erleben schildert, durch ihre Angaben in der mündlichen Verhandlung am
00.00.0000 bestätigt. Dort hat sie den Vortrag, dass sie Erbrochenes habe essen
müssen, nicht weiter aufrecht erhalten. Trotz der mehrfachen Aufforderung, in allen
Einzelheiten zu schildern, was ihr im Kindergarten geschehen sei, hat sie den Vorfall
nicht nochmals genannt. Darüber hinaus betonte sie, dass Schwester C., die sie
vormals der Tat bezichtigt hatte, sehr lieb gewesen sei.
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c) sexueller Missbrauch Auch dass die Klägerin sexuell missbraucht wurde, lies sich
nicht feststellen. Die Feststellung kann erfolgen, wenn der Vollbeweis für die Handlung
erbracht werden kann. Dafür muss das Gericht nach dem Gesamtergebnis des
Verfahrens die Gewissheit haben, dass ein bestimmter Sachverhalt wahr ist (vgl. § 128
Abs. 1 Satz 1 SGG). Darüber hinaus kann das Gericht die Feststellung auch treffen,
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wenn ein sexueller Missbrauch glaubhaft gemacht werden kann. Nach § 6 Abs. 3 OEG
i.V.m. § 15 VfG-KOV kann auf die Angaben des Antragstellers zu den Umständen der
Schädigung abgestellt werden, soweit diese glaubhaft erscheinen. Glaubhaft gemacht
ist diejenige Handlung, die unter mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden
Möglichkeiten relativ am Wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller
Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Es muss dieser Möglichkeit das
Übergewicht zukommen. Die bloße Möglichkeit der Handlung reicht nicht aus (vgl.
BSGE 45, 1, 9 ff.; BSG Beschluss vom 08.01.2002, B 9 V 23/01 B in Breithaupt 2001, S.
269). Die subjektive Überzeugung des Gerichts von der Wahrheit ist im Rahmen der
Glaubhaftmachung nicht erforderlich. Das Gericht muss aber das Überwiegen einer
Möglichkeit wie es gewesen sein kann, feststellen können. Die Glaubhaftmachung
erfordert es, dass der Antragsteller Angaben aus eigenem Wissen, jedenfalls überhaupt
Angaben machen kann (BSG, Urteil vom 28.06.2000, B 9 VG 3/99 R). Weitere
Beweiserleichterungen bestehen nicht. Allein der Umstand, dass die angegebenen
Angriffe eine sehr lange Zeit zurückliegen und der Nachweis der Tat deshalb schwierig
ist, führen zu keiner weiteren Beweiserleichterung.
Es gibt zwei ernstlich in Betracht zu ziehende Möglichkeiten: 1. Die Klägerin ist im
Kinderheim sexuell missbraucht worden. 2. Die Klägerin ist im Kinderheim nicht sexuell
missbraucht worden. Die Möglichkeit (1) kann nicht als ausgeschlossen angesehen
werden. Die von der Klägerin vorgetragenen Gewalttaten können die bei ihr
bestehenden Erkrankungen zur Folge haben (vgl. Gutachten Prof. L.). Zudem ist es
auch nach den Zeugenaussagen eine ernsthaft in Betracht zu ziehende Möglichkeit,
dass im Kinderheim eine Atmosphäre der Gewalt herrschte.
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Bei einer Gesamtwürdigung konnte das Gericht nicht feststellen, dass der Möglichkeit
(1) ein Übergewicht zukommt und diese Möglichkeit relativ am Wahrscheinlichsten ist.
Es gibt keine Zeugen, die den sexuellen Missbrauch an der Klägerin bestätigen können.
Die Angaben der Klägerin waren für das Gericht nicht ausreichend, um ein Überwiegen
der Möglichkeit (1) festzustellen. Aufgrund des Aussageverhaltens der Klägerin in der
mündlichen Verhandlung ließ sich nicht feststellen, ob die Klägerin bei dem sexuellen
Missbrauch von etwas selbst Erlebten berichtet.
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Die Klägerin hat zwar - im Gegensatz zu den Punkten a. und b. - den sexuellen
Missbrauch von Anfang an vorgetragen, zunächst aber nur als Schlagwort - sie sei
missbraucht worden -, ohne dass Details dazu genannt wurden. Erst nach der
Aufforderung des Versorgungsamtes machte die Klägerin nähere Angaben. Dabei
variierten ihre Angaben zum Zeitraum (zweites bis sechstes Lebensjahr; zweites bis
siebtes Lebensjahr; Beginn zweites Lebensjahr; drittes Lebensjahr; Ende siebtes
Lebensjahr; elftes Lebensjahr; Pubertät) ebenso wie zum Täterkreis. Als Täterin wurde
am 00.00.0000 Frau I. angegeben, aber auch Schwester M., Frau I. und andere
Pflegekräfte wurden von der Klägerin als Täterin benannt (00.00.0000). Insoweit
korrigierte sich die Klägerin allerdings am 00.00.0000 dahingehend, dass nur Frau I. sie
missbraucht habe. Eine detaillierte Schilderung lässt sich erst dem Gutachten von Dr. C.
vom 00.00.0000 und von Prof. L. vom 00.00.0000 entnehmen. Zuvor schilderte die
Klägerin gegenüber dem Versorgungsamt keine Details, sondern gab immer wieder an,
auf einer Glasplatte hin- und hergeschoben worden zu sein. Als Orte werden der
Speicher und das Zimmer von Frau I. benannt. Im Klageverfahren erklärte die Klägerin,
sie habe bei Frau I. im Zimmer Radio Luxemburg hören dürfen und da habe es
angefangen mit dem Missbrauch. Dies ist sowohl hinsichtlich des Beginns des
Missbrauchs als auch des ersten Ortes des Missbrauchs ein anderer Vortrag als zuvor.
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Erstmals in der mündlichen Verhandlung am 00.00.0000 trug die Klägerin vor, dass
Frau I. zu ihr bereits Kontakt in der Kindergartenzeit gehabt habe, weil sie Fotos von ihr
gemacht habe. Dieser Vortrag erfolgte, nachdem aufgrund des Sachvortrags deutlich
geworden war, dass der bisherige Vortrag der Klägerin zum zeitlichen Ablauf nicht
schlüssig ist. Die Klägerin hatte als Beginn des Missbrauchs das zweite bzw. das dritte
Lebensjahr angegeben. In dieser Zeit war sie noch nicht in der Gruppe der Kleinen
Jungen, die von Frau I. mitbetreut wurde. Darüber hinaus gab die Klägerin auch im
Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch Details an, die zuvor erstmals von
einem anderen Zeugen vorgetragen worden waren. So hatte der Zeuge H. in seiner
schriftlichen Ergänzung erklärt, die Klägerin habe abends im Spielzimmer gesessen und
mit einem Tonbandgerät und Mikrophon Musik aufgenommen. Dies habe er durch die
Glastür auf dem Weg zur Toilette gesehen. Nachdem in der mündlichen Verhandlung
dieser Umstand im Sachvortrag wiederholt worden war, berichtete die Klägerin auch,
dass sie im Spielzimmer Tonbandaufnahmen gemacht habe. Bis dahin hatte sie nur
vorgetragen, die Tonbandaufnahmen seien im Zimmer von Frau I. erstellt worden und
damit sei sie in das Zimmer von Frau I. gelockt worden. In der mündlichen Verhandlung
am 00.00.0000 musste die Klägerin mehrfach aufgefordert werden, in allen Einzelheiten
zu schildern, was ihr geschehen sei. Zunächst berichtete sie, sie sei von Frau I.
missbraucht worden. Der Missbrauch sei zunächst auf dem Speicher, später auch im
Zimmer erfolgt. Nach der nächsten Aufforderung erklärte die Klägerin, dass es den
Missbrauch von Frau I. und die Erziehung als Mädchen gegeben habe. Auf die dritte
Aufforderung hin, gab sie an, sie sei auf den Speicher hochgetragen worden, auf einer
Glasplatte hin- und hergeschoben worden. Später habe dies im Zimmer stattgefunden.
Sie sei mit dem Radio Luxemburg gelockt worden oder auch wenn das Tonband im
Spielzimmer gestanden habe. Sie sei liebkost worden. Auf ausdrückliche Nachfrage
erklärte sie, dass sie damit alle Einzelheiten zu den Vorfällen erzählt habe, an die sie
sich erinnern könne. Die Klägerin gab auf Nachfrage Einzelheiten an, bei denen nicht
klar geworden ist, ob sie sich an diese tatsächlich erinnert als etwas, das sie im
Kinderheim erlebt hat oder ob es sich um spätere Erlebnisse handelt. So schildert sie
auf die wiederholte Frage, was genau auf dem Speicher geschehen sei, wie sie sich
heute an Glasplatten befriedige. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Klägerin zu
Frau I. bis zu deren Tod eine sexuelle Beziehung hatte, die offenbar von dem
Glasfetischismus geprägt war. Des Weiteren äußerte die Klägerin selber Vermutungen
darüber, was auf dem Speicher geschehen sei. So erklärte sie, dass Frau I. sie liebkost
haben werde. Auch sprach sie von sich selbst in der dritten Person ("wenn das kleine
Kind geschoben wurde"). Auffällig ist auch das häufige Ausweichen auf konkrete
Fragen hin. Auf die Aufforderung, in allen Einzelheiten zu schildern, was auf dem
Speicher geschehen sei, schilderte die Klägerin zunächst in allen Einzelheiten den
Speicher; wie sie sich später an Schwester D. dazu gewandt habe; ging auf das Tragen
von Mädchenkleidung ein etc. Die Frage selber wurde nicht beantwortet. Auf die erneute
Nachfrage gab die Klägerin an, sie sei auf die Glasplatte gelegt und hin- und
hergeschoben worden. Dabei habe sie empfunden. Anschließend wich sie erneut auf
ein Detail aus, dass der Zeuge H. beschrieben hatte.
Einer Vernehmung des Zeugen T. bedurfte es nach den Ausführungen der Klägerin in
der mündlichen Verhandlung nicht mehr. Der Zeuge T. war nicht in der Gruppe der
Kleinen Jungen in der die Klägerin war, sondern in der Gruppe der Großen Jungen.
Nach den Angaben der Klägerin durften die Kinder nicht in die Räume anderer Gruppen
ohne einen Grund dafür zu haben. Dass der Zeuge gesehen hat, dass die Klägerin auf
dem Speicher war bzw. dorthin verbracht wurde, ist damit ausgeschlossen. Der Zeuge
T. gab im Verwaltungsverfahren schriftlich an, es habe einen Speicher über dem
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Zimmer der Oberin gegeben, vor dem er öfters mit anderen Kindern in der Gruppe
gestanden habe. Es seien Schreie und Stöhnen zu hören gewesen. Die Klägerin gab
als Ort mit dem Speicher über dem Schwesternzimmer im Gebäude der Gruppe der
Kleinen Jungen einen anderen Ort an.
Darüber hinaus entstand der Eindruck, dass die Klägerin eine Erklärung für ihre
Gesundheitsstörungen sucht und deshalb auch davon ausgeht, dass es den sexuellen
Missbrauch gegeben haben müsse. Hierzu verweist sie auch auf das Gutachten von
Prof. L ... Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass das Gutachten sich lediglich mit der
Frage der Kausalität zwischen Schädigung und Gesundheitsstörung befasst. Als
Schädigung werden die von der Klägerin gemachten Angaben entsprechend dem
Gutachterauftrag als zutreffend zugrunde gelegt. Der Sachverständige bejaht zwar in
unterschiedlichem Umfang eine Kausalität zwischen der Gewalterfahrung/Missbrauch
und den Gesundheitsstörungen. Daraus lässt sich aber nicht schließen, dass es ohne
die von der Klägerin geschilderten Ereignisse nicht zu diesen Gesundheitsstörungen
kommen könnte. Der Sachverständige führt selber aus, dass es z.B. für die kombinierte
Persönlichkeitsstörung weitere gravierende Einflussfaktoren gab (Heimunterbringung
praktisch von Geburt an, Fehlen des familiären Rahmens, vergleichsweise instabile
Bindungen zu einzelnen Erziehungspersonen). Auch hinsichtlich der Entstehung eines
Fetischismus können andere mögliche Ursachen nicht ausgeschlossen werden. Es gibt
aus wissenschaftlicher Sicht derzeit kein schlüssiges Erklärungskonzept für die
Entstehung von Störungen der Sexualpräferenz, zu denen der Fetischismus gehört (vgl.
Projektbeschreibung des Forschungsprojekts "Dissexualität und Paraphilien" des
Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin am Zentrum für Human- und
Gesundheitswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin;
www.sexualmedizin.charite.de/forschung/forschung dissex.php). Hinsichtlich der
Transsexualität verweist bereits Prof. L. darauf, dass es keine wissenschaftlichen
Grundlagen zur Entstehung der Transsexualität gibt und auch der angeborene
Hypogenitalismus als weiteres Motiv für die Änderung des Geschlechts als möglich
erscheint.
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d) Mädchenkleidung tragen müssen Das OEG ist nach seinem Wortlaut auf vorsätzliche
rechtswidrige tätliche Angriffe gegen Personen beschränkt. Als tätlicher Angriff in
diesem Sinn gilt jede in feindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines
anderen zielende Einwirkung ohne Rücksicht auf den Erfolg (BSG Urteil vom
04.02.1998 - B 9 VG 5/96 R m.w.N.). Die von der Klägerin geschilderten Ereignisse
(Mädchenkleidung tragen müssen; zeitweise als Mädchen erzogen werden) sind keine
körperlichen Angriffe gegen sie und fallen deshalb nicht in den Anwendungsbereich des
OEG. Es bedurfte somit keiner weiteren Ermittlungen, inwieweit die Angaben der
Klägerin dazu glaubhaft sind.
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e) Gewalt gegen andere mitansehen müssen. Opfer im Sinn des § 1 OEG können nicht
nur Personen sein, die selber Opfer eines tätlichen Angriffs werden. Auch Personen, die
nur mittelbar Opfer eines tätlichen Angriffs werden, sind von § 1 OEG erfasst (vgl. BSG,
Urteil vom 12.06.2003, B 9 VG 1/02 R). Voraussetzung dafür ist eine unmittelbare
Schädigung, d.h. ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem
Schädigungstatbestand und der schädigenden Einwirkung im Sinn einer engen
untrennbaren Verbindung beider Elemente (BSG aaO). Die Klägerin ist in diesem Sinn
kein mittelbares Opfer, da ihrem Vortrag zufolge die Gesundheitsstörungen nicht auf
konkrete Einzelhandlungen zurückzuführen sind, sondern sie sich auf Zustände beruft,
die auf Dauer eine gesundheitliche Schädigung hervorriefen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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