Urteil des SozG Aachen vom 17.05.2005

SozG Aachen: wohnung, versorgung, pflegebedürftigkeit, krankenversicherung, hausarzt, menschenwürde, erleichterung, herzinsuffizienz, telefon, heimpflege

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Sachgebiet:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Rechtskraft:
Sozialgericht Aachen, S 13 KN 39/04 P
17.05.2005
Sozialgericht Aachen
13. Kammer
Urteil
S 13 KN 39/04 P
Pflegeversicherung
rechtskräftig
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 04.08.2004 in
der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16.11.2004 verurteilt, die
Kosten für das am 22.07.2004 installierte Hausnotrufsystem zu
übernehmen. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt die
Beklagte. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Versorgung mit einem Hausrufnotsystem als
Pflegehilfsmittel.
Die am 00.00.1924 geborene Klägerin ist erheblich pflegebedürftig. Sie erhält von der
Beklagten Leistungen nach Pflegestufe I. Sie leidet an einem chronischen
Lendenwirbelsäulensyndrom, chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung, Entkräftung und
zeitweisem Schwindel. Sie lebt allein und wird morgens von einem Pflegedienst versorgt;
außerhalb des Hauses bewegt sie sich mithilfe eines Rollators.
Nach wiederholten schwindelbedingten Stürzen installierte die E B Betriebs-GmbH am
22.07.2004 bei der Klägerin ein Hausnotrufsystem und schloss über die Nutzung
desselben einen Vertrag mit ihr. Die einmalige Anschlussgebühr beträgt 10,23 EUR, die
monatliche Teilnahmegebühr 17,90 EUR.
Am 27.07.2004 beantragte die Klägerin die Übernahme der Kosten des
Hausnotrufsystems. In einer von der Beklagten eingeholten Stellungnahme ihres
Sozialmedizinischen Dienstes (SMD) kam der Internist L am 29.07.2004 zum Ergebnis,
dass die alleinlebende Klägerin den überwiegenden Teil des Tages sowie die gesamte
Nacht allein in ihrer Wohnung ist; sie sei in der Lage, sowohl ein handelsübliches Telefon
als auch ein Handy problemlos zu benutzen; jederzeit lebensbedrohliche Situationen seien
aufgrund der Krankheitsgeschichte nicht zu erwarten; jedoch bestehe im Rahmen der
gelegentlichen auftretenden Sturzereignisse durchaus auch einmal die Möglichkeit einer
daraus resultierenden lebensbedrohlichen Situation.
Durch Bescheid vom 04.08.2004 lehnte die Beklagte den Antrag auf Übernahme der
Kosten für ein Hausnotrufsystem ab mit der Begründung, dieses sei zur Erleichterung der
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Pflege, Linderung der Beschwerden oder Ermöglichung einer selbstständigen
Lebensführung nicht erforderlich.
Dagegen erhob die Klägerin am 13.08.2004 Widerspruch. Sie legte eine ärztliche
Bescheinigung ihres Hausarztes K vom 07.09.2004 vor. Dieser berichtete darin, es sei in
den vergangenen Jahren immer wieder zu plötzlichen Schwächeanfallen im Rahmen der
bei der Klägerin bestehenden Herzinsuffizienz und chronisch obstruktiven
Lungenerkrankung gekommen, die eine sofortige ärztliche Intervention erforderlich
gemacht hätten. Der Hausarzt vertrat die Auffassung, dass eine Notrufanlage aus
medizinischen Gründen erforderlich sei, damit die Klägerin auch weiterhin in ihrer
häuslichen Umgebung wohnen könne.
Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 16.11.2004 zurück.
Dagegen hat die Klägerin am 00.00.0000 Klage erhoben.
Das Gericht hat zur weiteren Aufklärung des medizinischen und pflegerischen
Sachverhalts einen Befundbericht von dem Hausarzt Kl eingeholt. Dieser hat mitgeteilt,
dass die Klägerin in den letzten zwei Jahren nicht mehr gestürzt sei; in den davorliegenden
Jahren sei es aber mehrfach im Jahr zu Stürzen gekommen, nach denen die Klägerin
vollständig hilflos gewesen sei; Grund der Stürze seien Kreislaufschwächen mit Schwindel,
Folgen seien multiple Prellungen und anhaltende Hilflosigkeit gewesen. Das
Hausnotrufsystem sei notwendig, weil aufgrund des Krankheitsbildes lebensbedrohliche
Situationen zu erwarten seien.
Die Klägerin trägt vor, es treffe zwar zu, dass sie über einen Festnetzanschluss und
zusätzlich über ein Handy verfüge; sie sei jedoch in der Vergangenheit mehrfach ohne
vorherige Ankündigung in ihrer Wohnung gestürzt und habe dann infolge ihrer
Benommenheit weder den Festnetzanschluss noch das Handy erreichen können. Die
Tatsache, dass sie in den letzten zwei Jahren nicht mehr gestürzt sei, ändere nichts an der
Notwendigkeit des Hausrufnotsystems. Sie habe sich als Lehre aus den Stürzen in der
Vergangenheit auf die Situation besser eingestellt, steige morgens nicht mehr spontan aus
dem Bett und bewege sich in der Wohnung möglichst kontrolliert und vorsichtig, um
Stürzen vorzubeugen. Trotz dieses vorsichtigen Verhaltens könne es aufgrund des bei ihr
vorliegenden Krankheitsbildes unvorhergesehen zu einem folgenschweren Sturz kommen.
Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 04.08.2004 in
der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16.11.2004 zu verurteilen, die Kosten für
das am 22.07.2004 installierte Hausnotrufsystem zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie ist der Auffassung, dass Notrufsysteme nur für allein lebende oder über weite Teile des
Tages allein lebende Pflegebedürftige in Frage kommen, wenn für sie lebensbedrohliche
Situationen zu erwarten sind und sie mit handelsüblichen Telefonen (ggf. auch schnurlosen
Telefonen) keinen Hilferuf absetzen können. Allein die Befürchtung, dass es irgendwann
zu einer Notsituation kommen könnte, reiche insoweit nicht aus. Darüber hinaus dürfe sich
die Notwendigkeit einer eventuellen Benutzung ausschließlich aus dem Hilfebedarf
ableiten, der zur Anerkennung der Pflegebedürftigkeit geführt habe. Da die Klägerin in der
Lage sei, ein handelsübliches Telefon zu bedienen und bei ihr nach Feststellung des SMD
aufgrund der Krankheitsgeschichte derzeit lebensbedrohliche Situationen nicht zu erwarten
seien, bestehe kein Anspruch auf Versorgung mit einem Hausnotrufsystem.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte der
Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug
genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2
Sozialgerichtsgesetz (SGG), da sie rechtswidrig sind. Die Klägerin hat Anspruch auf
Versorgung mit einem Hausnotrufsystem als Pflegehilfsmittel zu Lasten der Beklagten.
Pflegebedürftige haben Anspruch auf Versorgung mit Pflegehilfsmitteln, die zur
Erleichterung der Pflege oder zur Linderung der Beschwerden des Pflegebedürftigen
beitragen oder ihm eine selbstständigere Lebensführung ermöglichen, soweit die Hilfsmittel
nicht wegen Krankheit oder Behinderung der Krankenversicherung oder anderen
zuständigen Leistungsträgern zu leisten sind (§ 40 Abs. 1 S. 1 Elftes Buch
Sozialgesetzbuch ​ SGB XI).
Die Pflegebedürftigkeit der Klägerin ist gegeben; die Beklagte gewährt ihr Leistungen
wegen erheblicher Pflegebedürftigkeit nach Pflegestufe I. Bei einer Hausnotrufanlage
handelt es sich um ein technisches Pflegehilfsmittel im Sinne des § 40 Abs. 1 S. 1 SGB XI
und nicht nur um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, der vom
Hilfsmittelbegriff nicht umfasst ist. Die Zuständigkeit eines anderen Leistungsträgers ist
nicht gegeben; insbesondere ist nicht die Krankenversicherung nach §§ 23 Abs. 1, 27 Abs.
1, 33 SGB V leistungspflichtig, da die dort genannten Voraussetzungen zur Versorgung mit
einem Hilfsmittel zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht erfüllt sind.
Die Klägerin kann die Versorgung mit einem Hausnotrufsystem zu Lasten der Pflegekasse
beanspruchen, weil dieses Pflegehilfsmittel ihr eine selbstständigere Lebensführung
ermöglicht. Grundanliegen des SGB VI ist es, dem Pflegebedürftigen zu ermöglichen, in
seinem häuslichen Umfeld zu verbleiben, solange er dies wünscht und eine sachgerechte
Pflege dort durchführbar ist. Der Einsatz eines Hausnotrufsystems kann für ein Verbleiben
im häuslichen Bereich vor allem bei solchen Pflegebedürftigen von ausschlaggebender
Bedeutung sein, die nicht über eine ständig anwesende Pflegeperson verfügen, sondern
ihre Pflege durch externe Pflegepersonen bzw. Pflegesachleistungen sicherstellen. Der
Pflegebedürftige soll nach der Intention des Gesetzgebers zur Vermeidung von Heimpflege
grundsätzlich in seiner Wohnung verbleiben können und nicht in irgendeiner Wohnung, die
seinem Pflegebedürfnissen entspricht (BSG, Urteile vom 03.11.1999 ​ B 3 P 3/99 R ​ und
vom 11.04.2002 ​ B 3 P 10/01 R). Hiervon ausgehend ist die Notwendigkeit einer
Versorgung mit einem Hausnotrufsystem im Fall der Klägerin gegeben. Nach den
Feststellungen des SMD vom 29.07.2004, die sich u.a. auf den Inhalt des Pflegegutachtens
vom 13.08.2002 stützen, und dem Bericht des Hausarztes K vom 04.03.2005 leidet die
Klägerin u.a. an einem chronischen LWS-Syndrom, einer chronisch obstruktiven
Lungenerkrankung, Kreislaufschwächen bei fortgeschrittener Herzinsuffizienz und
Schwindel. Sie ist deshalb in der Vergangenheit mehrfach in ihrer Wohnung gestürzt;
Folgen waren zahlreiche Prellungen und vollständige Hilfslosigkeit. Aufgrund dieses
Krankheitsbildes sind insbesondere im Rahmen eines Sturzes lebensbedrohliche
Situationen (laut SMD) möglich und (laut Hausarzt) zu erwarten. Dem steht nicht entgegen,
dass die Klägerin über einen Festnetzanschluss und ein Handy verfügt. Die unstreitige
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Fähigkeit der Klägerin, diese Geräte unter "normalen" Umständen nutzen zu können, ist
nicht auf eine häusliche Notfallsituation übertragbar. Zum Einen ist nicht sicher, dass bei
einem Sturz der Klägerin in ihrer Wohnung das Festnetztelefon oder das Handy in
erreichbarer Nähe ist; zum Anderen hat die Klägerin glaubhaft und überzeugend dargelegt,
dass sie infolge der bei einem Sturz eintretenden Benommenheit nicht in der Lage wäre,
entsprechend einprogrammierte Notrufnummern auf dem Festnetzgerät bzw. dem Handy zu
wählen. Dies wird durch die Angaben des Hausarztes K im Befundbericht vom 04.03.2005
bestätigt, wonach die Klägerin bei den Sturzereignissen in der Vergangenheit vollständig
hilflos war. Unter diesen Voraussetzungen kann nur ein Notrufsystem Abhilfe schaffen.
Dem Anspruch der Klägerin steht auch nicht entgegen, dass in den letzten zwei Jahren
keine Stürze mehr erfolgt sind. Wenn die Klägerin aus den früheren Stürzen Konsequenzen
gezogen hat und sich höchst vorsichtig und situationsangepasst in ihrer Wohnung bewegt,
ändert dies nichts an ihrem Krankheitsbild, das nach wie vor zu Schwächeanfällen und
Schwindelattacken führt, sodass auch bei äußerster Vorsicht letztlich ein Sturz nicht
auszuschließen ist.
Die Auffassung der Beklagten, Hausnotrufgeräte kämen nur bei (über weite Teile des
Tages) allein lebenden Pflegebedürftigen in Betracht, die mit handelsüblichen Telefonen
keinen Hilferuf absetzen könnten und bei denen aufgrund ihrer Krankheitsgeschichte
jederzeit lebensbedrohliche Situationen zu erwarten seien, findet im Gesetz keine Stütze.
Die Beklagte orientiert sich offensichtlich an einer ähnlichen Formulierung in dem nach §
78 Abs. 2 SGB XI erstellen Pflegehilfsmittelverzeichnis. Das Pflegehilfsmittelverzeichnis
gibt Anhaltspunkte für die Gewährung von Pflegehilfsmitteln, ist jedoch für die
Pflegekassen und die Gerichte nicht verbindlich (BSG, Urteil vom 11.04.2002 ​ B 3 P 10/01
R = SozR 3-3300 § 40 Nr. 9). Die Notwendigkeit eines Hausnotrufsystems kann sich nicht
nur aus der konkreten Gefahr unmittelbar lebensbedrohender Umstände, sondern auch aus
der Möglichkeit einer lebensbedrohlichen Situation nach einem Sturz oder auch aus
anderen Notfallsituationen ergeben, die z.B. aus Gründen der Menschenwürde einer
sofortigen Abhilfe bedürfen (Hess.LSG, Urteil vom 18.12.2003 ​ L 8 KN 502/02 P). Ein
schwindelbedingter Sturz muss nicht zwingend zu einer lebensbedrohlichen Situation
führen. Da aber die Art und Weise eines Sturzes nicht vorhersehbar ist, die Klägerin also
auch unglücklich stürzen, sich ​ wie in der Vergangenheit ​ verletzen und nicht selbst helfen
kann, ist es ein Gebot der Menschenwürde, Vorsorge zu treffen, dass die dann bestehende
Hilfslosigkeit so schnell wie möglich beseitigt wird, und zwar selbst dann, wenn noch keine
lebensbedrohliche Situation eingetreten ist.
Da das Hausnotrufsystem leihweise überlassen wird, hat die Beklagte die hierdurch
entstandenen Kosten seit der Installation des Systems (22.07.2004) zu tragen (§§ 40 Abs. 3
S. 1, 33 Abs. 1 SGB XI).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Kammer geht davon aus, dass die Berufung auch ohne besondere Zulassung statthaft
ist. Für den Fall jedoch, dass eine andere Auffassung vertretbar gewesen wäre, hat sie die
Berufung zugelassen, weil sie der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beimisst.