Urteil des SozG Aachen vom 22.03.2011

SozG Aachen: krankengeld, arbeitsentgelt, vergütung, monatslohn, arbeitsunfähigkeit, zuwendung, bemessungszeitraum, bestandteil, arbeitslosenversicherung, zulage

Sozialgericht Aachen
Urteil vom 22.03.2011 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Aachen S 13 KR 284/10
Die Beklagte wird unter entsprechender Abänderung der Bescheide vom 23.06., 05.07. und 29.07.2010 in der Fassung
des Widerspruchsbescheides vom 01.10.2010 verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 01.04.2010 bis 24.11.2010 ein
kalendertägliches Brutto-Krankengeld in Höhe von 36,58 EUR (statt 29,70 EUR) zu bewilligen, das sind
kalendertäglich netto 32,07 EUR (statt 26,03 EUR), und den sich hieraus für diesen Zeitraum ergebenden
Differenzbetrag nachzuzahlen. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt die Beklagte.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Höhe des Krankengeldes für die Zeit vom 01.04. bis 24.11.2010.
Die 0000 geborene Klägerin ist ausgebildete Krankenschwester. Als solche war sie zuletzt ab 15.02.2010 in einem
Alten- und Pflegeheim beschäftigt. Ausweislich des Arbeitsvertrages vom 09.02.2010 setzte sich der Brutto-
Monatslohn aus dem Grundgehalt (1.325,00 EUR) und einer Leistungszulage (425,00 EUR) zusammen. Zur
Leistungszulage hieß es in § 2 des Arbeitsvertrages, diese erfolge "als Zuwendung für Zuverlässigkeit und Einsatz,
dies nach Dienstplanung"; sie "kann entfallen bei Fehlzeiten von mehr als fünf Tagen monatlich sowie nach
mündlicher und/oder schriftlicher Abmahnung". Am 11.03.2010 kündigte die Klägerin das Arbeitsverhältnis aus
persönlichen Gründen zum 31.03.2010. Ab 18.03.2010 war die Klägerin arbeitsunfähig krank. Sie erhielt als Lohn für
Februar 2010 anteilig jeweils 14/30 des Grundgehalts (618,33 EUR) und der Leistungszulage (198,33 EUR), für März
2010 das volle Grundgehalt (1.325,00 EUR) und die Leistungszulage anteilig (226,67 EUR).
Durch Bescheide (ohne Rechtsmittelbelehrung) vom 23.06., 05.07. und 29.07.2010 bewilligte die Beklagte
Krankengeld ab 01.04.2010 in Höhe von kalendertäglich netto 26,03 EUR.
Dagegen legte die Klägerin am 19.08.2010 Widerspruch ein. Sie vertrat die Auffassung, das der Berechnung des
Krankengeldes zugrunde zu legende Regelentgelt beinhalte nicht nur das Grundgehalt, sondern auch die
Leistungszulage, die der Arbeitgeber über die gesamte Beschäftigungsdauer gezahlt habe.
Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 01.10.2010 zurück. Sie meinte, das ab
01.04.2010 zu zahlende Krankengeld sei richtig berechnet worden; es betrage brutto 29,70 EUR und netto 26,03 EUR
pro Kalendertag. Die Leistungszulage könne bei der Krankengeld-Berechnung nur berücksichtigt werden, wenn sie
regelmäßig - zumindest in den letzten drei Monaten - gezahlt worden sei; dies ergebe sich aus einem Gemeinsamen
Rundschreiben der Spitzenverbände der Krankenkassen. Da die Klägerin bei Beginn der Arbeitsunfähigkeit noch keine
drei Monate bei dem neuen Arbeitgeber beschäftigt gewesen sei, könne eine regelmäßige Zahlung der
Leistungszulage nicht belegt werden. Dagegen hat die Klägerin am 26.10.2010 Klage erhoben. Sie ist der Meinung,
die Regelmäßigkeit der Leistungszulage als zusätzliche Vergütung ergebe sich aus der arbeitsvertraglichen Regelung
und dem Umstand, dass sie sowohl anteilig für Februar als auch für März 2010 gezahlt worden sei. Auch nach dem
Arbeitsvertrag falle die Leistungszulage neben dem Grundgehalt regelmäßig an und könne nur ausnahmsweise bei
vorsätzlichen Verstößen des Arbeitnehmers gegen seine arbeitsvertraglichen Verpflichtungen gekürzt oder gänzlich
einbehalten werden. Es handele sich nicht um eine Vergütung, die einen über das normale Maß hinaus gehenden
Arbeitseinsatz erfordere.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter entsprechender Abänderung der Bescheide vom 23.06., 05.07. und 29.07.2010 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 01.10.2010 zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 01.04. bis 24.11.2010 Krankengeld in
Höhe von kalendertäglich 36,58 EUR brutto (statt 29,70 EUR) zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Ansicht, die Regelmäßigkeit einer zusätzlichen Vergütung sei dann anzunehmen, wenn diese in den letzten
drei abgerechneten Monaten jeweils geleistet worden ist. Wenn ein Arbeitnehmer noch keine drei Monate beschäftigt
sei, werde die zusätzliche Vergütung nur dann berücksichtigt, wenn sich die Regelmäßigkeit der Zahlung aus dem
Arbeitsvertrag ergebe. Die Beklagte stützt sich insoweit auf das Gemeinsame Rundschreiben der Spitzenverbände
der Krankenkassen vom 29.11.2005. Aus dem Umstand, dass die Klägerin noch keine drei Monate bei dem neuen
Arbeitgeber beschäftigt gewesen sei und die Leistungszulage sowohl für Februar als auch für März nur anteilig
erhalten habe, folgert die Beklagte, dass es an der regelmäßigen Zahlung der Leistungszulage mangele. Wäre die
Leistungszulage zusätzlich zum Grundgehalt bei der Berechnung des Krankengeldes zu berücksichtigen, ergäbe sich
ab 01.04.2010 ein kalendertägliches Krankengeld von brutto 36,58 EUR (netto 32,07 EUR).
Die Klägerin hat das Krankengeld fortlaufend vom 01.04.2010 bis 24.11.2010 bezogen. Ab 25.11.2010 hat sie
Mutterschaftsgeld erhalten. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der
beigezogenen die Klägerin betreffende Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz
(SGG), da sie insoweit rechtswidrig sind, als die Beklagte der Berechnung des Krankengeldes für die Zeit vom
01.04.2010 bis 24.11.2010 nur das Grundgehalt von 1.325,00 EUR, nicht aber auch die Leistungszulage von 425,00
EUR zugrunde gelegt hat.
Nach § 47 Abs. 1 Satz 1 und 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) beträgt das Krankengeld 70 vom Hundert
des erzielten regelmäßigen Arbeitsentgelts und Arbeitseinkommens, soweit es der Beitragsberechnung unterliegt
(Regelentgelt). Das aus dem Arbeitsentgelt berechnete Krankengeld darf 90 vom Hundert des bei entsprechender
Anwendung des Abs. 2 berechneten Nettoarbeitsentgelts nicht übersteigen. Nach § 47 Abs. 2 SGB V ist für die
Berechnung des Regelentgelts das von dem Versicherten im letzten vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit abgerechnete
Entgeltabrechnungszeitraum, mindestens das während der letzten abgerechneten vier Wochen
(Bemessungszeitraum) erzielte und um einmalig gezahltes Arbeitsentgelt verminderte Arbeitsentgelt durch die
Zahlung der Stunden zu teilen, für die es gezahlt wurde (Satz 1). Ist das Arbeitsentgelt - wie im Fall der Klägerin -
nach Monaten bemessen, gilt der 30. Teil des im letzten vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit abgerechneten
Kalendermonat erzielten und um einmalig gezahltes Arbeitsentgelt verminderten Arbeitsentgeltes als Regelentgelt
(Satz 3). Entgegen der Auffassung der Beklagten ist das Krankengeld der Klägerin nicht nur nach dem
Monatsgrundlohn von 1.325,00 EUR brutto (kalendertäglich: 44,17 EUR), sondern nach dem gesamten aus Grundlohn
und Leistungszulage bestehenden Monatslohn von 1.750,00 EUR brutto (kalendertäglich 58,33 EUR) zu bemessen.
Denn auch bei der in § 2 des Arbeitsvertrages vereinbarten Leistungszulage handelt es sich um Regelentgelt
(regelmäßiges Arbeitsentgelt) im Sinne von § 47 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Dem steht das Gemeinsame Rundschreiben
der Spitzenverbände der Krankenkassen vom 29.11.2005, auf das die Beklagte sich beruft, nicht entgegen. Im
Gegenteil: in Ziffer 2.2.3.2.1. (Bemessungsarbeitsentgelt nach Monaten) dieses Rundschreibens heißt es in Abs. 4:
"Neben dem festen Monatsentgelt bezogene laufende Vergütungen sind nur dann zu berücksichtigten, wenn sie
regelmäßig gezahlt werden. Regelmäßigkeit ist anzunehmen, wenn die zusätzlichen Vergütungen - gleich welcher
Natur sie sind - in den letzten drei abgerechneten Monaten jeweils geleistet worden sind. Dabei kommt es nicht darauf
an, dass die auf die einzelnen Abrechnungszeiträume entfallenden zusätzlichen Vergütungen in gleich bleibender
Höhe gezahlt worden sind. Sind im Ausgangszeitraum von drei Monaten in einem Monat keine zusätzlichen
Vergütungen angefallen, weil der Versicherte wegen Arbeitsunfähigkeit (ohne Entgeltfortzahlung) gefehlt hat, so ist
dies für die Regelmäßigkeit unschädlich. Dies gilt entsprechend, wenn der Versicherte noch keine drei Monate im
Betrieb beschäftigt ist, sofern sich aus dem Arbeitsverhältnis die Regelmäßigkeit der zusätzlichen Vergütungen ergibt
...". Diese Auslegung des § 47 SGB V stützt das Begehren der Klägerin.
Die Regelmäßigkeit der vereinbarten Leistungszulage von monatlich 425,00 EUR ergibt sich aus der Regelung in § 2
des Arbeitsvertrages, die vom Arbeitgeber - auch wenn das Arbeitsverhältnis nur anderthalb Monate dauerte und die
Klägerin tatsächlich nur vier Wochen gearbeitet hat - wie vereinbart umgesetzt worden ist. Wie der Begriff
"Leistungszulage" bereits zum Ausdruck bringt, hängt diese zusätzliche Vergütung von der Leistung des
Arbeitnehmers ab. Sie wird jedoch nicht erst dann gezahlt, wenn eine bestimmte Leistung erbracht wird; vielmehr ist
ihre Zahlung der Regelfall und sie kann nur dann wegfallen, wenn eine erwartete (Mindest-)Leistung nicht erbracht
wird. Dies ergibt sich aus der Formulierung in § 2 des Arbeitsvertrages. Danach setzt sich "der Monatslohn" aus dem
Grundgehalt und der Leistungszulage zusammen. Die Leistungszulage erfolgt ganz allgemein als "Zuwendung für
Zuverlässigkeit und Einsatz", also Kriterien, die für ein Arbeitsverhältnis normal und die Regel sind. Sie "kann"
entfallen, wenn in einem Monat Fehlzeiten von mehr als fünf Tagen aufgetreten sind oder wenn der Arbeitnehmer
zuvor mündlich und/oder schriftlich abgemahnt worden ist. Ausgehend davon, dass Fehlzeiten von monatlich fünf
Tagen, mangelnder Einsatz und Unzuverlässigkeit nicht die Regel sind, ist die Leistungszulage, wie sie
arbeitsvertraglich vereinbart wurde, Bestandteil des regelmäßigen Arbeitsentgelts. Der Umstand, dass die
Leistungszulage im Februar und März jeweils nur anteilig gezahlt wurde, beruht darauf, dass das
Beschäftigungsverhältnis erst am 15.02.2010 begann und dass die Klägerin bereits ab 18.03.2010 arbeitsunfähig
krank war. Obwohl sie also im März Fehlzeiten von weit mehr als fünf Tagen hatte, ist die Leistungszulage für den
März nicht vollständig entfallen, sondern hat sie der Arbeitgeber anteilig für die geleisteten Arbeitstage gezahlt. Aus
alledem folgt, dass die Leistungszulage regelmäßiges Arbeitsentgelt ist und nur in Ausnahmefällen, nämlich bei von
der Norm nach unten abweichendem Einsatz oder Unzuverlässigkeit - also mehr oder weniger arbeitsvertragswidrigem
Verhalten - bzw. erheblichen Fehlzeiten, die die Zulage nicht mehr rechtfertigen, entfallen "kann".
Ist nach alledem das der Bemessung des Krankengeldes der Klägerin für die Zeit vom 01.04.2010 bis 24.11.2010
zugrunde legende regelmäßige Arbeitsentgelt der aus dem Grundgehalt und der Leistungszulage bestehende
Monatslohn von 1.750,00 EUR, so errechnet sich hieraus ein kalendertägliches Regelentgelt von 58,33 EUR. (30. Teil
von 1.750,00 EUR; vgl. § 47 Abs. 2 Satz 3 SGB V). Nach der zutreffenden (fiktiven) Berechnung der Beklagten ergibt
sich unter Zugrundelegung des Maximalbemessungsentgelts nach § 47 Abs. 1 Satz 2 SGB V (90 % des
Nettoarbeitsentgelts von 1.219,34 EUR) ein kalendertägliches Bruttokrankengeld von 36,58 EUR (30. Teil von
1.219,34 EUR = 40,64 EUR; davon 90 %). Nach Abzug des jeweils hälftigen Beitrags zur Rentenversicherung (9,95
%), Arbeitslosenversicherung (1,4 %) und Pflegeversicherung (0,975 %), insgesamt 12,325 % ergibt dies ein
kalendertägliches Nettokrankengeld von 32,07 EUR. Dementsprechend war die Beklagte zur Bewilligung bzw.
Leistung dieser Krankengeldbeträge unter Berücksichtigung des bereits ausgezahlten Krankengeldes zu verurteilen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.