Urteil des SozG Aachen vom 03.11.2009

SozG Aachen (künstliche befruchtung, kläger, gkv, krankenkasse, leistung, bvo, behandlung, antrag, krankheit, krankenversicherung)

Sozialgericht Aachen, S 13 KR 115/09
Datum:
03.11.2009
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
13. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 13 KR 115/09
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander nicht
zu erstatten.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten über die Erstattung der Kosten einer Kryokonservierung von
Samenzellen in Höhe von 1.660,00 EUR zu Lasten der Gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV).
2
Der am 00.00.0000 geborene Kläger musste sich im Frühjahr 2005 wegen eines
Hodenkarzinoms einer Operation mit anschließender Chemotherapie unterziehen. Da
hierdurch eine Zeugungsunfähigkeit drohte, ließ er zuvor - am 30.03.2005 - sein Sperma
kryokonservieren. Für die Erstbehandlung und die Kryokonservierung im ersten Jahr
zahlte er seinem behandelnden Urologen 460,00 EUR (Rechnung vom 30.03.2005), für
die Aufbewahrung in den Folgejahren jeweils 300,00 EUR (Rechnungen vom
03.05.2006, 23.05.2007, 15.06.2008 und 31.03.2009), bisher insgesamt 1.660,00 EUR.
3
Am 05.08.2008 beantragte der Kläger die Erstattung der bis dato entstandenen Kosten
von 1.360,00 EUR für die Einlagerung der Spermien (Kryokonservierung) unter Hinweis
auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 07.11.2006 - 2 C 11/06.
4
Durch Bescheid vom 28.08.2008 (ohne Rechtsmittelbelehrung) lehnte die Beklagte den
Kostenerstattungsanspruch ab mit der Begründung, es bestehe keine Leistungspflicht
der gesetzlichen Krankenkassen für eine Kryokonservierung von Spermien. Das
angeführte Urteil des Bundesverwaltungsgerichts sei zu Leistungsansprüchen eines
Beamten gegenüber seinen Dienstherrn im Rahmen der Beihilfe gesprochen worden
und insofern nicht auf die GKV übertragbar.
5
Den dagegen am 02.03.2009 eingelegten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte
durch Widerspruchsbescheid vom 29.06.2009 zurück.
6
Dagegen hat der Kläger am 23.07.2009 Klage erhoben. Er räumt ein, dass die
Kostenübernahme für Kryokonservierungen von Samenzellen nach den
7
entsprechenden Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) über
künstliche Befruchtung ausgeschlossen sei; jedoch habe das BVerwG im
entsprechenden Urteil entschieden, dass auch solche Maßnahmen der Heilung und
Linderung von Leiden bzw. dem Ausgleich einer durch die Behandlung erworbenen
körperlichen Beeinträchtigung dienten. Soweit das Bundessozialgericht (BSG)
entschieden hat, dass die Kryokonservierung von Samenzellen nicht in die
Leistungspflicht der GKV fällt, hält der Kläger diese Rechtsprechung vor dem
Hintergrund des Urteils des BVerwG zumindest für überprüfungswürdig. Das BVerwG
habe den Anspruch auf Beihilfevorschriften gestützt, nach denen u.a. Kosten, die für die
Behandlung in Krankheitsfällen und durch Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge
entstanden sind, zu erstatten seien. Die Aufwendungen für die Gewinnung, Aufbereitung
und Tiefkühlung der Spermien stünden im unmittelbaren Zusammenhang mit einem
Krankheitsfall, nämlich dem behandlungsbedürftigen Hodenkarzinom. Die
Kryokonservierung diene der Wiedererlangung der Gesundheit und dem Ausgleich
erworbener körperlicher Beeinträchtigungen. Zur Heilbehandlung gehörten auch
zusätzlichen Maßnahmen, die zwar für sich genommen nicht die Heilung des Leidens
herbeiführen könnten, wohl aber der Vermeidung und Minimierung mit hoher
Wahrscheinlichkeit zu erwartender Behandlungsrisiken und Folgeleiden dienten und für
den Fall eines ungünstigen Operationsverlaufs geeignet seien, durch den Eingriff
erworbene körperliche Beeinträchtigungen ganz oder teilweise auszugleichen. Vor dem
Hintergrund der Ausführungen des BVerwG erscheine es - so der Kläger - nicht
sachgerecht, für Versicherte der GKV etwas anderes gelten zu lassen als für
Beihilfeberechtigte. In beiden Fällen sei Ziel der Heilbehandlung auch die Verhütung
von Krankheiten und die Linderung von Krankheitsbeschwerden. Er habe seinerzeit im
Vorfeld der Operation keinen Antrag auf Übernahme der Kosten für die
Kryokonservierung gestellt, da er erfahren hatte, dass aufgrund der Rechtsprechung des
BSG eine Kostenübernahme ohnehin nicht in Betracht käme. Den Antrag habe er erst
gestellt, nachdem er vom Urteil des BVerwG erfahren habe. Der Kläger ist im Übrigen
der Meinung, es habe sich bei der Kryokonservierung um eine unaufschiebbare
Leistung gehandelt; er habe zum Zeitpunkt seiner Erkrankung im Frühjahr 2005 ein
duales Studium in Aachen absolviert, in dessen Rahmen er für ein Jahr in Australien
studieren sollte. Zum Zeitpunkt der Erkrankung habe der Abflugtermin nach Australien
bereits festgestanden; vor der Abreise habe noch eine Chemotherapie durchgeführt
werden müssen, und die Kryokonservierung habe vor Durchführung der Chemotherapie
erfolgen müssen. Aufgrund dessen habe er für einen Termin für die Kryokonservierung
höchstens drei bis vier Tage Zeit gehabt, also keine Möglichkeit, eine vorherige
Rücksprache mit der Krankenkasse zu nehmen. Insofern sei einer Kostenerstattung
nicht allein aus formellen Gründen abzulehnen.
Der Kläger beantragt,
8
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 28.08.2008 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 29.06.2009 zu verurteilen, ihm die bisher entstandenen
Kosten für die Ein- lagerung von Samenzellen in Höhe von 1.660,00 EUR zu erstatten.
9
Die Beklagte beantragt,
10
die Klage abzuweisen.
11
Sie verweist auf die Rechtsprechung des BSG, die sie im Bezug auf die
Kryokonservierung für eindeutig hält. Sie meint, dass der Kostenerstattungsanspruch im
12
Übrigen daran scheitere, dass sich der Kläger vor der Behandlung nicht mit ihr in
Verbindung gesetzt habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen den Kläger betreffende Verwaltungsakte der
Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug
genommen.
13
Entscheidungsgründe:
14
Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.
15
Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2
Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie nicht rechtswidrig sind. Er hat keinen
Anspruch auf Erstattung der Kosten für die Einlagerung von Samenzellen
(Kryokonservierung) zu Lasten der GKV.
16
Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte
der GKV - wie der Kläger - Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist,
um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder
Krankheitsbeschwerden zu lindern. Zur Krankenbehandlung gehören auch Leistungen
zur Herstellung der Zeugungs- oder Empfängnisfähigkeit, wenn diese Fähigkeit nicht
vorhanden war oder durch Krankheit oder wegen einer durch Krankheit erforderlichen
Sterilisation verloren gegangen war (§ 27 Abs. 1 Satz 4 SGB V). Gemäß § 27a SGB V
umfassen die Leistungen der Krankenbehandlung auch medizinische Maßnahmen zur
Herbeiführung einer Schwangerschaft (künstliche Befruchtung). Der G-BA bestimmt in
Richtlinien nach § 92 die medizinischen Einzelheiten zur Voraussetzungen, Art und
Umfang der Maßnahmen (§ 27a Abs. 4 SGB V). Die Kryokonservierung vorsorglich
gewonnener Samenzellen (wegen drohender Zeugungsunfähigkeit nach
Hodenkrebsoperation und Chemotherapie) ist keine Krankenbehandlung im Sinne von
§§ 27, 27a SGB V, die die GKV zu leisten hätte. Dies ergibt aus Ziffer 4 der "Richtlinien
über künstliche Befruchtung" des G-BA in der Fassung vom 14.08.1990, zuletzt
geändert am 16.07.2009, des Weiteren aus der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts (vgl. BSG, Urteil vom 25.05.2000 - B 8 KN 3/99 KR R; Beschluss
von 09.11.2004 - B 1 KR 95/03 B; Urteil vom 22.03.2005 - B 1 KR 11/03 R; Beschluss
vom 16.02.2009 - B 1 KR 87/08 B).
17
Aus dem Urteil des BVerwG vom 07.11.2006 (2 C 11/06) lässt sich ein Anspruch des
Klägers aus dem für ihn maßgeblichen Recht der GKV nicht herleiten, weil diese
Entscheidung zum Beihilferecht des Landes Rheinland-Pfalz ergangen ist. Die
rheinland-pfälzische Beihilfeverordnung (BVO) kannte und kennt eine den §§ 27 Abs. 1
Satz 4, 27a SGB V und den Richtlinien des G-BA entsprechende Regelung nicht.
Soweit sich hieraus eine Ungleichbehandlung der GKV-Versicherten gegenüber
Personen, die im Lande Rheinland-Pfalz Beihilfeansprüche haben, ergibt, liegt darin
keine verfassungswidrige Ungleichbehandlung. Denn das Bundesverfassungsgericht
(BVerfG) hat dem Gesetzgeber grundsätzlich zugestanden, Versicherungspflicht und
Versicherungsberechtigung in der GKV in bestimmter Weise festzulegen. Auch das
BSG hat wiederholt betont, dass es im Ermessen des Gesetzgebers liegt, sich für
verschiedene Leistungssysteme zu entscheiden, in denen sich der Gleichheitssatz dann
den Eigenarten der Systeme entsprechend unterschiedlich auswirkt (BSG, Beschluss
18
vom 16.02.2009 - B 1 KR 87/08 B - unter Hinweis auf einschlägige Entscheidungen des
BVerfG und des BSG.
Im Übrigen: Anders als die BVO Rheinland-Pfalz enthält die BVO für das Land
Nordrhein-Westfalen (NRW) in § 8 eine den §§ 27 Abs. 1 Satz 4, 27a SGB V
entsprechende Norm. § 8 BVO NRW regelt beihilfefähige Aufwendungen bei nicht
rechtswidrigem Schwangerschaftsabbruch und einer durch Krankheit erforderlichen
Sterilisation sowie bei Empfängnisregelung. § 8 Satz 5 BVO NRW bestimmt, dass
Verwaltungsvorschriften zu dieser Verordnung nähere Regelungen treffen. In Ziffer 18.5
der Verwaltungsordnung zu § 8 BVO ist - entsprechend Ziffer 4 der Richtlinien des G-BA
über künstliche Befruchtung - bestimmt, dass u.a. Aufwendungen für die
Kryokonservierung von Samenzellen nicht beihilfefähig sind. Hätte das BVerwG also
über einen Anspruch eines nordrhein-westfälischen beihilfe- berechtigten Beamten zu
entscheiden, müsste es einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für
Kryokonservierung von Samenzellen unter Verweis auf § 8 BVO NRW i.V.m. Ziffer 18.5
der Verwaltungsverordnung zu § 8 BVO verneinen.
19
Unabhängig davon, dass der Kläger materiell-rechtlich keinen Anspruch auf die
Kryokonservierung seiner Samenzellen zu Lasten der GKV hat, steht dem mit der Klage
verfolgten Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 SGB V entgegen, dass der
Kläger den Beschaffungsweg nicht eingehalten hat. Denn er hat sich nicht vor der
Leistungserbringung an seine Krankenkasse gewandt, sondern sich die Leistung ohne
Einschaltung der Beklagten selbst beschafft. Er ist damit von dem im SGB V
grundsätzlich vorgesehenen Naturalleistungssystem (vgl. § 2 Abs. 2 SGB V)
abgewichen. Gemäß § 13 Abs. 1 SGB V darf die Krankenkasse anstelle der Sach- oder
Dienstleistung (§ 2 Abs. 2) Kosten nur erstatten, soweit dies im SGB V oder SGB IX
vorgesehen ist. Als Anspruchsgrundlage für den geltend gemachten
Kostenerstattungsanspruch kommt allenfalls § 13 Abs. 3 SGB V in Betracht. Danach
sind die Kosten für eine selbstbeschaffte Leistung von der Krankenkasse in der
entstandenen Höhe zu erstatten, wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare
Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat
und dadurch den Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind,
soweit die Leistung notwendig war. Ein Fall der Unaufschiebbarkeit lag nicht vor, da der
Kläger nach eigenen Angaben mindestens drei bis vier Tage Zeit hatte, sich vorher mit
der Beklagten in Verbindung zu setzen. Allein die Zeitschiene war seinerzeit aber nicht
der Grund, die Kryokonservierung vor Beginn der Behandlung nicht bei der
Krankenkasse zu beantragen; der eigentliche Grund war, dass der Kläger - wie er im
Schriftsatz vom 14.09.2009 dargelegt hat - davon ausging, dass aufgrund der
Rechtsprechung des BSG eine Kostenübernahme ohnehin nicht in Betracht käme.
Deshalb stellte er den Kostenerstattungsantrag erst, nachdem er vom Urteil des BVerwG
erfahren hatte.
20
Auch die zweite Alternative des § 13 Abs. 3 SGB V ("Leistung zu Unrecht abgelehnt") ist
nicht erfüllt. Die Kosten für eine selbstbeschaffte Leistung sind in einem solchen Fall nur
zu ersetzen, wenn die Krankenkasse die Leistungsgewährung vorher abgelehnt hatte;
ein Kausalzusammenhang und damit eine Kostenerstattung scheiden aus, wenn der
Versicherte sich die streitige Behandlung außerhalb des vorgeschriebenen
Beschaffungsweges selbst besorgt, ohne sich vorher mit seiner Krankenkasse ins
Benehmen zu setzen und deren Entscheidung abzuwarten (BSG, Urteil vom 06.02.1997
- 3 RK 9/96; Beschluss vom 15.04.1997 - 1 BK 31/96; Urteil vom 25.09.2000 - B 1 KR
5/99 R; Urteil vom 23.07.2002 - B 3 KR 66/01 R; Urteil vom 22.03.2005 - B 1 KR 3/04 R;
21
Urteil vom 14.12.2006 - B 1 KR 8/06 R; Urteil vom 28.02.2008 - B 1 KR 15/07 R). Die
Kostenerstattung ist im System der gesetzlichen Krankenversicherung gegenüber der
Sachleistung die Ausnahme. Den Krankenkassen muss zur Vermeidung von
Missbräuchen vorab die Prüfung ermöglicht werden, ob die beanspruchte Behandlung
im Rahmen des vertragsärztlichen Versorgungssystems bereitgestellt werden kann und,
falls dies nicht möglich ist, ob sie zum Leistungsumfang der gesetzlichen
Krankenversicherung gehört, insbesondere den Anforderungen der Geeignetheit,
Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung (§ 12 Abs. 1 SGB V)
genügt. Der Versicherte ist deshalb vor Inanspruchnahme einer Behandlung außerhalb
des Systems grundsätzlich gehalten, sich an seine Krankenkasse zu wenden und die
Gewährung zu beantragen. Er darf der Entscheidung der Krankenkasse nicht dadurch
vorgreifen, dass er sich die erstrebte Behandlung außerhalb des Sachleistungssystems
selbst - privatärztlich - beschafft und die erforderliche Prüfung in das Verfahren der
Kostenerstattung verlagert. Ein Antrag vor Durchführung der Leistung ist auch dann
notwendig, wenn der Versicherte von vornherein mit einer Ablehnung rechnen konnte
(BSG, a.a.O.). Selbst wenn aus zeitlichen Gründen eine Entscheidung der
Krankenkasse nicht mehr möglich erscheint, ist es zumindest erforderlich, einen
entsprechenden Antrag zu stellen. Die Behauptung des Klägers, ein solcher Antrag
habe im Hinblick auf die Kürze der Zeit und den bevorstehenden Flug nach Australien
vor der Kryokonservierung nicht gestellt werden können, ist nicht nachvollziehbar.
Selbst wenn dafür nur drei bis vier Tage Zeit waren, stehen mit Telefon und Telefax
Geräte zur Verfügung, mit deren Hilfe sich ein Versicherter auch kurzfristig an die Kasse
wenden kann. Es ist nicht ungewöhnlich, sondern Alltag der gesetzlichen
Krankenkassen, Leistungsanträge von Ver- sicherten wenn nötig noch am selben Tag
oder am Folgetag zu bescheiden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
22