Urteil des SozG Aachen vom 09.02.2007

SozG Aachen: grobe fahrlässigkeit, witwenrente, verwaltungsakt, rechtswidrigkeit, rücknahme, sorgfalt, bekanntgabe, meinung, vertrauensschutz, krankenschwester

Sozialgericht Aachen, S 8 R 77/06
Datum:
09.02.2007
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 8 R 77/06
Sachgebiet:
Rentenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Der Bescheid vom 13.01.2006 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 27.06.2006 wird aufgehoben. Die
Beklagte hat die Kosten der Klägerin zu erstatten.
Tatbestand:
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Streitig ist die Berechtigung der Beklagten, die Bewilligung von Witwenrente
aufzuheben und gezahlte Beträge zurückzufordern.
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Die am 00.00.1946 geborene Klägerin ist die Witwe des am 00.00.1994 verstorbenen
Versicherten. Sie erhält seit dem Tod des Versicherten eine Große Witwenrente. Die
Klägerin geht einer abhängigen Beschäftigung als Krankenschwester im I-K-
Krankenhaus F nach. Das Einkommen aus dieser Tätigkeit wird auf die
Hinterbliebenenrente angerechnet. Für das Jahr 1998 verwechselte die Beklagte das
Einkommen der Klägerin mit dem der Tochter, die eine Halbwaisenrente bezog. Sie
ging daher von einem Jahreseinkommen in Höhe von 15.770,51 DM anstelle von
39.511,00 DM aus. Mit Bescheid vom 11.08.1999 bewilligte die Beklagte Witwenrente
unter Zugrundelegung eines Einkommens in Höhe von 15.770,51 DM für die Zeit ab
01.07.1999. Die fehlerhafte Berechnung des Einkommens bemerkte die Beklagte bei
einer Aktenüberprüfung im Dezember 2005.
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Mit Bescheid vom 13.01.2006 hob die Beklagte nach Anhörung der Klägerin die
Witwenrente für die Zeit vom 01.07.1999 bis zum 31.12.2000 in Höhe von 941,74 EUR
auf und forderte diese Summe zurück.
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Im Widerspruchsverfahren meinte die Klägerin, der Anspruch auf Rückzahlung sei
verjährt.
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Mit Bescheid vom 27.06.2006 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Sie stützte die
Entscheidung auf § 45 SGB X. Die Klägerin könne sich auf Vertrauensschutz nicht
berufen, weil sie habe erkennen können, dass der Bescheid vom 11.08.1999 fehlerhaft
sei. Deshalb sei die für die Rücknahme maßgebliche Frist noch nicht abgelaufen.
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Gegen diese Entscheidung richtet sich die am 24.07.2006 erhobene Klage. Die Klägerin
beruft sich auf Vertrauensschutz und den Ablauf der in § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X
geregelten Zwei-Jahres-Frist. Die Beklagte habe die zutreffenden Entgeltmitteilungen
von der Einzugsstelle erhalten und die Klägerin habe keine falsche Angaben gemacht.
Sie habe nicht erkennen können, dass die Rente in rechtswidriger Höhe bewilligt
worden ist.
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Die Klägerin beantragt,
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den Bescheid vom 13.01.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
27.06.2006 aufzuheben.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage insoweit abzuweisen.
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Sie beruft sich auf "Anlage 8" zum Bescheid vom 11.08.1999. Hier sei der Klägerin die
Berechnung des anzurechnenden Einkommens mitgeteilt worden. Daraus habe die
Klägerin ersehen können, dass die Beklagte von einem falschen Einkommensbetrag
ausgeht.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene
Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen ist, verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig i. S. d. §
54 Abs. 2 Satz 1 SGG.
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Der Bescheid vom 11.08.1999 war aufgrund des fehlerhaft zugrunde gelegten
Einkommens von Beginn an rechtswidrig i. S. d. § 45 SGB X. Da es sich um einen
Verwaltungsakt mit Dauerwirkung handelt, darf er gemäß § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X nur
bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden.
Diese Frist war am 13.01.2006 lange abgelaufen. Es gilt nicht die Ausnahme des § 45
Abs. 3 Satz 3 SGB X. Hiernach kann bis zum Ablauf von 10 Jahren nach seiner
Bekanntgabe ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung
zurückgenommen werden, wenn die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 oder
3 SGB X gegeben sind (Nr. 1). § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X schließt die Berufung des
Begünstigten auf Vertrauen aus, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der
Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder
unvollständig gemacht hat (Nr. 2) oder er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes
kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor,
wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt
hat (Nr. 3). Nur im Fall des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X wird der Verwaltungsakt mit
Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen (§ 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X), so dass
ohne Vorliegen der Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X die Rücknahme
des Verwaltungsaktes nicht nur am Fristablauf, sondern auch daran scheitert, dass eine
Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit nicht zulässig ist.
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§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X ist unstreitig nicht einschlägig, denn die Klägerin hat
keine falsche Angaben gemacht.
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Im Gegensatz zu Meinung der Beklagten ist auch § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X nicht
einschlägig. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Klägerin die Rechtswidrigkeit des
Bescheides vom 11.08.1999 positiv kannte. Die Nichtkenntnis ist nicht grob fahrlässig.
Die erforderliche Sorgfalt i. S. d. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 2. Halbsatz SGB X in
besonders schwerem Maße verletzt nur, wer schon einfachste, ganz naheliegende
Überlegung nicht anstellt und daher nicht beachtet, was in gegebenem Fall jedem
einleuchten muss (ständige Rechtsprechung des BSG; u. a. BSG, Urteil vom 08.02.2001
- B 11 AL 21/00 R - mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Hierbei besteht eine
Obliegenheit, Bewilligungsbescheide zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen. Allerdings
ist ein Antragsteller, der zutreffende Angaben gemacht hat, im Allgemeinen nicht zu
Gunsten der Behörde geeignet, Bewilligungsbescheide des Näheren auf Richtigkeit zu
überprüfen. Der Antragsteller darf davon ausgehen, dass eine Fachbehörde die ihr
gemachten Angaben zutreffend umsetzt. Erst wenn der Fehler im Bewilligungsbescheid
dem Antragsteller bei seinen subjektiven Erkenntnismöglichkeiten geradezu ins Auge
springen muss, setzt der Vorwurf groben Fahrlässigkeit ein (BSG a.a.O.). Anlässlich der
gerichtsbekannten und auch im vorliegenden Fall aktenkundigen Fassung und
Gestaltung der Rentenbescheide der Beklagten - so auch des Bescheides vom
11.08.1999 - springt die Rechtswidrigkeit der Einkommensanrechnung einem
rentenrechtlichen Laien keinesfalls ins Auge im Sinne dieser Ausführungen. Der
Rentenbescheid umfasst regelmäßig viele eng bedruckte Seiten, die Text enthalten, der
für einen rentenrechtlichen Laien nicht mehr zu entschlüsseln ist. Dies gilt auch für die
Berechnung des anzurechnenden Einkommens in "Anlage 8". Zwar ist der Beklagten
zuzugeben, dass dort auch eine Zeile enthalten ist, die das der
Einkommensanrechnung zugrunde gelegte Arbeitsentgelt ausweist. Für einen Laien ist
jedoch bereits nicht ohne weiteres erkennbar, ob es sich hierbei um das Brutto- oder
Nettoarbeitsentgelt handelt. Auch ist die Darstellung des zugrunde gelegten
Arbeitsentgeltes eingebettet in die Darstellung zahlreicher Abzüge und Freibeträge. Der
entsprechende Text ist durchsetzt mit rentenrechtlichen Fachbegriffen und
Berechnungen, die für die Klägerin als Krankenschwester in keiner Weise mehr
nachvollziehbar sind. Insofern mag es zwar für einen Sachbearbeiter der Beklagten
evident sein, dass das Arbeitsentgelt nicht zutreffend sein konnte, die Klägerin hingegen
trifft vermutlich kaum der Vorwurf der einfachen Fahrlässigkeit, sicher jedenfalls nicht
der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit. Dies gilt umso mehr, als es für die Beklagte ein
Leichtes wäre, die Rentenbescheide so zu gestalten, dass die maßgeblichen Werte, von
denen die Beklagte bei der Einkommensanrechnung ausgeht, für einen Laien ohne
weiteres erkennbar sind. Die Beklagte könnte beispielsweise formulieren: "Bei der
Berechnung des anzurechnenden Einkommens gehen wir davon aus, dass Sie im Jahr
1998 ein Bruttoarbeitsentgelt von XX erhalten haben". Dieser Text fett gedruckt oder an
gut sichtbarer Stelle des Bescheides angebracht mag grobe Fahrlässigkeit begründen,
wenn der Betrag offensichtlich fehlerhaft ist. So, wie die Rentenbescheide der Beklagten
derzeit gestaltet sind, wird es der Beklagten schwer fallen, jemals grobe Fahrlässigkeit
von Versicherten, die keine rentenrechtliche Fachausbildung haben, zu begründen.
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Die grobe Fahrlässigkeit ergibt sich im Gegensatz zur von der Beklagten in der
mündlichen Verhandlung geäußerten Meinung auch nicht daraus, dass der
Rentenzahlbetrag deutlich höher war, als im Vorjahr. Ergeben sich aus einem Bescheid
selbst keine nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür, von welchen
Berechnungsgrundlagen die Beklagte bei der Rentenberechnung ausgegangen ist, hat
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ein Versicherter nicht nachzufragen, weshalb die Rente in einer bestimmten Höhe
gezahlt wird. Dies gilt umso mehr, wenn es sich nicht um einen über Jahre
feststehenden Betrag handelt, sondern Einkommen auf einer Rente angerechnet wird.