Urteil des SozG Aachen vom 03.07.2009

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Sozialgericht Aachen, S 13 KR 98/09 ER
Datum:
03.07.2009
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
13. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
S 13 KR 98/09 ER
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller einstweiligen
Krankenversicherungsschutz nach dem Fünften Buch Sozialgesetzbuch
SGB V), insbesondere Krankenbehandlung gemäß §§ 27 ff. SGB V zu
gewähren. Die einstweilige Anordnung gilt längstens bis zum
rechtskräftigen Ab- schluss des Hauptsacheverfahrens S 13 KR 99/09
(SG Aachen). Die Kosten des Antragstellers trägt die Antragsgegnerin.
Gründe:
1
I.
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Die Beteiligten streiten darüber, ob der Antragsteller (Ag.) Anspruch auf
Krankenversicherungsschutz als versicherungspflichtiges Mitglied nach dem Fünften
Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) hat.
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Der am 00.00.1940 geborene Ast. ist schwer krank; er leidet an Diabetes, Arthrose und
einer Lungenerkrankung; er benötigt ständig ärztliche Hilfe. Vom 01.01. bis 09.10.2005
war er aufgrund des Bezugs von Arbeitslosengeld II bei der Ag. pflichtversichert.
Anschließend bezog er bis einschließlich 31.03.2009 laufende Sozialhilfeleistungen;
neben einer Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung erhält er seit
01.04.2009 Wohngeld (Bescheide des Oberbürgermeisters der Stadt B. vom 01.04.2009
- Sozialamt und Wohngeldstelle).
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Am 08.04.2009 erstattete der Ast. bei der Ag. eine "Anzeige zur Pflichtversicherung
nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V". Durch Bescheid vom 14.04.2009 lehnte die Ag. eine
Mitgliedschaft bei ihr ab. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies sie durch
Widerspruchsbescheid vom 30.06.2009 zurück.
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Dagegen hat der Ast. am 03.07.2009 Klage erhoben (S 13 KR 99/09).
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Ebenfalls am 03.07.2009 hat der Ast. beim Sozialgericht um vorläufigen Rechtsschutz
nachgesucht. Er ist der Auffassung, dass es nicht sein könne, dass er, weil das
Sozialamt nicht mehr zuständig sei, nun ohne Krankenversicherungsschutz sei. Wenn
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er die notwendige ärztliche Hilfe nicht bekomme, könne das für ihn lebensbedrohlich
sein.
Der Antragsteller beantragt seinem Vorbringen nach,
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die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm
vorläufig Krankenversicherungsschutz zu gewähren.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
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Sie ist der Auffassung, es bestehe keine gesetzliche Krankenversicherungspflicht des
Ast.; seiner Pflichtmitgliedschaft nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V stehe insbesondere
entgegen, dass er nicht "zuletzt gesetzlich krankenversichert" gewesen sei.
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II.
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
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Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht einstweilige
Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges
Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher
Nachteile nötig erscheint. Der Ast. muss glaubhaft machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG
i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO), dass ihm ein Anspruch auf die geltend
gemachte Leistung zusteht (Anordnungsanspruch) und dass das Abwarten einer
gerichtlichen Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren für ihn mit unzumutbaren
Nachteilen verbunden wäre (Anordnungsgrund). Einstweilige Anordnungen kommen
grundsätzlich nur in Betracht, wenn die Beseitigung einer gegenwärtigen Notlage
dringend geboten ist.
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Es besteht ein Anordnungsgrund. Die summarische Prüfung des Sachverhalts hat
ergeben, dass eine Krankenversicherungspflicht des Ast. nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V
besteht und er deshalb Anspruch auf Krankenversicherungsschutz nach dem SGB V
hat. Nach dieser Vorschrift besteht Versicherungspflicht in der gesetzlichen
Krankenversicherung für Personen, die keinen anderweitigen Anspruch auf
Absicherung im Krankheitsfall haben und a) zuletzt gesetzlich krankenversichert waren
oder b) bisher nicht gesetzlich oder privat krankenversichert waren, es sei denn, dass
sie zu den in Abs. 5 oder den in § 6 Abs. 1 oder 2 genannten Personen gehören oder
bei Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit im Inland gehört hätten.
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Der Ast. hat keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall. Mangels
Sozialhilfebedürftigkeit hat er seit 01.04.2009 keinen Anspruch auf laufende Leistungen
der Sozialhilfe; sein Krankenschutz wird deshalb nicht mehr gemäß § 48 Zwölftes Buch
Sozialgesetzbuch (SGB XII) i.V.m. § 264 SGB V zu Lasten des Sozialhilfeträgers
sichergestellt. Entgegen der Auffassung der Ag. erfüllt der Ast. für die
Pflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V auch die Voraussetzung "zuletzt
gesetzlich krankenversichert".
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"Zuletzt gesetzlich krankenversichert" im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 13 Buchstabe a) SGB
V bedeutet nicht, dass einer möglichen "Bürgerversicherung" eine gesetzliche
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Krankenversicherung zeitlich unmittelbar vorausgegangen sein muss. Es ist
unschädlich, wenn nach dem Ende einer Mitgliedschaft in der Gesetzlichen
Krankenversicherung ein Zustand bestanden hat, in dem die betreffende Person nicht
gesetzlich krankenversichert war. Das Tatbestandsmerkmal "zuletzt gesetzlich
krankenversichert" dient allein dazu, Personen, die bisher keinen Bezug zur
gesetzlichen Krankenversicherung aufweisen, etwa weil sie vor Verlust der Absicherung
im Krankheitsfall als Beamte oder beamtenähnlich abgesichert oder selbstständig tätig
und privat krankenversichert waren, vom Versicherungs- schutz der Gesetzlichen
Krankenversicherung auszunehmen (vgl. BT-Drucksache 16/3100, S. 94). Dieser
Personenkreis - zudem der Ast. nicht gehört - ist der neugeschaffenen Verpflichtung zum
Abschluss eines privaten Krankenversicherungsvertrages ("Basistarif", § 178a Abs. 5
Versicherungsvertragsgesetz) zuzuordnen (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom
25.02.2009 - L 11 KR 497/09 ER-B). Das Merkmal dient also allein der Abgrenzung
zwischen der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Privaten
Krankenversicherung, sodass es nicht darauf ankommt, ob vor der Zeit der
Nichtabsicherung eine Absicherung nach Maßgabe sozialhilferechtlicher Regelungen
bestanden hat (LSG NRW, Beschluss vom 20.10.2008 - L 5 B 75/08 KR ER; SG
Aachen, Beschlüsse vom 15.05.2009 - S 13 KR 71/09 ER - und vom 22.05.2009 - S 15
KR 35/09 ER).
Die Ag. ist auch die für die Durchführung der Pflichtversicherung gemäß § 5 Abs. 1 Nr.
13 SGB V zuständige Krankenkasse. Denn bei ihr war der Ast. zuletzt - bis 09.10.2005 -
versichert (vgl. § 174 Abs. 5 SGB V).
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Auch ein Anordnungsgrund ist glaubhaft gemacht. Der Ast. ist nach eigenen - von der
Ag. unwidersprochenen - Angaben schwer krank und auf ständig ärztliche Hilfe
angewiesen. Er hat ein nachvollziehbares Interesse an einer schnellen Klärung seines
krankenversicherungsrechtlichen Status, zumal der bisherige Ablauf des Verfahrens
und die von der Ag. in einer Vielzahl anhängig gewordener Fälle vertretene
Rechtsauffassung zeigen, dass eine endgültige Klärung der Rechtslage, insbesondere
eine obergerichtliche Grundsatz- entscheidung über die Auslegung des
Tatbestandsmerkmals "zuletzt gesetzlich krankenversichert" nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 a)
SGB V nicht kurzfristig zu erwarten ist.
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Die Kammer hat die Wirkung der einstweiligen Anordnung auf die Zeit bis zur
Rechtskraft der Entscheidung in der Hauptsache befristet. Dies erscheint sachgerecht,
aber auch notwendig, weil der Krankenversicherungsschutz eines schwer kranken
Menschen unabhängig von einer konkreten Therapie sichergestellt sein muss und aus
den dargelegten Gründen eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass der
Ast. auf nicht absehbare Zeit versicherungspflichtiges Mitglied der Ag. ist.
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Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechende Anwendung von § 193 SGG.
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