Urteil des SozG Aachen vom 25.11.2009

SozG Aachen (tätigkeit, unfall, obiter dictum, pferd, arbeitsunfall, stall, versicherungsschutz, unternehmen, inhaber, versicherter)

Sozialgericht Aachen, S 8 U 29/09
Datum:
25.11.2009
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
8. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 8 U 29/09
Sachgebiet:
Unfallversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 16.09.2008 in
der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.05.2009 verurteilt,
die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu
bescheiden. Die Rechtsauffassung des Gerichts lautet dahingehend,
dass der Unfall der Klägerin vom 14.07.2007 ein Arbeitsunfall gewesen
ist Die Beklagte hat die Kosten der Klägerin zu erstatten.
Tatbestand:
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Die Beteiligten streiten darum, ob der Unfall der Klägerin vom 14.07.2007 ein
Arbeitsunfall war.
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Die am 00.00.00 geborene Klägerin erlitt am Unfalltag auf dem Gelände der vom
Zeugen F. betriebenen Reitschule Verletzungen im Bauchbereich durch einen
Pferdetritt (Rissverletzungen von Milz und Niere bei kompletter Ruptur des
Nierenparenchyms, massiver Ruptur des Parenchyms der Milz; akute Blutungsanämie).
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Gegenüber der Krankenkasse erklärte der Vater der Klägerin am 17.03.2008 zum
Unfallhergang, seine Tochter sei gefragt worden, "ob sie Pferde mit von der Koppel
holen wolle, dem stimmte sie zu." Das Pferd habe jedoch gescheut und die Klägerin
getreten.
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Die Inhaberin der Reitschule teilte der Beklagten gegenüber (laut einem Telefonvermerk
vom 15.05.2008) mit, die Klägerin sei "längere Zeit mit einer Jugendhilfegruppe ( ...) zum
Voltigieren in den Stall gekommen" und habe dann den Stall auch aus eigenem Antrieb
besucht. Da sämtliche Reitschüler über einen angeschlossenen Reitverein versichert
seien, sei es üblich, die auf dem Hof anwesenden Reitschüler verschiedentlich um die
Erledigung kleinerer Aufgaben zu bitten. Am Unfalltag sei die Klägerin mit einigen
Reitschülerinnen im Aufenthaltsraum gewesen, als die Schwester der Frau F. - die
Zeugin H. - dort vorbeigekommen sei und die Anwesenden aufgefordert habe, zwei
Pferde von der Koppel zu holen. Hiervon habe sich die Klägerin offenbar ebenfalls
angesprochen gefühlt und sei mitgekommen. Die Zeugin H. habe dies nicht moniert, da
sie offenbar nicht gewusst habe, dass die Klägerin keine Reitschülerin gewesen sei.
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Die Klägerin hielt entgegen, sie sei "bereits seit mehreren Monaten vor dem Unfall mit
Tätigkeiten in der Reitschule befasst" worden. Beispielsweise habe sie unentgeltlich
kleinere Arbeiten im Stall durchgeführt. Am Unfalltag habe die Zeugin H. der Klägerin
sowie einer anderen Anwesenden "eindeutig den Auftrag" erteilt, die Pferde auf eine
andere Koppel zu bringen.
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Mit Bescheid vom 16.09.2008 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen mit
der Begründung ab, es habe sich nicht um eine versicherte Tätigkeit gehandelt.
Insbesondere scheide ein Versicherungsschutz wegen einer Beschäftigung "wie ein
Versicherter" aus, denn aus Sicht der Klägerin habe nicht das betriebliche Interesse
(daran die Pferde auf eine andere Koppel zu bringen) im Vordergrund gestanden,
vielmehr habe es sich um ein Hobby gehandelt.
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Ihren am 24.10.2008 erhobenen Widerspruch begründete die Klägerin damit, sie habe
über einen Zeitraum von zwei Jahren in der Reitschule nach Weisung der dort
Beschäftigten Stallarbeiten verrichtet, wodurch die Reitschule wirtschaftliche Vorteile in
Form ersparter Entgeltaufwendungen erlangt habe. Zu diesem Tätigkeitsbereich habe
auch die konkrete Tätigkeit gehört, bei der es zu dem Unfall gekommen sei.
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Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 05.05.2009 (als unbegründet)
zurück. Sie führte aus, die Klägerin habe sich aus eigenwirtschaftlichen Gründen
(freundschaftliche Kontakte, Interesse am Umgang mit Pferden) auf dem Gelände der
Reitschule aufgehalten und in diesem Zusammenhang auch die zum Unfall führende
Tätigkeit verrichtet. Für die Annahme einer fremdwirtschaftlichen Handlungstendenz
reiche nicht aus, dass diese Tätigkeit für die Reitschule von Nutzen gewesen sei und
die Beschäftigten der Reitschule die Klägerin auf dem Betriebsgelände geduldet hätten.
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Hiergegen richtet sich die am 08.06.2009 erhobene Klage.
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Die Klägerin führt ergänzend aus, sie habe seit dem Jahr 2006 Tätigkeiten wie den Stall
fegen, Pferde satteln und striegeln etc. verrichtet. Außerdem habe sich sich mit
Voltigieren beschäftigt. Die zum Unfall führende Tätigkeit habe sie auf ausdrückliche
Weisung der Zeugin H. ausgeführt.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 16.09.2008 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 05.05.2009 zu verurteilen, sie unter Beachtung der
Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie ist der Auffassung, dass es angesichts der erkennbaren Handlungstendenz weder
auf den Umfang der Mithilfe in der Reitschule noch auf eine eventuelle Duldung durch
deren Inhaber ankomme.
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Das Gericht hat den Inhaber der Reitschule, Herrn F., seine Schwägerin Frau H. sowie
eine weitere regelmäßige Besucherin der Reitschule, Frau P. zeugenschaftlich
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vernommen. Wegen der Aussagen wird auf die Anlagen zum Protokoll der mündlichen
Verhandlung vom 25.11.2009 verwiesen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene
Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gewesen ist, verwiesen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist zulässig, insbesondere konnte die Klägerin ihre Klage zulässigerweise auf
die Neubescheidung durch die Beklagte unter Beachtung der Rechtsauffassung des
Gerichts beschränken.
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Klage ist auch begründet. Die Klägerin ist durch die verweigerte Anerkennung des
Unfalls vom 14.07.2007 als Arbeitsunfall beschwert i.S.d. § 54 Abs. 2 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz (SGG). Bei dem Unfall hat es sich um einen Arbeitsunfall i.S.d. § 8
Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB
VII) gehandelt. Nach dieser Vorschrift sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten
infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden
Tätigkeit.
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Im vorliegenden Fall ist es infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2 Abs. 2 Satz
1 SGB VII begründenden Tätigkeit zu dem streitigen Unfall gekommen. Die Handlung
der Klägerin, die unmittelbar zum Unfall geführt hat (der Versuch, ein Pferd zum
Verlassen der Koppel zu bewegen) war Teil einer Tätigkeit, die die Klägerin wie eine
Versicherte i.S.d. § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII ausgeübt hat.
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Gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII sind Personen gegen Arbeitsunfall versichert, die wie
ein nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII Versicherter tätig werden. Versicherungsschutz nach
§ 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII besteht, wenn die zum Unfall führende Handlung eine ernste,
dem fremden (d.h. dem unterstützten) Unternehmen zu dienen bestimmte Tätigkeit war
und dem ausdrücklichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers (oder seines
Vertreters) entsprochen hat. Erforderlich ist weiter, dass die Tätigkeit ihrer Art nach von
Personen verrichtet werden konnte, die in einem Beschäftigungsverhältnis stehen und
sie unter Umständen geleistet wird, die im Einzelfall der Tätigkeit im Rahmen eines
Beschäftigungsverhältnisses entsprechen (vgl. BSG, SozR 3-2200 § 548 Nr. 20 m.w.N.;
aus neuerer Zeit etwa Bayerisches LSG, Urteil vom 01.07.2009 L 2 U 46/07 m.w.N.). Auf
Häufigkeit und Dauer der Tätigkeit kommt es nicht entscheidend an, schon eine
wirtschaftlich geringfügige Hilfe von kurzer Dauer genügt (Ricke, in: Kasseler
Kommentar Sozialversicherungsrecht, § 2 SGB VII, Rn. 105 m.w.N.). Auch eine
persönliche Abhängigkeit vom Unternehmer oder eine Eingliederung in das
Unternehmen durch Einrichtung eines quasi-arbeitgeberlichen Direktionsrechts sind
nicht erforderlich.
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Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt.
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Dass es sich bei der zum Unfall führenden Handlung um eine ernsthafte Tätigkeit
gehandelt hat, hat die Beklagte nicht bestritten und liegt im Übrigen schon angesichts
der Schwierigkeit und Gefährlichkeit dieses Unterfangens auf der Hand.
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Es hat auch entgegen der Auffassung des Beklagten nicht an der erforderlichen
fremdwirtschaftlichen Zweckbestimmung gefehlt. Maßgebliches Kriterium ist insoweit
die Handlungstendenz des Verletzten: Nicht wie ein Versicherter wird tätig, wer – unter
Berücksichtigung der gesamten objektiven Umstände des Einzelfalls - mit seinem
Verhalten in Wirklichkeit wesentlich seine eigenen Angelegenheiten verfolgt (BSG,
Urteil vom 26.06.2007, B 2 U 35/06 R). Von der Handlungstendenz zu unterscheiden
sind allerdings die Motive für das Tätigwerden (BSG, Urteil vom 05.03.2002, B 2 U 9/01
R), die im Übrigen "sogar" bei einem nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII Versicherten ganz
regelmäßig rein eigennütziger Natur sind.
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Die Klägerin hat mit der zum Unfall führenden Handlung weder in wirtschaftlicher noch
in ideeller Hinsicht vornehmlich ihre eigenen Interessen verfolgt. Sie hat eine Aufgabe
zu erledigen versucht, die ganz überwiegend im Interesse des Unternehmens gelegen
hat. Im Unterschied zu dem Sachverhalt, der dem Urteil des LSG Schleswig-Holstein
vom 13.12.2006, L 1 U 56/06, zugrundelag, ging es im vorliegenden Fall nicht etwa um
die Versorgung eines eigenen Pferdes. Auch hat sich der Unfall nicht bei der
Vorbereitung des eigenen Reitens oder Voltigierens ereignet (vgl. LSG Nordrhein-
Westfalen, Urteil vom 23.11.1999, L 15 U 170/99 - obiter dictum). Vielmehr sollte das
Pferd von der Koppel geholt werden, um Platz für ein anderes Pferd zu machen, wie das
Gericht den Angaben der Klägerin und auch der Aussage der Zeugin H. entnimmt.
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Es kann dahinstehen, ob die Klägerin die Hilfstätigkeiten in der Reitschule (und darunter
auch die zum Unfall führende Tätigkeit) nur verrichtet hat, um in den Genuss
kostenlosen Reitens oder Voltigierens zu kommen, oder ob ihr auch die Hilfstätigkeiten
an sich Freude bereitet haben. Beides gehört zu dem angesichts § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB
VII unbeachtlichen Bereich der Motivation (zu einem ähnlich gelagerten Fall
Sozialgericht Hamburg, Urteil vom 19.12.2007, S 40 U 86/07). Hätte die Klägerin in der
Mitarbeit auf dem Reiterhof lediglich ein "notwendiges Übel" erblickt, um kostenlos
Reiten oder Voltigieren zu dürfen, so spräche dies aus Sicht der Kammer gerade für die
Arbeitnehmerähnlichkeit i.S.d. § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII. Die Klägerin hätte sich dann
nicht viel anders verhalten, als ein Beschäftigter, der "notgedrungen" arbeitet, damit er
entlohnt wird - nur dass die Entlohnung gleichsam "in Naturalien" (nämlich in der
Gelegenheit zum Voltigieren) erfolgt wäre. Aber auch wenn die Klägerin - wofür ihre
Angaben sprechen - insgesamt Freude an der Arbeit mit Pferden (also auch an deren
Pflege) und an der Stimmung in der Reitschule hatte, kann ihr dies ebensowenig
entgegengehalten werden wie dies bei einer (i.S.d. § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII
beschäftigten) Pferdewirtin der Fall wäre. Anders wäre es nur, wenn der Klägerin gerade
an der konkrete Tätigkeit, bei der es zum Unfall gekommen ist, soviel gelegen hätte,
dass diese als Selbstzweck angesehen werden müsste. Hierfür fehlen jedoch
Anhaltspunkte, insbesondere hat die Klägerin nachvollziehbar angegeben, sie sei
schon von Anfang skeptisch gewesen, da sie das betreffende Pferd noch nicht gekannt
habe.
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Auch die übrigen Voraussetzungen einer Versicherung nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII
sind erfüllt.
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Dass die zum Unfall führende Tätigkeit dem Willen des Unternehmers entsprochen hat,
hat die Beklagte nicht in Zweifel gezogen. Unschädlich ist insoweit auch, dass die
Aufforderung, das Pferd von der Koppel zu holen, nicht unmittelbar vom Inhaber der
Reitschule gekommen. Den Aussagen des Zeugen F. und der Zeugin H. entnimmt das
Gericht, dass die Zeugin H. befugt war, Anweisungen auszusprechen bzw. die
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anwesenden Mädchen um Hilfe zu bitten. Ebenso steht fest, dass die Zeugin H. wollte,
dass auch das Pferd, das die Klägerin später getreten hat, auf eine andere Koppel
kommt. Dass die Zeugin H. die Klägerin nicht eigens für diese Aufgabe ausersehen hat,
ist unbeachtlich, ebenso auch, dass die Klägerin hätte ablehnen können, denn im
Rahmen der Prüfung nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB VII ist es sogar unschädlich, wenn
überhaupt keine Verpflichtung zu der unfallbringenden Tätigkeit bestanden hat (vgl. SG
Hamburg, Urteil vom 19.12.2007, S 40 U 86/07).
Das Gericht hat im Übrigen auch keine Zweifel daran, dass die Tätigkeit ihrer Art nach
von Personen verrichtet werden konnte, die in einem Beschäftigungsverhältnis stehen.
Der Zeuge F. hat insoweit glaubhaft bekundet, dass andernfalls er, seine Frau oder eine
Beschäftigte die Pferde auf eine andere Koppel gebracht hätten. Auch sind keine
Umstände (insbesondere in der Beziehung zwischen der Klägerin und dem
Unternehmen) ersichtlich, die für ein Abweichen vom typischen Bild eines
Beschäftigungsverhältnisses sprechen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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