Urteil des SozG Aachen vom 14.07.2009

SozG Aachen: sozialhilfe, stadt, datum, abgrenzung, behörde, haftentlassung, kreis, satzung, anpassung, aufenthalt

Sozialgericht Aachen, S 20 SO 20/09
Datum:
14.07.2009
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
20. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 20 SO 20/09
Sachgebiet:
Sozialhilfe
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die
Beteiligten einander nicht zu erstatten. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch des Klägers auf Leistungen der
Grundsicherung (GSi) im Alter nach dem 4. Kapitel des Zwölften Buch
Sozialgesetzbuch (SGB XII) für die Zeit vom 01.05. bis 31.05.2008 in Höhe von 518,00
EUR.
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Der am 00.00.1941 geborene Kläger ist verheiratet. Er übte früher den Beruf eines
Rechtsanwalts aus. Vom 13.09.2006 bis 30.04.2008 war er inhaftiert. Am
Entlassungstag (30.04.2008) wurde ihm das während der Haftzeit verdiente und
angesparte Überbrückungsgeld in Höhe von 1.862,45 EUR in bar ausgezahlt. Der
Kläger bewohnt mit seiner Ehefrau eine 72 qm große Wohnung; die monatliche Miete
beträgt inklusive Nebenkosten 342,00 EUR; an Heizkosten sind monatlich 70,00 EUR
vorauszuzahlen. Die Ehefrau des Klägers bezieht Arbeitslosengeld II nach dem Zweiten
Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
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Am 27.05.2008 beantragte der Kläger Leistungen der GSi im Alter ab 01.05.2008.
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Der Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 04.06.2008 ab. Er stellte dem
sozialhilferechtlichen Bedarf des Klägers in Höhe von 518,00 EUR (Regelsatz: 312,00
EUR; Kosten der Unterkunft [1/2 von 342,00 EUR]: 171,00 EUR; Heizkosten (1/2 von
70,00 EUR]: 35,00 EUR) einzusetzendes Vermögen in Höhe des
Überbrückungsgeldbetrages von 1.862,45 EUR gegenüber. Da das einzusetzende
Vermögen den Bedarf übersteige, bestehe kein Sozialhilfeanspruch.
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Dagegen legte der Kläger am 18.06.2008 Widerspruch ein, soweit ab 01.06.2008 die
Gewährung von GSi-Leistungen abgelehnt worden war.
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Durch Bescheid vom 30.06.2008 half der Beklagte dem Widerspruch ab und bewilligte
Leistungen der GSi für die Zeit vom 01.06.2008 bis 30.06.2009 in Höhe von monatlich
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518,00 EUR,
Am 01.07.2008 legte der Kläger gegen den Bescheid vom 04.06.2008 auch insoweit
Widerspruch ein, als Sozialhilfe für die Zeit vom 01.05. bis 31.05.2008 abgelehnt
worden war. Er vertrat die Auffassung, das Überbrückungsgeld sei das ihm zustehende
Arbeitsentgelt bzw. Einkommen für die in der Justizvollzugsanstalt (JVA) geleistete
Arbeit. Nach Eingang auf dem Überbrückungsgeldkonto werde es zum Vermögen. Es
werde jeweils am Ende eines Monats, nicht im voraus gezahlt. Daraus folge zwingend,
dass das Überbrückungs- geld nicht Einkommen für die Zeit nach der Haftentlassung
sein könne. Das erworbene kleine Vermögen biete die Lebensgrundlage im Sinne des §
51 Strafvollzugsgesetz (StVollzG). Liege das Vermögen unterhalb der Grenze von
2.600,00 EUR, stehe es dem Gefangenen wie auch den anderen Arbeitnehmern zu.
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Der Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 03.03.2009 als
unbegründet zurück. Er führte aus, das ausgezahlte Überbrückungsgeld sei
zweckbestimmt zur Deckung des notwendigen Lebensunterhaltes zu verwenden und
könne somit weder insgesamt noch in Teilen als Schonvermögen bei der Berechnung
von GSi-Leistungen außer Betracht bleiben. Der GSi-Bedarf im Monat Mai 2008 habe
518,00 EUR betragen. Als Überbrückungsgeld sei bei der Haftentlassung ein Betrag
von 1.862,45 EUR ausgezahlt worden. Somit habe der Kläger seinen Lebensunterhalt
im Mai 2008 vollständig aus eigenen Mitteln bestreiten können.
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Dagegen hat der Kläger am 16.03.2009 Klage erhoben. Er ist der Auffassung, das
Überbrückungsgeld sei als Vermögen anzusehen, weil es vor der Beantragung von
Sozialhilfe angespart und ausgezahlt worden sei. Für die Abgrenzung von Einkommen
und Vermögen komme es nicht auf den Beginn des Bedarfszeitraums an, sondern auf
das Datum der Antragstellung. Der Kläger meint, die Auffassung, das
Überbrückungsgeld sei Einkommen, stehe in krassem Gegensatz zur ständigen
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Maßgeblich sei das Zuflussprinzip.
Erfolge der Zufluss - wie in seinem Fall - vor Beginn der Leistungen nach dem SGB XII,
handele es sich um Vermögen, erfolge der Zufluss danach, handele es sich um
Einkommen.
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Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
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die Bescheide des Beklagten vom 04.06. und 30.06.2008 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 03.03.2009 aufzuheben, soweit ihm dadurch
Grundsicherungsleistungen in Höhe von 518,00 EUR für den Monat Mai 2008
verweigert worden sind, und den Beklagten zu verpflichten, ihm 518,00 EUR nebst
gesetzlichen Zinsen ab 01.07.2008 zu zahlen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er verweist auf seine in den angefochtenen Bescheiden vertretene Auffassung und
beruft sich auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 21.06.1990 - 5
C 64/86.
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Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung der Kammer durch
Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der
Gerichtsakte sowie der den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, die bei
der Entscheidung vorgelegen haben, Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Die Kammer konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich
die Beteiligten übereinstimmend mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt
haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG).
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Die die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.
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Richtiger Beklagter ist der Bürgermeister der Stadt Stolberg; dieser ist beteiligtenfähig
im Sinne von § 70 Nr. 3 SGG. Soweit der 9. Senat des Landessozialgerichts für das
Land Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) im Urteil vom 19.03.2009 (L 9 SO 9/07) diese
seit langem vertretene Auffassung der Kammer "in Ermangelung abweichender
Vorschriften im Sinne des § 70 Nr. 3 SGG" für "unzutreffend" und deshalb allein die
Stadt selbst gem. § 70 Nr. 1 SGG für den richtigen Beklagten hält, hat er offenbar die
Vorschrift des § 3 des Gesetzes zur Ausführung des SGG im Lande NRW (AG-SGG
NRW) vom 08.12.1953 (GVBl. NRW 1953, 412), zuletzt geändert durch Art. II des
Gesetzes vom 28.10.2008 (GVBl. NRW 2008, 646), übersehen. Die Vorschrift lautet:
"Behörden sind fähig, am Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit beteiligt
zu sein." Behörde in diesem Sinne ist der Bürgermeister der Stadt Stolberg als Organ
und Behörde der Stadt, die vom zuständigen Leistungsträger zur Durchführung der
Aufgabe herangezogen worden ist. Träger der Grundsicherung ist nach § 3 Abs. 2 SGB
XII i.V.m. §§ 97, 98 SGB XII zwar der Kreis Aachen; dieser hat allerdings nach § 99 Abs.
1 SGB XII i.V.m. Art. 1 § 3 Abs. 1 des Gesetzes zur Anpassung des Landesrechts an das
SGB XII vom 16.12.2004 (GVBl. NRW 2004, 816) zur Durchführung der ihm als
Sozialhilfeträger obliegenden Aufgaben die Stadt Stolberg durch Satzung
herangezogen (§ 1 Abs. 1 der Satzung über die Durchführung der Sozialhilfe im Kreis
Aachen vom 22.06.2006), die in eigenem Namen entscheidet. Für die Stadt Stolberg
handelt der Bürgermeister als beteiligtenfähige Behörde (ebenso: BSG, Urteil vom
16.10.2007 - B 8/9b SO 8/06 R in Bezug auf den Bürgermeister der Stadt Düren; Urteil
vom 26.08.2008 - B 8/9b SO 18/07 R in Bezug auf den Oberbürgermeister der Stadt
Aachen; Urteil vom 28.10.2008 - B 8 SO 23/07 R in Bezug auf den Landrat des Kreises
Herford).
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Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2
SGG beschwert, da sie nicht rechtswidrig sind. Er hat für Mai 2008 keinen Anspruch auf
Sozialhilfe (hier: GSi-Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII), da er seinen
sozialhilferechtlichen Bedarf in diesem Monat aus seinem vorhandenen Vermögen
decken konnte.
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Nach § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB XII erhalten ältere Personen mit gewöhnlichem Aufenthalt
im Inland, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht aus Einkommen und Vermögen
nach den §§ 82 bis 84 und 90 beschaffen können, auf Antrag GSi im Alter. Der Kläger ist
allein wegen seines Alters grundsätzlich leistungsberechtigt, da er die Altersgrenze von
65 Lebensjahren (vgl. § 41 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB XII) im Mai 2008 erfüllt hat. Der
Beklagte hat den sozialhilferechtlichen Bedarf des Klägers für den streitbefangenen
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Monat zutreffend mit 518,00 EUR beziffert; dieser Bedarf wird vom Kläger auch
anerkannt und mit der Klage geltend gemacht. Dem Anspruch auf Sozialhilfe steht
jedoch entgegen, dass der Kläger zu Beginn des Bedarfszeitraums am 01.05.2008 über
einzusetzendes Vermögen in Form des Überbrückungsgeldes verfügte.
Sozialhilferechtlich ist Einkommen alles das, was jemand in der Bedarfszeit wertmäßig
dazu erhält, und Vermögen das, was er in der Bedarfszeit bereits hat (sog.
Zuflusstheorie; BVerwG, Urteil vom 18.02.1999 - 5 C 35/97 = BVerwGE 108, 286). An
dieser noch unter Geltung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) getroffenen
Abgrenzung hat sich seit der Ablösung des BSHG durch das SGB XII ab 01.01.2005
nichts geändert. Soweit das BSG durch Urteil vom 30.07.2008 (B 14/11b AS 17/07 R),
auf das der Kläger sich beruft, entschieden hat, dass - anders als unter der Geltung des
BSHG - maßgeblicher Zeitpunkt für die Unterscheidung von Einkommen und Vermögen
die Antragstellung ist und Einkommen grundsätzlich alles das ist, was jemand nach der
Antragstellung wertmäßig dazu erhält, und Vermögen das, was er von Antragstellung
bereits hatte, bezieht sich dies ausdrücklich auf das SGB II. Das BSG hat dies damit
begründet, dass die Leistungsgewährung nach § 5 BSHG keinen Antrag vorausgesetzt
habe, weshalb Bedarfszeit nach der Rechtsprechung des BVerwG die Zeit gewesen sei,
in der der Bedarf bestanden habe und (grundsätzlich rechtzeitig) zu decken gewesen
war. Bei der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG sei in der Regel auf den
jeweiligen Kalendermonat als der für die Abgrenzung von Einkommen und Vermögen
maßgeblichen Bedarfszeit abzustellen gewesen. An dieser Rechtsprechung könne - so
das BSG - für das SGB II nicht angeknüpft werden, weil § 37 SGB II ein konstitutives
Antragserfordernis statuiere, sodass Leistungen erst ab Antragstellung zustünden.
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Diese Rechtsprechung des BSG ist auf Sozialhilferecht und speziell auch auf das GSi-
Recht nach dem 4. Kapitel des SGB XII nicht übertragbar, auch wenn GSi-Leistungen
nur auf Antrag (vgl. § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB XII) gewährt werden. Denn anders als SGB
II-Leistungen, die nicht für die Zeit vor der Antragstellung erbracht werden (§ 37 Abs. 2
Satz 1 SGB II), beginnt der Bewilligungszeitraum für Leistungen der GSi im Alter am
Ersten des Monats, in dem der Antrag gestellt worden ist oder die Voraussetzungen für
Änderungen eingetreten oder mitgeteilt worden sind (§ 44 Abs. 1 Satz 2 SGB XII). Auch
hier kommt es also nicht allein auf das Datum der Antragstellung an, sondern auf den
Beginn des Bedarfsmonats (der Antragstellung), hier also auf den 01.05.2008. Zu
diesem Zeitpunkt war dem Kläger das in der Haft verdiente und angesparte
Überbrückungsgeld bereits zugeflossen; es war ihm am Tag der Entlassung, dem
30.04.2008, in bar ausgezahlt worden. Da der Kläger das Geld also bereits zu Beginn
des Bedarfszeitraums am 01.05.2008 hatte, handelt es sich sozialhilferechtlich um
Vermögen. Dieses Vermögen hatte der Kläger im streitbefangenen Zeitraum im vollem
Umfang einzusetzen.
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Der Kläger kann sich nicht darauf berufen, dass die Sozialhilfe nicht vom Einsatz eines
Barbetrages unter 2.600,00 EUR (vgl. § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 1
Nr. 1. a) der Durchführungsverordnung zu § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII) hätte abhängig
gemacht werden dürfen. Der Kläger verkennt die Bedeutung des § 51 Abs. 1 StVollzG,
der den Zweck des Überbrückungsgeldes bestimmt. Hierzu hat das BVerwG im Urteil
vom 21.06.1990 (5 C 64/86) ausgeführt: "Das Überbrückungsgeld dient nach seiner
gesetzlichen Zweckbestimmung der Sicherung des notwendigen Lebensunterhalts nach
der Entlassung des Gefangenen. Dieser soll seinen Lebensunterhalt nach der
Entlassung mit eigenen Mitteln bestreiten können und nicht auf Sozialhilfe angewiesen
sein, die dem Mittellosen sonst den notwendigen Lebensunterhalt sichert. Die
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Verpflichtung, ein Überbrückungsgeld zu bilden, dient also der Freistellung von
Sozialhilfe. Dieser Funktion entsprechend muss es geeignet sein, in vorhandener Höhe
einen ohne Überbrückungsgeld bestehenden Sozialhilfeanspruch zu beseitigen. An
dieser Funktion gemessen können weder das ganze Überbrückungsgeld noch Teile
davon Schonvermögen sein. Denn soweit es Schonvermögen wäre, minderte es die
Sozialhilfebedürftigkeit nicht. Ordnete man das Überbrückungsgeld oder Teile davon als
Schonvermögen ein, könnte damit der in § 51 StVollzG für das Überbrückungsgeld
festgesetzte Zweck, die Sicherung des notwendigen Lebensunterhalts, nicht erreicht
werden." Diesen überzeugenden Ausführungen schließt sich die Kammer an (vgl.
ebenso: VG Augsburg, Beschluss vom 25.07.2002 - Au 9 E 02.754; VG Augsburg, Urteil
vom 15.02.2002 - Au 3 K 01.1210; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 24.04.2009 - L
12 AS 5623/08).
Da das am 01.05.2008 vorhandene Vermögen des Klägers in Höhe von 1.862,64 EUR
seinen sozialhilferechtlichen Bedarf für Mai 2008 in Höhe von 518,00 EUR um 1.344,45
EUR überstieg, hatte er keinen Anspruch auf Sozialhilfe für diesen Monat und war die
Klage abzuweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Das Gericht hat die im Hinblick auf den Wert des Beschwerdegegenstandes (518,00
EUR) an sich nicht statthafte Berufung (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) gemäß §
144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, weil sie der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung
beimisst.
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