Urteil des SozG Aachen vom 05.10.2010

SozG Aachen (kläger, entstehung des anspruchs, arbeitsentgelt, höhe, bemessungszeitraum, arbeitslosigkeit, anwartschaft, bemessung, grund, unterbrechung)

Sozialgericht Aachen, S 11 AL 104/10
Datum:
05.10.2010
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
11. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 11 AL 104/10
Nachinstanz:
Landessozialgericht NRW, L 1 AL 327/10
Sachgebiet:
Arbeitslosenversicherung
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
1
Der Kläger begehrt höheres Arbeitslosengeld (Alg). Streitig ist, ob die Höhe des
Anspruchs auf Basis des vor seiner Erkrankung tatsächlich erworbenen Entgelts oder in
fiktiver Höhe zu berechnen ist.
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Der 00 Jahre alte Kläger hatte ursprünglich am 01.04.2005 einen Alg-Anspruch
erworben. Anschließend erkrankte er und bezog Übergangsgeld, eine
Erwerbsminderungsrente, später wieder Arbeitslosengeld und schließlich vom
30.04.2007 bis einschließlich 04.11.2009 Krankentagegeld von seiner privaten
Krankenversicherung. Am 26.01.2009 bat der Kläger um Mitteilung, wie lange er noch
Anspruch auf das Restguthaben von 538 Tagen habe, da die Ärzte ihm mitgeteilt hätten,
dass er dieses Jahr wieder arbeitsfähig würde, wenn es zu keinem Rezidiv komme. Die
Beklagte teilte dem Kläger mit, dass sein Alg-Anspruch neu berechnet würde, wenn er
sich arbeitslos melden würde, da er über ein Jahr Krankengeld bezogen habe. Die
Dauer seines Anspruchs würde sich sogar verlängern. Der momentane Höchstanspruch
liege bei 720 Tagen.
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Am 05.11.2009 meldete sich der Kläger arbeitslos und beantragte Alg. Die Beklagte
kam zu dem Ergebnis, dass der Kläger weder im einjährigen noch im verlängerten
zweijährigen Bemessungsrahmen versicherungspflichtiges Entgelt erhalten hatte und
daher der Alg-Anspruch auf Basis eines fiktiven Entgelts zu ermitteln ist. Sie ordnete
den Kläger in Qualifikationsgruppe 3 ein (Ausbildungsberuf) und kam zu einem
Bemessungsentgelt von 67,20 EURO. Die Anspruchsdauer ermittelte sie mit 720 Tagen.
Mit Bescheid vom 23.11.2009 bewilligte die Beklagte Alg in Höhe von 20,13 EURO
täglich ab dem 05.11.2009.
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Hiergegen legte der Kläger über seinen Bevollmächtigten am 09.12.2009 Widerspruch
ein. Er führte aus, sich gegen die Einordnung in die Qualifikationsgruppe 3 zu wehren,
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sowie gegen den Verfall des Altanspruches. Der Kläger sei von 1989 bis 31.03.2005 als
System-Ingenieur tätig gewesen, zuletzt bei einem Verdienst von 5.200 EURO brutto
zzgl. Bonuszahlungen. Nach seiner Kündigung zum 31.03.2010 habe sich der Kläger
arbeitslos gemeldet und Alg in Höhe von 52,69 EURO täglich bezogen und die
Anspruchsdauer sei mit 775 Tagen berechnet worden. Ab dem 06.04.2005 sei der
Kläger arbeitsunfähig erkrankt. Er sei zunächst in einer Reha-Maßnahme gewesen und
habe Überbrückungsgeld von 52,69 EURO tgl. vom 04.05.2005 bis 25.05.2005 erhalten.
In der Zeit vom 01.11.2005 bis 30.09.2006 habe er eine Rente wegen voller
Erwerbsminderung in Höhe von monatlich 1.481,45 EURO und ab dem 01.10.2006
habe er wieder Arbeitslosengeld bezogen. Der Restanspruch habe 747 Tage umfasst.
Ab dem 19.03.2007 sei der Kläger erneut erkrankt und die Leistungen seien von der
Beklagten ab dem 30.04.2007 eingestellt worden. Der Kläger habe anschließend
Krankentagegeld von seiner privaten Krankenversicherung bezogen. Auf die Anfrage
des Klägers sei mitgeteilt worden, dass sich die Dauer seines Anspruchs verlängere,
nicht aber, dass die Höhe reduziert würde. Der Kläger warf der Beklagten diesbezüglich
einen Beratungsfehler vor. Ferner sei er in eine höhere Qualifiaktonsgruppe
einzuordnen. Der Kläger habe über einen langen Zeitraum qualifizierte Tätigkeiten
ausgeübt und sich laufend fortgebildet, was auch Zeugnisse belegten. Die für den
Kläger zu ermittelnde Tätigkeit sei im Bereich des Service- oder System-Ingenieurs
anzusiedeln. Diese Bereiche setzten heutzutage überwiegend ein Studium voraus.
Auch die mit 5.200 EURO brutto pro Monat hohe Vergütung dürfe dabei nicht außer Acht
gelassen werden. Es würde ältere Menschen benachteiligen, wenn die durch
Berufserfahrung erlangte Qualifikation bei der fiktiven Bemessung keine Rolle spielen
würde. Es sei auch nicht zu erkennen, dass sich die Beklagte überhaupt sinnvoll mit der
Qualifikationstufe auseinandergesetzt habe. Die Beklagte hat hierauf die Einordnung in
die Qualifikationsgruppe geprüft, blieb jedoch ohne irgendwelche Unterlagen vom
Kläger anzufordern, die seinen Vortrag belegen, bei der Einordnung in die Gruppe 3. Mit
Bescheid vom 19.02.2010 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 15.03.2010 Klage erhoben. Er begehrt die Zahlung von
Arbeitslosengeld auf Basis eines Bemessungsentgelts von 173,33 EURO. Seit dem
01.06.2010 bezieht der Kläger eine Rente wegen Schwerbehinderung. Der Kläger hat in
der mündlichen Verhandlung diverse Unterlagen mitgebracht, um darzulegen, dass er in
die Qualifikationsgruppe 1 einzuordnen ist. Die Beklagte hat hierauf den Anspruch des
Klägers insoweit anerkannt, als sie sich dazu verpflichtet hat, Alg unter Zugrundelegung
der Qualifikationsgruppe 1 zu zahlen. Der Kläger hat dieses Teilanerkenntnis
angenommen.
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Im Übrigen beantragt der Kläger,
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die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 23.09.2009 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 19.02.2010 zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit vom
05.11.2009 bis zum 31.05.2010 Arbeitslosengeld unter Zugrundelegung des zuletzt
tatsächlich erzielten Entgelts zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts-
und Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die der Kammer vorgelegen haben und
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deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
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Die Klage ist zulässig aber unbegründet. Der angegriffene Bescheid ist in der Gestalt,
die er durch das im Termin angenommene Teilanerkenntnis erhalten hat, rechtmäßig
und der Kläger daher nicht in seinen Rechten gemäß § 54 Abs. 2 Satz 1
Sozialgerichtsgesetz (SGG) verletzt. Der Kläger hat keinen Anspruch auf
Arbeitslosengeld unter Zugrundelegung seines tatsächlich erzielten Arbeitsentgelts.
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Gemäß § 118 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III) haben
Arbeitnehmer Anspruch auf Arbeitslosengeld bei Arbeitslosigkeit, die 1. arbeitslos sind,
2. sich bei der Agentur für Arbeit arbeitslos gemeldet und 3. die Anwartschaftszeit erfüllt
haben. Gemäß § 129 Nr. 2 SGB III beträgt das Arbeitslosengeld für Arbeitslose, die nicht
mindestens ein Kind im Sinne des § 32 Abs. 1, 3 bis 5 des Einkommensteuergesetzes
haben (bzw. deren Ehegatte) 60 Prozent (allgemeiner Leistungssatz) des
pauschalierten Nettoentgelts (Leistungsentgelt), das sich aus dem Bruttoentgelt ergibt,
das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat (Bemessungsentgelt). Der
Bemessungszeitraum umfasst nach § 130 Abs. 1 Satz 1 SGB III die beim Ausscheiden
des Arbeitslosen aus dem jeweiligen Beschäftigungsverhältnis abgerechneten
Entgeltabrechnungszeiträume der versicherungspflichtigen Beschäftigungen im
Bemessungsrahmen. Der Bemessungsrahmen umfasst hierbei grundsätzlich ein Jahr
und endet mit dem letzten Tag des letzten Versicherungspflichtverhältnisses vor der
Entstehung des Anspruchs (also hier am 04.11.2009). Nach § 130 Abs. 3 Nr. 1 SGB III
wird der Bemessungsrahmen auf zwei Jahre erweitert, wenn der Bemessungszeitraum
weniger als 150 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt enthält. Da der Kläger im
einjährigen Bemessungsrahmen wegen des Bezugs von Krankentagegeld keinen
Anspruch auf Arbeitsentgelt hatte, war der Bemessungsrahmen auf zwei Jahre zu
erweitern.
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Der Kläger hatte jedoch auch in den zwei Jahren vor dem 05.11.2009 keinen Anspruch
auf Arbeitsentgelt, da er auch in dieser Zeit Krankentagegeld bezogen hat. Kann ein
Bemessungszeitraum von mindestens 150 Tagen mit Anspruch auf Arbeitsentgelt
innerhalb des auf zwei Jahre erweiterten Bemessungsrahmens nicht festgestellt
werden, ist gemäß § 131 Abs. 1 SGB III als Bemessungsentgelt ein fiktives
Arbeitsentgelt zugrunde zu legen. Dieses bemisst sich nach § 131 Abs. 2 SGB III nach
verschiedenen Qualifikations-Gruppen. Gemäß § 131 Abs. 2 Nr. 1 SGB III ist für
Beschäftigungen, die eine Hochschul- oder Fachhochschulausbildung erfordern
(Qualifikationsgruppe 1), ein Arbeitsentgelt in Höhe von einem Dreihundertstel der
Bezugsgröße zu Grunde zu legen. Da die Beklagte in der mündlichen Verhandlung
anerkannt hat, dem Kläger Alg auf Basis der höchsten Qualifikationsgruppe zu zahlen,
erübrigen sich Ausführungen zu den Voraussetzungen der einzelnen
Qualifikationsgruppen.
15
Soweit der Kläger die Vorschrift des § 131 SGB III für verfassungswidrig hält, weil die
von ihm über Jahrzehnte hinweg eingezahlten Beiträge nunmehr nur noch zu einem
erheblich reduzierten Leistungsanspruch führen, folgt die Kammer dem nicht. Es ist
weder ein Verstoß gegen Art. 3 GG noch gegen Art. 14 GG erkennbar. Der 11a. Senat
des Bundessozialgerichts (Urteil vom 29.05.2008, B 11a AL 23/07 R) hat in einem Fall
der fiktiven Bemessung nach Zeiten der Kindererziehung zu Art. 3 GG überzeugend
folgendes ausgeführt:
16
"Der allgemeine Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG gebietet dem Gesetzgeber,
wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Er gilt für
ungleiche Belastungen wie auch für ungleiche Begünstigungen (stRspr, vgl zB BVerfGE
110, 412, 431 mwN).
17
Damit ist dem Gesetzgeber aber weder jede Differenzierung verwehrt, noch ist es ihm
untersagt, von Differenzierungen abzusehen, die er vornehmen dürfte. Art 3 Abs 1 GG ist
allerdings verletzt, wenn sich ein vernünftiger Grund für eine gesetzliche Differenzierung
oder Gleichbehandlung nicht finden lässt bzw wenn eine Gruppe von Normadressaten
im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden
Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie
die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können. Da die zu regelnden
Lebenssachverhalte einander nie in allen, sondern stets nur in einzelnen Merkmalen
gleichen, ist es aber grundsätzlich Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, welche
von diesen Merkmalen er als maßgebend für eine Gleich- oder Ungleichbehandlung
ansieht, solange er diese Auswahl sachgerecht und nicht willkürlich trifft. Innerhalb
dieser Grenzen ist er in seiner Entscheidung grundsätzlich frei, soweit seine
Gestaltungsfreiheit nicht durch andere Verfassungsnormen wie zB den sich aus Art 6
Abs 1 GG ergebenden Schutzauftrag zusätzlich eingeschränkt ist (s unter 2d). Was in
Anwendung des Gleichheitssatzes sachlich vertretbar oder sachfremd und deshalb
willkürlich ist, lässt sich nicht abstrakt und allgemein feststellen, sondern stets nur in
Bezug auf die Eigenart des konkret geregelten Sachbereichs (stRspr, vgl ua BVerfGE
87, 1; BVerfGE 90, 226 = SozR 3-4100 § 111 Nr 6; BVerfGE 107, 205; BVerfGE 110,
412; BSG SozR 4-4300 § 124 Nr 1, jeweils mwN).
18
Auf dieser Grundlage bestehen keine durchgreifenden Bedenken dagegen, dass der
Gesetzgeber bei allen Versicherten, die keinen ausreichend zeitnahen
Bemessungszeitraum von wenigstens 150 Tagen mit Anspruch auf Arbeitsentgelt
vorzuweisen haben, die Indizwirkung des zuletzt erzielten Lohns für den auf Grund des
Versicherungsfalls derzeit eintretenden Lohnausfall als nicht mehr gewährleistet ansieht
und deshalb stattdessen den voraussichtlich aktuell erzielbaren Lohn zur
Bemessungsgrundlage erhebt. Aus den schon genannten Gründen liegt darin weder
eine willkürliche Gleichbehandlung von erziehenden Eltern mit anderen Versicherten
noch ist die Aktualisierung der Bemessungsgrundlage als solche sachwidrig, weil sie
dem Lohnersatzcharakter des Alg und damit einem zentralen Grundgedanken der zu
regelnden Materie Rechnung trägt. Diese Rechtsfolge und das zu Grunde liegende
Anliegen, das Arbeitsentgelt aus weit zurückliegenden Beschäftigungszeiten in der
Regel als Bemessungsgrundlage auszuschließen (vgl Valgolio in Hauck/Noftz, SGB III,
§ 130 RdNr 26), entsprechen vielmehr der Funktion des Alg als Lohnersatzleistung.
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Das Alg soll dem Arbeitslosen angemessenen Ersatz für den Ausfall leisten, den er
dadurch erleidet, dass er gegenwärtig keinen bezahlten Arbeitsplatz findet. Dabei
erfordert die existenzsichernde Natur des Alg, dass die Feststellung der Leistungshöhe
und die Auszahlung beschleunigt erfolgt, was schon aus Gründen der
Verwaltungspraktikabilität zu einfachen Maßstäben bei der Leistungsberechnung zwingt
(vgl zB BVerfGE 63, 255, 262 = SozR 4100 § 111 Nr 6). Da sich der durch die
Arbeitslosigkeit individuell eintretende Lohnausfall nicht konkret ermitteln lässt (BSG,
Beschluss vom 2. Februar 1995, 11 RAr 21/94 (veröffentlicht in juris, dort RdNr 23 aE)),
ist es unter den genannten Voraussetzungen praktisch unvermeidlich, die Höhe des Alg
nach typisierenden und pauschalierenden Merkmalen zu bestimmen. Dabei kann dem
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im Bemessungszeitraum erzielten Arbeitsentgelt grundsätzlich Indizwirkung in dem
Sinne beigemessen werden, dass es typisierend das Arbeitsentgelt anzeigt, das der
Arbeitslose, hätte er Arbeit, auch aktuell erzielen könnte (vgl ua BSG, aaO; BSG SozR
3-4100 § 111 Nr 3). Das wird in der Regel der Konzeption gerecht, das Alg als
Lohnersatzleistung an einem möglichst zeitnahen Lohnniveau auszurichten, das den
auf Arbeitseinkommen gegründeten durchschnittlichen Lebensstandard des
Arbeitslosen repräsentiert (vgl ua BSGE 74, 96, 100 = SozR 3-4100 § 112 Nr 17; BSGE
77, 244, 250 = BSG SozR 3-4100 § 112 Nr 24; BSG SozR 3-4100 § 112 Nr 26).
Obwohl es deswegen prinzipiell sachgerecht ist, wenn die Bemessung des Alg an den
Nettolohn anknüpft, den der Arbeitslose zuletzt vor Eintritt der Arbeitslosigkeit bezogen
hat (BVerfGE 63, 255, 262 = SozR 4100 § 111 Nr 6), eignet sich diese Methode aber
nicht immer dazu, den Gegenwert der dem Arbeitslosen aktuell möglichen Verwertung
seiner Arbeitsleistung zu bestimmen. Das Gesetz sah daher schon in der Vergangenheit
eine Reihe von Ausnahmeregelungen vor, denen die gemeinsame Vorstellung zu
Grunde lag, dass die Indizwirkung, die dem im Bemessungszeitraum erzielten
Arbeitsentgelt grundsätzlich zukommt, unter bestimmten Umständen versagt, sodass der
Lohnausfall infolge der Arbeitslosigkeit und der deswegen zu erbringende Lohnersatz
mit einer anderen Methode bemessen werden müssen (zum AFG: BSG, Beschluss vom
2. Februar 1995, 11 RAr 21/94 (veröffentlicht in juris, dort RdNr 23)). So bestimmte § 112
Abs 7 Alt 2 AFG in der bis zum 31. Dezember 1997 geltenden Fassung, dessen
Grundgedanke ab 1. Januar 1998 durch § 133 Abs 4 SGB III aF (s. oben unter 1.b)
aufgegriffen wurde, dass für die Bemessung von dem am Wohnsitz oder gewöhnlichen
Aufenthaltsort des Arbeitslosen maßgeblichen tariflichen oder ( ) ortsüblichen
Arbeitsentgelt derjenigen Beschäftigung auszugehen ist, für die der Arbeitslose nach
seinem Lebensalter und seiner Leistungsfähigkeit unter billiger Berücksichtigung seines
Berufs und seiner Ausbildung nach Lage und Entwicklung des Arbeitsmarkts in Betracht
kommt, falls der letzte Tag des Bemessungszeitraums bei Entstehung des Anspruchs
länger als drei Jahre zurückliegt.
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Dafür war die Überlegung maßgebend, dass ein lang zurückliegender
Bemessungszeitraum nicht mehr die Vermutung rechtfertigt, dass der Arbeitslose
dasselbe Arbeitsentgelt auch in Zukunft verdienen könne (BSG SozR 3-4100 § 112 Nr
7). Diese Überlegung und die daraus gezogene Konsequenz, unter solchen besonderen
Umständen das Bemessungsentgelt den aktuellen Verhältnissen anzupassen, sind
nicht zu beanstanden. Sie entsprechen vielmehr dem Grundsatz, dass sich das Alg zur
Sicherstellung der Vermittelbarkeit des Arbeitslosen an dem Arbeitsentgelt orientieren
soll, das (ohne die Arbeitslosigkeit) durch Erwerbstätigkeit im Leistungszeitraum
erzielbar wäre. Die Aktualisierung der Bemessungsgrundlage zielt also gerade darauf
ab, dass das Alg seiner Lohnersatzfunktion auch in Sonderfällen gerecht wird. Die
Aktualisierung muss im Übrigen keineswegs zwangsläufig zu einem niedrigeren Alg
führen als es sich nach dem in der Vergangenheit zuletzt erzielten Lohn ergäbe. In den
durchaus in Betracht kommenden Fällen, dass vor der Unterbrechung der
Erwerbstätigkeit (zB wegen damals bestehender Einschränkungen der
Leistungsfähigkeit bzw -bereitschaft oder aus Arbeitsmarktgründen) nur eine
unterqualifizierte und daher schlechter bezahlte Beschäftigung ausgeübt wurde, oder
dass zwischenzeitlich zusätzliche Qualifikationen erworben wurden, kann das Abstellen
auf das aktuell erzielbare Arbeitsentgelt auch vorteilhaft sein.
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Aber selbst in Fällen, in denen die Anpassung der Bemessungsgrundlage an die
aktuellen Verhältnisse im Einzelfall zu einem niedrigen Alg führt, ist sie unabhängig
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davon sachgerecht, worauf die längere Unterbrechung der Erwerbstätigkeit jeweils
beruht. [ ...] Eine mehrjährige Unterbrechung des Erwerbslebens legt bei lebensnaher
Betrachtung stets die Möglichkeit nahe, dass der "Anschluss" an aktuelle berufliche
Gegebenheiten zumindest in gewissem Maße verloren gegangen ist, sodass ein
nahtloser Wiedereinstieg in die bisherige Berufsbiografie, insbesondere mit einem völlig
unveränderten Marktwert der angebotenen Arbeitsleistung, nicht als gesichert gelten
kann."
Es gibt keinen Grund, dies im Fall einer langjährigen Erkrankung anders zu sehen. Wie
das BSG zutreffend ausgeführt hat, kommt es nicht auf den Grund der langjährigen
Unterbrechung an (etwas anderes mag u.U. in Fällen der Unterbrechung wegen Zeiten
des Mutterschutzes gelten wegen der damit verbunden Schlechterstellung von Frauen:
vgl. SG Aachen, Vorlagebeschluss vom 23.07.2007, S 21 AL 38/06).
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Die Kammer hält auch keinen Verstoß gegen Art. 14 GG für gegeben. Der 7. Senat des
Bundessozialgerichts (Urteil vom 21.07.2009, B 7 AL 23/08 R) hat zu Art. 14 GG
Folgendes überzeugend ausgeführt:
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"Für einen Verstoß gegen Art 14 GG ist nichts ersichtlich. Eine Anwartschaft unterliegt
zwar wie ein Alg-Anspruch der Eigentumsgarantie des Art 14 GG. Voraussetzung für
einen Eigentumsschutz sozialversicherungsrechtlicher Positionen ist aber nach der
Rechtsprechung des BVerfG eine vermögenswerte Rechtsposition, die nach Art eines
Ausschließlichkeitsrechts dem Rechtsträger als privatnützig zugeordnet ist; diese
genießt den Schutz der Eigentumsgarantie dann, wenn sie auf nicht unerheblichen
Eigenleistungen des Versicherten beruht und zudem der Sicherung seiner Existenz
dient (BVerfGE 69, 272, 300 = SozR 2200 § 165 Nr 81 S 125 f). Dies ist nicht nur bei
einem bereits entstandenen Alg-Anspruch als solchem iS eines Stammrechts, sondern
auch bei einer durch Versicherungspflichtzeiten begründeten Anwartschaft auf Alg der
Fall (BVerfGE 72, 9, 18 f = SozR 4100 § 104 Nr 13 S 12). Der Eigentumsschutz dieser
Anwartschaft beruht auf der Erwägung, dass die Rechtsposition des Versicherten sich
so verfestigt hat, dass er bei Eintritt der Arbeitslosigkeit fest damit rechnen kann,
überhaupt Alg zu beziehen (BVerfGE 72, 9, 18 f = SozR 4100 § 104 Nr 13 S 12). Die
konkrete Reichweite dieses Schutzes durch die Eigentumsgarantie ergibt sich
allerdings erst aus der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums durch
einfaches Recht, die nach Art 14 Abs 1 Satz 2 GG Sache des Gesetzgebers ist
(BVerfGE 53, 257, 292 = SozR 7610 § 1587 Nr 1 S 4; BVerfGE 58, 81, 109 f = SozR
2200 § 1255a Nr 7 S 10; BVerfGE 72, 9, 22 = SozR 4100 § 104 Nr 13 S 14).
26
§ 132 SGB III nF greift in diesem Sinne weder in bereits entstandene Ansprüche auf Alg
als eines Stammrechts noch in erworbene Anwartschaften ein. Nach der
Übergangsregelung des § 434j Abs 5 SGB III ist das Bemessungsentgelt eines vor dem
1.1.2005 entstandenen Anspruchs nicht neu festzusetzen, es sei denn, dies wird auf
Grund eines Sachverhalts erforderlich, der nach dem 31.12.2004 eingetreten ist (zur
Verfassungsmäßigkeit des § 434j Abs 5 SGB III: BSG SozR 4-4300 § 434j Nr 2 RdNr 13
f). Der Anspruch des Klägers war vor dem 1.1.2005 noch nicht entstanden, weil dieser
nach § 117 SGB III in der bis zum 31.12.2004 geltenden Fassung (ab 1.1.2005 § 118
SGB III) neben der Anwartschaftszeit (§ 117 Abs 1 Nr 3 iVm § 123 SGB III aF) auch das
Vorliegen von Arbeitslosigkeit (§ 117 Abs 1 Nr 1 iVm § 118 SGB III aF) sowie die
Arbeitslosmeldung (§ 117 Abs 1 Nr 2 iVm § 122 SGB III aF) voraussetzt, woran es hier
vor dem 1.3.2005 fehlt.
27
Eine Anwartschaft hatte der Kläger am 31.12.2004 hingegen bereits erworben, weil er
zuvor mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hatte
(§ 123 Satz 1 aF SGB III). § 132 SGB III hat indes keinen Einfluss auf das Entstehen
oder den Verlust der Anwartschaft; die Regelung wirkt sich nur auf die Höhe des Alg
aus. Die den Alg-Anspruch begründende Anwartschaft ist in diesem Punkt nicht statisch
gestaltet, sondern angesichts des für die Bemessung des Alg jeweils maßgebenden
Referenzzeitraums (Bemessungszeitraum) eine fließende Rechtsposition, die im
Rahmen der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums den in §§ 129 ff
SGB III formulierten Voraussetzungen unterliegt und erst durch die Entstehung des
Stammrechts fixiert und hierdurch konkretisiert wird (so genannte fließende
Anwartschaft BSG SozR 3-4100 § 249c Nr 6 S 35 f). Deshalb wird auch die Erwartung
des Arbeitnehmers, der Gesetzgeber werde die Höhe eines künftig entstehenden
Anspruchs auf Alg nach Maßgabe bisherigen Rechts weiterbestehen lassen, nicht durch
Art 14 GG geschützt."
28
Der Gesetzgeber ist von Verfassung wegen auch nicht gehalten, dem Arbeitslosen
durch die Bemessung des Arbeitslosengeldes die Aufrechterhaltung seines bisherigen
Lebensstandards voll zu ermöglichen (BVerfG, Beschluss vom 23.03.1994, 1 BvL 8/85).
29
Der Kläger kann auch kein höheres Bemessungsentgelt nach § 131 Abs. 4 SGB III
beanspruchen. Gemäß § 131 Abs. 4 SGB III ist Bemessungsentgelt mindestens das
Entgelt, nach dem das Arbeitslosengeld zuletzt bemessen worden ist, wenn der
Arbeitslose innerhalb der letzten zwei Jahre vor der Entstehung des Anspruchs
Arbeitslosengeld bezogen hat. Der Kläger hat zuletzt am 29.04.2007 und somit vor mehr
als zwei Jahren Arbeitslosengeld bezogen.
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Der Kläger konnte auch nicht mehr seinen am 01.04.2005 entstandenen und von ihm in
der Vergangenheit nur teilweise verbrauchten Alg-Anspruch geltend machen. Denn
gemäß § 147 Abs. 2 SGB III kann ein Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht mehr geltend
gemacht werden, wenn nach seiner Entstehung vier Jahre verstrichen sind. Nach
ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), der die Kammer folgt, hat
die Verfallsregelung eine Ausschlussfrist zum Inhalt, die, auch bei ruhendem
Arbeitslosengeld-Anspruch, ohne Hemmungs- oder Unterbrechungsmöglichkeit
kalendermäßig abläuft. Der Ablauf der Ausschlussfrist hat das Untergehen der
gesamten Anspruchsberechtigung zur Folge. Diese bereits zur Vorgängerbestimmung
(§ 125 Abs. 2 Arbeitsförderungsgesetz) ergangene Rechtsprechung gilt auch unter
Geltung des SGB III (BSG, Urteil vom 19.01.2005, B 11a/11 AL 35/04 R m.w.N.). Das
BSG hat lediglich in einem Fall eine Ausnahme von der starren Geltung der
Ausschlussfrist angenommen, nämlich wenn die Frist allein wegen eines
Beschäftigungsverbots nach der Entbindung gemäß § 6 Abs 1 MuSchG abläuft (BSG,
Urteil vom 21.10.2003, B 7 AL 28/03 R). Das BSG hat hierzu jedoch überzeugend
ausgeführt, dass es sich um einen "eng umgrenzten Sonderfall" handele ( BSG, Urteil
vom 19.01.2005, B 11a/11 AL 35/04 R; BSG, Urteil vom 21.10.2003, B 7 AL 28/03 R).
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Dieser Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Die Antragstellung des Klägers 05.11.2009
erfolgte nach Ablauf von vier Jahren mit der Folge, dass sein Anspruch auf
Arbeitslosengeld vom 01.04.2005 – unabhängig davon, dass er durch den Bezug des
Krankentagegelds einen neuen Anspruch erworben hatte - erloschen war.
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Ein Anspruch des Klägers ergibt sich auch nicht aus einer etwaigen Falschberatung.
Dabei kann dahinstehen, ob die Beklagte den Kläger auf seine Anfrage aus Januar
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2009 darüber hätte informieren müssen, dass sich sein Anspruch zwar verlängert, aber
sich der Höhe nach reduziert. Denn eine etwaige Falschberatung war jedenfalls nicht
kausal für die später eingetreten Kürzung des Alg-Anspruchs. Der Kläger war zum
Zeitpunkt der Erteilung der Auskunft arbeitsunfähig erkrankt und dies offenbar noch bis
einschließlich 04.11.2009. Aus diesem Grund hat er bis zu diesem Tag auch
Krankentagegeld von seiner privaten Krankenversicherung erhalten. Selbst wenn der
Kläger zu einem früheren Zeitpunkt vor Ablauf der Vier-Jahres-Frist Alg hätte erhalten
wollen, wäre dies auf seiner Erkrankung nicht möglich gewesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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Die Berufung ist zulässig, da der Wert des Beschwerdegegenstands 750,00 EURO
übersteigt (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).
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