Urteil des SozG Aachen vom 15.03.2004

SozG Aachen: aufschiebende wirkung, konstitutive wirkung, versicherungspflicht, verwaltungsakt, krankenversicherung, software, mitgliedschaft, verfügung, qualifikation, ausweispapier

Sozialgericht Aachen, S 6 KR 168/03
Datum:
15.03.2004
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
6. Kammer
Entscheidungsart:
Gerichtsbescheid
Aktenzeichen:
S 6 KR 168/03
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 30.07.2003 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.09.2003 wird festgestellt,
dass für den Kläger seit dem 02.05.2002 Versicherungspflicht in der
Kranken- und Pflegeversicherung besteht. Die Beklagte trägt die
außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Gründe:
1
Mit der Klage vom 00.00.0000 gegen die im Tenor genannten Bescheide wehrt sich der
Kläger gegen die Stornierung seiner Pflichtmitgliedschaft in der Kranken- und
Pflegeversicherung; streitig ist das Vorliegen eines bestandskräftig gewordenen,
rechtswidrigen feststellenden Verwaltungsaktes, der konkludent (stillschweigend) erteilt
worden ist.
2
I.
3
Der 0000 geborene Kläger war seit dem 01.01.1994 bei der "B D1" privat
krankenversichert; er hat seine über dreißigjährige selbständige Tätigkeit als
Versicherungsagent im Zusammenhang mit seiner Krebserkrankung im Jahre 1998 und
deren Folgen zum 30. 04.2001 beendet. Am 02.05.2002 hat er eine - selbst gesuchte -
Tätigkeit bei der Firma D2 Software GmbH als Software-Außendienstmitarbeiter -
bundesweiter Vertrieb einer speziellen Software für Autoverwerter - aufgenommen.
4
Unter dem 27.06.2002 meldete sein Arbeitgeber ihn bei der Beklagten als
pflichtversicherten Arbeitnehmer an. Die bei Anmeldung von Versicherten, die das 55.
Lebensjahr vollendet haben, zu beachtende Prüfliste bezüglich einer eventuell
gegebener Versicherungsfreiheit gemäß § 6 Abs. 3 a des Sozialgesetzbuches - 5.
Buch/Gesetzliche Krankenversicherung - SGB V - wurde von dem/der zuständigen
Sachbearbeiter(in) der Beklagten nicht bearbeitet, so dass der Kläger als
pflichtversichertes Mitglied akzeptiert wurde, obwohl er in den letzten fünf Jahren vor
Eintritt der Versicherungspflicht nicht gesetzlich versichert, wegen hauptberuflicher
selbständiger Tätigkeit nicht versicherungspflichtig und statt dessen versicherungsfrei
war. Dem Kläger wurden sowohl eine Mitgliedsbescheinigung wie auch unter dem
5
03.07.2002 eine Krankenversichertenkarte zugesandt, obwohl er den "Fragebogen zu
Ihrer Versicherung" nicht zurückgesandt hatte. Die "B D1 stellte unter dem 24.07.2002
die Krankheitskosten-Vollversicherung zum 01.05.2003 in eine Krankheits-
Zusatzversicherung um.
Mit den oben genannten Bescheiden stellte die Beklagte das Fehlen der
Voraussetzungen für eine Pflichtversicherung in der Kranken- und Pflegeversicherung
wegen der Versicherungsfreiheit gemäß § 6 Abs. 3 a SGB V fest und stornierte diese,
wobei sie eine Rückerstattung von Krankenversicherungsbeiträgen wegen der von ihr
erbrachten Leistungen ablehnte.
6
Der Kläger verweist darauf, dass er im Juni 2002 sämtliche Angaben gemacht und die
ihm gestellten Fragen wahrheitsgemäß beantwortet habe; nach vierzehn Monaten
durchgeführter Pflichtversicherung könne diese von der Beklagten wegen ihrer
bindenden Zusage nicht aufgekündigt werden.
7
In dem Verfahren wegen einstweiligen Rechtsschutzes SG Aachen S 0 KR 000/00 ER
hat der erkennende Kammervorsitzende die aufschiebende Wirkung dieser Klage vom
00.00.0000 mit - rechtskräftig gewordenem - Beschluss vom 00.00.0000 angeordnet.
8
II.
9
Da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art
aufweist und da der Sachverhalt in entscheidungserheblichem Umfang geklärt ist, wird
der Klage nach Anhörung der Beteiligten durch Gerichtsbescheid gemäß § 105 Abs. 1
SGG stattgegeben.
10
Die zulässige Klage ist begründet, denn für den Kläger besteht aufgrund seiner
abhängigen Beschäftigung im Sinne von §§ 7 Abs. 1 des Sozialgesetzbuches - 4.
Buch/Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - SGB IV -, 5 Abs. 1 Nr. 1 des
Sozialgesetzbuches - 5. Buch/Gesetzliche Krankenversicherung - SGB V - und 20 Abs.
1 Nr. 1 des Sozialgesetzbuches - 11. Buch/Soziale Pflegeversicherung - SGB XI -
aufgrund der konstitutiven Wirkung des bestandskräftig gewordenen Bescheides der
Beklagten vom 03.07.2002 Versicherungspflicht in der Kranken- und Pflegeversi-
cherung; der in der Übersendung der Krankenversichertenkarte enthaltene feststellende
Verwaltungsakt ist nicht gemäß § 45 Abs. 1 u. 2 des Sozialgesetzbuches - 10.
Buch/Verwaltungsverfahren - SGB X - rechtswirksam zurückgenommen worden.
Insoweit wird gemäß §§ 105 Abs. 1 Satz 3, 136 Abs. 3 SGG auf den Inhalt des, den
Beteiligten zugestellten - rechtkräftig gewordenen - Beschlusses vom 01.12.2003 - S 0
KR 000/00 ER - verwiesen.
11
Da die Tatbestands-Voraussetzungen des § 6 Abs. 3 a SGB V für die
Versicherungsfreiheit von Personen, die nach Vollendung des 55. Lebensjahres
versicherungspflichtig werden, im Hinblick auf die vom Kläger bis zum 30.04.2001
ausgeübte selbständige Tätigkeit als Versicherungsagent unstreitig vorgelegen haben,
konnte die abhängige Beschäftigung nicht kraft Gesetzes die Versicherungspflicht in der
Kranken- und Pflegeversicherung bewirken. Die Arbeitgeber-Anmeldung war
rechtswidrig. Die Beklagte hat jedoch mit Übersendung der Krankenversichertenkarte
an den Kläger einen - bestandskräftig gewordenen - feststellenden Verwaltungsakt des
Inhalts gesetzt, dass der Kläger bei ihr pflichtversichertes Mitglied mit allen Rechten und
Pflichten einer solchen Mitgliedschaft ist. Die Übersendung der
12
Krankenversichertenkarte beinhaltet die Bekanntgabe - § 37 Abs. 1 SGB X -eines
konkludent erlassenen Verwaltungsaktes im Sinne der §§ 31, 33 Abs. 2 u. 3 SGB X. Die
konkludente Erteilung eines Verwaltungsaktes ist zulässig (BSG Urt. v. 16.09.1986 - 3
RK 37/85 - betr. Krankengeld-Bewilligung durch antragsgemäße Auszahlung). Der
Kläger ist als abhängig Beschäftigter mit Versicherungspflicht über seinen Arbeitgeber
u. a. zur Kranken- und Pflegeversicherung angemeldet worden. Die Beklagte hat
aufgrund dieser Anmeldung die Krankenversichertenkarte dem Kläger übersandt. Sie
hat damit kundgetan, dass sie die Anmeldung zur Pflichtversicherung in der Kranken-
und Pflegeversicherung auf ihre Plausibilität geprüft und akzeptiert und den Kläger
durch die entsprechenden edv-technischen Eingaben in die Liste der
Versicherungspflichtigen aufgenommen hat. Gemäß § 291 Abs. 1 Satz 1 SGB V stellt
die Krankenkasse für "jeden Versicherten eine Krankenversichertenkarte aus", die
gemäß Satz 4 nur für die Dauer der Mitgliedschaft gilt. Mit deren Übersendung hat die
Beklagte dem Kläger ein Namens-/Rektapapier (Krauskopf, SKV, Rn. 4 zu § 291 SGB
V) bzw. ein Ausweispapier (Kasskom-Höfler, SozVersR, Rn. 16 zu § 15 SGB V) zur
Verfügung gestellt.
Die Qualifikation der Erklärung einer Behörde als Verwaltungsakt bestimmt sich danach,
wie der Empfänger die Erklärung bei vollständiger Würdigung nach den Umständen des
Einzelfalles vor und bei Ergehen der behördlichen Maßnahme zu deuten hatte, wobei
an das Vorliegen eines Verwaltungsaktes keine strengen Maßstäbe anzulegen sind
(BSGE 11, 248; 17, 124; SozR 5755 Art. 2 zu § 1 Nr. 3). Der objektivierte
Erklärungsinhalt der mit der Übersendung der Krankenversichertenkarte verbundenen
schlüssigen Erklärung mußte aus der Erklärungsempfänger-Sicht des Klägers im
obigen Sinne verstanden werden. Demgentsprechend hat der inhaltlich falsche
Verwaltungsakt nicht nur feststellende - deklaratorische - ,sondern auch konstitutive
Wirkung (Kass-Komm-Seewald, SozVersR, Rn. 4 zu § 28 h SGB IV), denn die Beklagte
war und ist hieran gebunden und kann den Verwaltungsakt nur unter den - hier nicht
vorlie-genden - Voraussetzungen des § 45 SGB X zurücknehmen. Für eine, die
Rücknahme rechtfertigende Bösgläubigkeit des Klägers hat die Beklagte keine
überzeugenden Anhaltspunkte vorgetragen. Das Kennenmüssen oder das fahrlässige
Nichtkennen des Ausnahme-Tatbestands der Versicherungsfreiheit nach § 6 Abs. 3 a
SGB V kann beim Kläger auch im Hinblick auf seine Versicherungsvertreter-Tätigkeit
nicht ohne weiteres unterstellt werden. Zum Einen hat er glaubhaft vorgetragen, in den
letzten Jahren seiner Tätigkeit keine Krankenversicherungs-Verträge vermittelt zu
haben; zum Anderen hat selbst der erkennende Kammervorsitzende bis zur Bearbeitung
dieses Falles den § 6 Abs. 3 a SGB V nicht gekannt. Das unbestimmte Wissen um
Schwierigkeiten im höheren Alter in die Pflichtversicherung aufgenommen zu werden,
kann den obigen Bösgläubigkeits-Tatbestand nicht erfüllen.
13
Die Entscheidung über die Kosten der nach alle dem begründeten Klage folgt aus §§
105 Abs. 1 Satz 3, 183, 193 SGG.
14
Die Zulässigkeit der Berufung ergibt sich aus § 143 SGG, denn Berufungs-
Ausschlussgründe des § 144 SGG liegen nicht vor.
15