Urteil des SozG Aachen vom 24.04.2007

SozG Aachen: kommission der europäischen gemeinschaft, rat der europäischen union, arzneimittel, krankenversicherung, behandlung, pflege, krankheit, krankenkasse, verfügung, koch

Sozialgericht Aachen, S 13 (6) KR 66/06
Datum:
24.04.2007
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
13. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 13 (6) KR 66/06
Sachgebiet:
Krankenversicherung
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander nicht
zu erstatten.
Tatbestand:
1
Die Beteiligten streiten über die Erstattung der seit August 2005 durch die
Selbstbeschaffung des Arzneimittels Canusal® entstandenen Kosten in Höhe von
164,60 EUR sowie die Leistung dieses Arzneimittels in Zukunft als Auslandsimport.
2
Die am 00.00.0000 geborene Klägerin leidet an einem hereditären angioneurotischen
Ödem (HANE). Diese Krankheit ist durch einen C1-Estrase-Inhibitor-Mangel
gekennzeichnet. Um diesen Mangel auszugleichen, erhält die Klägerin etwa alle 6
Wochen, gegebenenfalls auch bei akutem Bedarf ein Konzentrat (Berinert®), das
intravenös verabreicht wird. Zu diesem Zweck wurde der Klägerin 1998 ein so
genanntes Titan-Portkathetersystem (auch Port, Portkatheter oder Portsystem genannt)
in den rechten Brustkorb implantiert. Zur Pflege des Portsystems sind regelmäßige
Spülungen mit einer Kochsalzlösung erforderlich. Nach Angabe des Herstellers des
Portsystems muss dieses bei Nichtbenutzen des Katheters zusätzlich heparinisiert
werden; mit der Heparinlösung werde der Katheter verschlossen und eine Verstopfung
verhindert. Dementsprechend wurde und wird auch bei der Klägerin verfahren.
3
Die Heparinisierung des Portsystems der Klägerin geschieht mit dem Arzneimittel
Canusal®; dieses enthält den Wirkstoff Heparin sodium. Canusal® ist derzeit in
Großbritanniern zum Spülen von intravenösen Kathetern und Portsystemen zugelassen;
eine Zulassung in Deutschland oder europaweit durch die Europäische
Arzneimittelagentur (EMEA) besteht nicht. Canusal® ist ein verscheibungspflichtiges,
gemäß § 73 Abs. 3 Arzneimittelgesetz (AMG) importfähiges Arzneimittel; es steht in
Deutschland auf der Liste der häufigstens Medikamentenimporte an 4. Stelle. Die
Kosten für 10 Ampullen Canusal® betragen ca. 27,- EUR (2,70 EUR je Ampulle); die
Kosten für eine in der Apotheke zubereitete Heparin-Spritze belaufen sich auf ca. 60,-
EUR.
4
Bis August 2005 übernahm die Beklagte die Kosten für das aus dem Ausland
5
importierte Canusal®. Auf Hinweis der bis dahin importierenden und abgebenden
Apotheke, dass die Kosten nicht mehr von der Krankenkasse übernommen würden,
verordneten die behandelnden Ärzte des Universitätsklinikum G. am 18.08.2005 30
Ampullen Heparin sodium. Am 30.08.2005 beantragte die Klägerin die Genehmigung
der Verordnung als Einzelimport gemäß § 73 Abs. 3 AMG.
In einer von der Beklagten eingeholten Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der
Krankenversicherung (MDK) vom 16.09.2005 stellte Dr. U. fest, das Spülen von venösen
Verweilkathetern und Port-Systemen werde zwar in der Praxis häufig angewandt, sei
allerdings nicht zwingend erforderlich; es könnten dazu auch isotonische
Kochsalzlösungen verwendet werden.
6
Gestützt hierauf lehnte die Beklagte den Kostenübernahmeantrag durch Bescheid vom
21.09.2005 ab.
7
Dagegen legte die Klägerin am 13.10.2005 Widerspruch ein. Sie wies auf die Angaben
des Herstellers des Port-Systems hin, nach denen die Heparinisierung als "Muss"
beschrieben werde; sie legte eine Stellungnahme des Uniklinikums Frankfurt vor,
wonach die Heparinisierung des Portkatheter-Systems notwendig sei.
8
In einer ergänzenden MDK-Stellungnahme vom 16.11.2005 erklärte Dr. Moeller, es
handele sich nicht um eine extrem seltene Fallgestellung, bei der ausnahmsweise eine
Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung trotz fehlender deutscher oder
europaweiter Arzneimittelzulassung in Betracht komme.
9
Daraufhin wies die Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom
22.02.2006 zurück.
10
Dagegen hat die Klägerin am 14.03.2006 Klage erhoben.
11
Von August 2005 bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung sind der Klägerin
durch die Selbstbeschaffung des Arzneimittels Canusal® Kosten in Höhe von 164,60
EUR entstanden.
12
Die Klägerin ist der Auffassung, eine wirksame Blockierung des Portsystems könne
ausschließlich durch Heparinisierung erfolgen. Bei Verwendung von isotonischer
Kochsalzlösung bestehe die Gefahr der Verstopfung; in einem solchen Fall müsse das
Portsystem operativ entfernt und ein neues implantiert werden; dies sei nicht unbegrenzt
möglich; ohne Heparinisierung handele es sich bei dem Portsystem in ihrem Fall nach
Auffassung der behandelnden Ärzte um eine "Zeitbombe". Bei der zu behandelnden
Erkrankung HANE handele es sich um eine seltene, einer systematischen Erforschung
praktisch verschlossene Krankheit, für die keine andere Behandlungsalternative zur
Verfügung stehe. In einem solchen Fall sei nach der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts (BSG) auch für nur im Ausland zugelassene Arzneimittel eine
Kostenübernahmepflicht gegeben.
13
Die Klägerin beantragt,
14
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21.09.2005 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 22.02.2006 zu verurteilen, ihr die Kosten für das
Arzneimittel Canusal®, die seit August 2005 in Höhe von 164,60 EUR entstanden sind,
15
zu erstatten und künftig die Kosten für das Arzneimittel nach ärztlicher Verordnung als
Auslandsimport zu übernehmen, jeweils unter Berücksichtigung der von ihr zu
leistenden gesetzlichen Zuzahlungen.
Die Beklagte beantragt,
16
die Klage abzuweisen.
17
Sie bleibt bei ihrer in den angefochtenen Bescheiden vertretenen Auffassung. Zur
Begründung verweist sie ergänzend auf weitere MDK-Stellungnahmen der Ärzte Dr. N.
und Dr. U. vom 18.08.2006, 08.09.2006, 13.10.2006, 19.01.2007 und 26.02.2007 sowie
Empfehlungen der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention beim
Robert Koch-Institut zur Prävention gefäßkatheterassoziierter Infektionen aus dem Jahre
2002.
18
Das Gericht hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts Auskünfte und gutachterliche
Stellungnahmen eingeholt vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte
(BfArM) vom 26.07.2006, der Medizinischen Klinik III des Universitätsklinikum G. vom
11.09.2006 und der Medizinischen Klinik IV des Universitätsklinikum B. vom
30.11.2006.
19
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte der
Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug
genommen.
20
Entscheidungsgründe:
21
Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet.
22
Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2
Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie nicht rechtswidrig sind. Die Klägerin hat
keinen Anspruch auf Erstattung der in der Vergangenheit entstandenen Kosten für die
Selbstbechaffung des Arzneimittels Canusal® und die künftige Gewährung dieses
Arzneimittels zu Lasten der Beklagten.
23
Die Voraussetzungen des für die Kostenerstattung allein in Betracht kommenden
Anspruchs aus § 13 Abs. 3 Satz 1, 2. Alternative Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB
V) nicht erfüllt. Nach dieser Vorschrift ist eine Krankenkasse zur Kostenerstattung
verpflichtet, wenn sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dem Versicherten
dadurch für die selbst beschaffte Leistung Kosten entstanden sind. Die Beklagte hat die
Versorgung mit dem Arzneimittel Canusal® nicht zu Unrecht abgelehnt.
24
Der Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 SGB V reicht nicht weiter als ein
entsprechender Sachleistungsanspruch des Versicherten gegen seine Krankenkasse.
Er setzt daher voraus, dass die selbst beschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört,
welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu
erbringen haben (BSG, Urteil vom 14.12.2006 - B 1 KR 12/06 R - m.w.N.). Zu diesen
Leistungen gehörte die Versorgung mit dem Arzneimittel Canusal® nicht. Denn
Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§§ 2 Abs. 1 Satz
25
1, 12 Abs. 1 SGB V) von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung
nach § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3, § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V ausgeschlossen, wenn
ihnen die erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (vgl. BSG, Urteil vom
04.04.2006 - B 1 KR 12/04 R). Dies ist bei Canusal® der Fall.
Canusal® ist ein Fertigarzneimittel im Sinne von § 4 Abs. 1 AMG. Derartige
Fertigarzneimittel dürfen gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 AMG nur in den Verkehr gebracht
werden, wenn sie durch die zuständige Bundesoberbehörde zugelassen worden sind
oder wenn für sie die Kommission der Europäischen Gemeinschaft oder der Rat der
Europäischen Union eine Genehmigung für das Inverkehrbringen erteilt hat. Daran fehlt
es.
26
Für das zulassungspflichtige Canusal® lag weder in Deutschland noch für den Bereich
der Europäischen Union (EU) insgesamt eine solche Arzneimittelzulassung vor. Die in
Großbritannien erteilte Arzneimittelzulassung von Canusal®entfaltet nicht zugleich auch
entsprechende Rechtswirkungen für Deutschland. Weder das deutsche Recht noch das
Europarecht sehen eine solche Erweiterung der Rechtswirkungen der nur von
nationalen Behörden erteilten Zulassungen ohne ein entsprechend vom Hersteller
eingeleitetes sowie positiv entschiedenes Antragsverfahren vor (vgl. BSG, Urteil vom
14.12.2006 - B 1 KR 12/06 R unter Hinweis auf BSGE 93, 1). Ein Leistungsanspruch der
Klägerin lässt sich auch nicht aus den Grundsätzen des Beschlusses des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 06.12.2005 (1 BvR 347/98 = SozR 4-2500 §
27 Nr. 5 = NZS 2006, 84 = NJW 2006, 891) im Wege einer verfassungskonformen
Auslegung derjenigen Normen des SGB V, die dem Anspruch entgegenstehen,
herleiten. Das BVerfG hat in dieser Entscheidung festgestellt, dass es mit den
Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem
Sozialstaatsprinzip aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar ist, einen gesetzlich
Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche
Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende
Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten,
ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz
entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf
den Krankheitsverlauf besteht. Diese Kriterien sind im Fall der Klägerin nicht erfüllt. Zum
einen wird Canusal® nicht zur Behandlung von HANE eingesetzt, sondern zur Pflege
des Portkatheter-Systems; Portsysteme wiederum werden, wie der MDK zuletzt in seiner
Stellungnahme vom 26.02.2007 - von der Klägerin nicht bestritten - mitgeteilt hat,
vieltausendfach und täglich auch im ambulanten Bereich genutzt. Zum anderen ist
HANE keine lebensbedrohliche oder vorhersehbar tödlich verlaufende Krankheit, bei
der allein die engen Ausnahmekriterien des BVerfG zur Anwendung kommen.
27
Die Klägerin konnte und kann Canusal®auch nicht nach den Grundsätzen des
sogenannten Off-Label-Use beanspruchen. Die Leistungspflicht der Gesetzlichen
Krankenversicherung für ein nicht zugelassenes Medikament kommt danach
grundsätzlich nur in Betracht, wenn es (1) um die Behandlung einer schwerwiegenden
(lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden)
Erkrankung geht, wenn (2) keine anderer Therapie verfügbar ist und wenn (3) aufgrund
der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein
Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Damit Letzteres
angenommen werden kann, müssen Forschungsergebnisse vorliegen die erwarten
lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann
(BSG, Urteil vom 19.03.2002 - B 1 KR 37/00 R = BSGE 89, 184 = SozR 3-2500 § 31 Nr.
28
8). Diese Voraussetzungen sind nicht sämtlich erfüllt. Zwar geht die Kammer aufgrund
der gutachtlichen Stellungnahmen der Universitätkliniken G. und B. vom 11.09. und
30.11.2006 davon aus, dass bei der Klägerin eine schwerwiegende, weil die
Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung im Sinne der ersten
Voraussetzung vorliegt. Ebenso geht die Kammer nach diesen fachlichen Auskünften
davon aus, dass die Krankheit selten ist. Canusal® wird aber, wie oben bereits
ausgeführt, nicht zur unmittelbaren Behandlung von HANE eingesetzt, sondern zum
Spülen des implantierten Portkatheters, durch den das im Bedarfsfall benötigte
Arzneimittel Berinert® gespritzt wird. Die Pflege und das Spülen von Portsystemen ist
aber nicht nur im Zusammenhang mit der Behandlung von HANE, sondern auch in
vielen anderen Fällen und bei anderen Krankheitsbildern erforderlich. In diesem Sinne
liegt kein Seltenheitsfall vor und ist insbesondere auch eine systematische Erforschung
von Canusal® hinsichtlich seines Einsatzes zur Spülung von Portsystemen durchaus
möglich. Entscheidend aber spricht nach Auffassung der Kammer gegen eine Leistung
von Canusal® zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung, dass für das Spülen
von zentralen Venenkathetern Alternativen zur Verfügung stehen und
Heparinspülungen wissenschaftlich nicht unumstritten sind. Aus den von der Beklagten
vorgelegten Empfehlungen des Robert Koch-Instituts (Bundesgesundheitsblatt 2002,
907 ff.) besteht bei zentralen Kathetersystemen die Gefahr einer Thrombusbildung, die
mit einer erhöhten Rate katheterassoziierter Infektionen einhergeht. Die Verwendung
von verdünntem Heparin zur Spülung von Kathetern ist jedoch nach Empfehlungen des
Robert Koch-Instituts hinsichtlich der Vermeidung einer Kathederokklusion nicht
effektiver als die Spülung mit physiologischer Kochsalzlösung. Aufgrund möglicher
Blutungskomplikationen sollten Heparinspülungen daher vermieden werden
(Empfehlungen, a.a.O., S. 910). Die Ärzte der Medizinischen Klinik IV des
Universitätklinikums Aachen haben in der Stellungnahme vom 30.11.2006 erklärt für die
Pflege des Portkatheters sei die Sterilität das oberste Gebot. Für die Spülung des
Portkatheters sei der Einsatz von Heparin zum Blocken des Systems zwar weit
verbreitet; allerdings gebe es bislang keine randomisierten Studien, bei denen Heparin
mit Kochsalz allein verglichen wurden. Für beide Alternativen gebe es Pro- und Contra-
Argumente; in einer wissenschaftlichen Arbeit werde sogar über die Entwicklung eines
Heparin- induzierten Thrombozytenabfalls (sog. HIT-Sydrom) nach Portspülung mit
Heparin berichtet. Deshalb - so die Ärzte des Universitätklinikum B. - sei die Routine-
Spülung venöser Katheter mit Heparin nicht unumstritten.
Zusammenfassend sieht die Kammer keinen rechtlichen Ansatz für die Erstattung bzw.
künftige Leistung von Canusal® zu Lasten der Beklagten.
29
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
30