Urteil des SozG Aachen vom 13.09.2006

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Sozialgericht Aachen, S 19 SO 14/06
Datum:
13.09.2006
Gericht:
Sozialgericht Aachen
Spruchkörper:
19. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
S 19 SO 14/06
Nachinstanz:
Bundessozialgericht, B 9 b SO 14/06
Sachgebiet:
Sozialhilfe
Rechtskraft:
nicht rechtskräftig
Tenor:
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 06.09.2005 in
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.12.2005 verurteilt, der
Klägerin unter entsprechender Rücknahme der Bewilligungsbescheide
vom 02.01.2003, 24.03.2003, 08.07.2003, 20.11.2003, 18.02.2004,
24.03.2004, 26.04.2004, 24.08.2004, 23.09.2004, 25.11.2004,
28.12.2004, 22.02.2005 und 02.03.2005 für die Zeit vom 01.01.2003 bis
zum 31.05.2005 weitere Leistungen der Grundsicherung bei
Erwerbsminderung in Höhe von 4.466,00 EUR zu zahlen. Der Beklagte
hat die Kosten der Klägerin zu erstatten.
Tatbestand:
1
Die Klägerin begehrt die Nachzahlung von Leistungen zur Grundsicherung nach dem
Grundsicherungsgesetz (GSiG) und dem Zwölften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB
XII) für die Zeit vom 01.01.2003 bis zum 31.05.2005.
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Die am 00.00.1978 geborene Klägerin ist schwerbehindert mit einem Grad der
Behinderung von 100 und dauerhaft erwerbsgemindert. Die Klägerin wohnt bei ihren
Eltern. Ihre Mutter ist zu ihrer Betreuerin bestellt. Die Klägerin bezieht seit dem
01.01.2003 Leistungen zur Grundsicherung bei Erwerbsminderung. Dabei rechnete der
Beklagte in der Zeit vom 01.01.2003 bis zum 31.05.2005 das Kindergeld in Höhe von
154,00 EUR, welches die Eltern der Klägerin erhielten, als Einkommen der Klägerin an.
Die entsprechenden Bescheide vom 02.01.2003, 24.03.2003, 08.07.2003, 20.11.2003,
18.02.2004, 24.03.2004, 26.04.2004, 24.08.2004, 23.09.2004, 25.11.2004, 28.12.2004,
22.02.2005 und 02.03.2005 wurden bestandskräftig. Mit Bescheid vom 11.05.2005 hob
der Beklagte seinen bisherigen Bewilligungsbescheid auf und berechnete die
Leistungen ab dem 06.05.2005 neu. Auch in diesem Bescheid berücksichtigte er das an
die Eltern gezahlte Kindergeld als Einkommen der Klägerin.
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Zur Begründung ihres hiergegen mit Schreiben vom 03.06.2005 eingelegten
Widerspruches trug die Klägerin vor, dass nach einer Entscheidung des
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Bundesverwaltungsgerichtes vom 28.04.2005 (Az.: 5 C 28.04) Kindergeld grundsätzlich
Einkommen desjenigen sei, dem es tatsächlich zufließe. Dies sei regelmäßig, und auch
hier, der kindergeldberechtigte Elternteil. Die Klägerin bat auch um Überprüfung der
Anrechnung des Kindergeldes für die Vergangenheit.
Am 06.09.2005 erließ der Beklagte einen neuen Bescheid, in dem er ab dem Monat Juni
2005 das gezahlte Kindergeld nicht mehr als Einkommen der Klägerin berücksichtigte.
Ebenfalls mit Bescheid vom 06.09.2005 lehnte der Beklagte eine Rücknahme der
Bewilligungsbescheide für den Zeitraum vom 01.01.2003 bis zum 31.05.2005, und eine
Nachzahlung des angerechneten Kindergeldanteiles ab. Zur Begründung verwies er
darauf, dass § 44 nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes im
Sozialhilferecht und auch im Bereich des Grundsicherungsgesetzes bzw. ab dem
01.01.2005 des Vierten Kapitels des SGB XII keine Anwendung finde. Den hiergegen
eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Bescheid vom 28.12.2005 zurück. Zur
Begründung verwies er erneut darauf, dass § 44 auch im Grundsicherungsrecht keine
Anwendung findet.
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Hiergegen richtet sich die am 24.01.2006 erhobene Klage. Die Klägerin trägt vor, dass
nach einer jüngeren Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes § 44
SGB X im Rahmen der Grundsicherung anwendbar sei. Hierfür spreche, dass es sich
bei der Grundsicherung um eine auf Dauer angelegte Sozialleistung handele. Die
Gesichtspunkte, die nach Einschätzung des Bundesverwaltungsgerichtes im Bereich
der einfachen Sozialhilfe dazu führten, dass § 44 SGB X keine Anwendung finde,
könnten im Bereich der Grundsicherung nicht gelten.
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Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,
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den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 06.09.2005 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 28.12.2005 zu verurteilen, der Klägerin unter
entsprechender Rücknahme der Bewilligungsbescheide vom 02.01.2003, 24.03.2003,
08.07.2003, 20.11.2003, 18.02.2004, 24.03.2004, 26.04.2004, 24.08.2004, 23.09.2004,
25.11.2004, 28.12.2004, 22.02.2005 und 02.03.2005 für die Zeit vom 01.01.2003 bis
zum 31.05.2005 weitere Leistungen der Grund-sicherung bei Erwerbsminderung in
Höhe von 154,00 EUR monatlich zu zahlen.
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Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
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die Klage abzuweisen.
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Er wiederholt sein bisheriges Vorbringen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt
der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen, die der Kammer
vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
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Entscheidungsgründe:
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Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG
entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben.
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Die Klage ist zulässig und begründet.
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Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und beschweren die Klägerin im Sinne
von § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Der Beklagte hat zu Unrecht in der Zeit vom 01.01.2003 bis
zum 31.05.2005 das an die Mutter der Klägerin gezahlte Kindergeld als Einkommen der
Klägerin angerechnet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Nachzahlung der ihr
deswegen zu Unrecht nicht gezahlten Leistungen zur Grundsicherung bei
Erwerbsminderung in Höhe von monatlich 154,00 EUR.
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Der Anspruch ergibt sich aus § 44 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 4 Satz 1 SGB X. § 44 SGB
X ist nicht nur für die Zeit ab dem 01.01.2005 anwendbar, sondern auch für die Zeit in
der die Leistungen der Grundsicherung nach dem Grundsicherungsgesetz erbracht
wurden (01.01.2003 - 31.12.2004). Dem steht steht § 1 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 SGB X
nicht entgegen. Danach gelten für die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der
Behörden der Länder, der Gemeinden und Gemeindeverbände zur Ausführung von
besonderen Teilen dieses Gesetzbuches, die nach Inkrafttreten der Vorschriften dieses
Kapitels Bestandteil des Sozialgesetzbuches werden, die Vorschriften des SGB X nur,
soweit diese besonderen Teile mit Zustimmung des Bundesrates die Vorschriften
dieses Kapitels für anwendbar erklären. Eine entsprechende Bestimmung enthält das
Grundsicherungsgesetz zwar nicht. Jedoch ist eine solche Regelung auch nicht
erforderlich, weil es einer solchen nicht bedurfte. Das Sozialgericht Aachen hat dazu in
seinem Urteil vom 06.07.2006 ausgeführt (Az. S 20 SO 34/06):
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"Es bedurfte keiner solchen Regelung, weil das Grundsicherungsrecht kein besonderer
Teil des Sozialgesetzbuchs ist, der nach In-Kraft-Treten des SGB X (am 01.01.1981)
Bestandteil des Sozialgesetzbuches geworden ist. Die durch das GSiG geregelte
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ist eine besondere Form der Hilfe
zum Lebensunterhalt und gehört zu den Leistungen der Sozialhilfe im weitem Sinne des
§ 9 Abs. 1 SGB I. Diese Vorschrift lautet: " Wer nicht in der Lage ist, aus eigenen Kräften
seinen Lebensunterhalt zu bestreiten oder in besonderen Lebenslagen sich selbst zu
helfen, und auch von anderer Seite keine ausreichende Hilfe erhält, hat ein Recht auf
persönliche und wirtschaftliche Hilfe, die seinem besonderen Bedarf entspricht, ihn zur
Selbsthilfe befähigt, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht und die
Führung eines menschenwürdigen Lebens sichert. Hierbei müssen
Leistungsberechtigte nach ihren Kräften mitwirken." Dies trifft auf die GSi-Leistungen zu.
Diese Leistungen waren deshalb wie die Übrigen in §§ 3-10 SGB I aufgeführten
Sozialleistungen schon vor dem In-Kraft-Treten des SGB X, nämlich seit dem In-Kraft-
Treten des SGB I am 01.01.1976, Bestandteil des Sozialgesetzbuches. Dies erschließt
sich auch daraus, dass die GSi-Leistung zunächst als besondere Sozialhilfeleistung in
das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) integriert werden sollte (vgl. Artikel 8 des Entwurfs
eines Altersvermögensgesetz, BT-Drucksache 14/4595, S. 30). Da es hiergegen jedoch
politische Widerstände gab, wurde die Leistung in einem besonderen Gesetz, dem
GSiG, normiert (vgl. dazu den Bericht des Ausschusses für Arbeit- und Sozialordnung,
BT-Drucksache 14/5150, S. 48-51). Seit dem 01.01.2005 ist die GSi-Leistung
Bestandteil des SGB XII ("Sozialhilfe") in dessen Viertem Kapitel (§§ 41-46 SGB XII). §
8 Nr. 2 SGB XII bestimmt nunmehr ausdrücklich, dass die Sozialhilfe die
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung umfasst. War und ist aber diese
Leistung Bestandteil der Sozialhilfe, die schon bei In-Kraft-Treten des SGB X
Bestandteil des Sozialgesetzbuches war, so galt und gilt das Erste Kapitel des SGB X
für diese Leistungen auch ohne besondere Anwendungsbestimmung."
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Diesen Ausführungen schließt sich die Kammer nach eigener Überzeugungsbildung an.
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Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt auch nachdem er unanfechtbar
geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen soweit sich im
Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig
angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig
erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu
Unrecht erhoben worden sind. Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit
entsprechend zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den
Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum
bis zu 4 Jahren nach der Rücknahme erbracht (§ 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X).
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§ 44 SGB X findet entgegen der Auffassung des Beklagten auch im Recht der
Grundsicherung Anwendung. Das Wesen der Grundsicherung schließt eine
Anwendung von § 44 SGB X nicht aus. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht § 44
SGB X auf die Sozialhilfe nicht für anwendbar gehalten und dies mit der Eigenart der
Sozialhilfe begründet (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.11.2003, Az.: 5 C 26/02). Bei der
Sozialhilfe handele sich um eine Nothilfe, die gleichsam täglich neu regelungsbedürftig
sei und deswegen einen gegenwärtigen Bedarf voraussetze. Daraus ergebe sich, dass
für einen in der Vergangenheit bestandenen Bedarf der nicht mehr fortbesteht,
rückwirkend kein Anspruch auf Sozialhilfe geltend gemacht werden könne.
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Diese Rechtsprechung ist auf die Grundsicherung bei Erwerbsminderung nicht
übertragbar. Denn bei dieser Leistungsform besteht die vom Bundesverwaltungsgericht
als entscheidungserhebliche Eigenart der Sozialhilfe als eine ausschließlich auf die
Gegenwart bezogene, gleichsam täglich neu regelungsbedürftige Hilfe nicht. Vielmehr
ist die Grundsicherung zwar ebenfalls bedarfsorientiert. Sie ist jedoch nicht am
Bedarfsdeckungsprinzip ausgerichtet, wonach nur der im Einzelfall notwendige
Lebensunterhalt sichergestellt werden soll, sondern die Grundsicherung soll den
grundlegenden Bedarf für den Lebensunterhalt sicherstellen. Es handelt sich bei der
Grundsicherung um eine auf Dauer angelegte Sozialleistung, die in der Regel für einen
Zeitraum von 12 Monaten bewilligt wird (vgl. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB XII, § 6 Abs. 1
GSiG). Der Bescheid über die Bewilligung von Grundsicherung stellt einen
Dauerverwaltungsakt dar (vgl. LPK-BSHG/Brühl, Anhang I (GSiG) § 6; Grube-
Wahrendorf, SGB XII, § 44 Rn. 1). Entsprechend muss, wenn sich nachträglich
herausstellt, dass eine Grundsicherungsleistung zu Unrecht abgelehnt oder nicht
erbracht worden ist, ein rechtswidriger Bescheid nach § 44 Abs. 1 SGB X
zurückgenommen werden (so auch VGH München, Beschl. v. 13.04.2005 Az.: 12 ZB
05.262); SG Aachen, Urt v. 07.06.2006, Az. S 20 SO 34/06; SG Köln, Urt. v. 06.02.2006,
Az.: S 10 SO 15/05). Für das Recht der Grundsicherung ergibt sich darüber hinaus auch
unmittelbar aus § 44 Abs. 1 Satz 2 SGB XII (bzw. bis zum 31.12.2004 § 6 Satz 2 GSiG),
dass hier der Gesetzgeber - anders als bei der Sozialhilfe - bei einer Änderung der
Verhältnisse eine Leistungsanpassung rückwirkend für die Vergangenheit vorgesehen
hat.
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Bei Erlass der Bewilligungsbescheide hat der Beklagte das Recht auch unrichtig
angewandt, denn der Beklagte hat das Kindergeld in Höhe von 154,00 EUR im Monat
zu Unrecht als Einkommen der Klägerin angerechnet. Gemäß § 41 Abs. 2 i.V.m § 82 bis
84 XII (bzw. bis zum 31.12.2004 § 2 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 1 und 2 GSiG i.V.m. § 76 ff.
BSHG) hat ein Behinderter Anspruch auf Grundsicherungsleistungen, wenn er seinen
Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen und Vermögen beschaffen kann.
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Bei dem an die Mutter der Klägerin gezahlten Kindergeld handelt es sich jedoch nicht
um Einkommen der Klägerin. Denn das Kindergeld für volljährige Kinder ist Einkommen
desjenigen, an den es ausgezahlt wird. Etwas anderes gilt nur dann, wenn das
Kindergeld dem Kind gesondert zugewendet wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.04.2005, Az.:
5 C 28/04; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 02.04.2004, Az.: 12 B 1577/03). Eine
gesonderte Zuwendung ist hier weder ersichtlich, noch wird sie vom Beklagten
vorgetragen. Da die zu Unrecht für die Vergangenheit nicht erbrachten Sozialleistungen
gemäß § 44 Abs. 4 SGB X für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren vor der Rücknahme
nachzuzahlen sind, hat die Klägerin einen Anspruch für den von ihm geltend gemachten
Zeitraum vom 01.01.2003 bis zum 31.05.2005.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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