Urteil des OVG Schleswig-Holstein vom 14.03.2017

OVG Schleswig-Holstein: irak, bedrohung, gefahr, abschiebung, ausländer, wahrscheinlichkeit, zivilperson, leib, gewalt, verdacht

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Gericht:
Oberverwaltungsgericht
für das Land Schleswig-
Holstein 1. Senat
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 LA 125/06
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 25 Abs 3 AufenthG 2004,
§ 60 Abs 7 AufenthG 2004,
§ 60a AufenthG 2004, Art
15 Buchst c EGRL 83/2004
Ausländer; Abschiebung; Abschiebestopp; individuelle
Bedrohung
Leitsatz
1. Ob im Herkunftsland des Ausländers eine existenzielle Gefährdungslage i. S. d. § 60
Abs. 7 AufenthG i. V. m. Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG besteht, ist nicht
klärungsbedürftig, solange der Ausländer durch einen Abschiebestopp-Erlass im Sinne
des § 60a AufenthG vor einer Rückführung in seinen Heimatstaat geschützt ist.
2. Auch für eine Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson
infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen
bewaffneten Konflikts nach Art. 15 lit. c der Richtlinie 2004/83/EG ist die Feststellung
einer individuellen Bedrohung erforderlich; allgemeine Bürgerkriegs- oder
Kriegsgefahren genügen insoweit nicht. Der rechtliche Maßstab hat sich insoweit
gegenüber der bisherigen Rechtslage nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht verschoben.
3. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine Rückkehr in den Irak landesweit
zu einer individuellen und erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder für Freiheit
führt, besteht nicht. Weder die angespannte Sicherheitslage noch örtliche
Unzulänglichkeiten in der Versorgungslage im Irak begründen einen
Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. 4. Zur Feststellung einer
existenziellen Extremgefahr genügt es nicht, wenn in einem ärztlichen Schreiben nur
ein Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) bzw. bescheinigt
wird, dass bestimmte Symptome am ehesten auf eine PTBS zurückzuführen seien.
5. Ob nach Aufhebung eines Abschiebestopp-Erlasses eine Aufenthaltserlaubnis erteilt
werden kann, hängt nach § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG davon ab, ob dem Ausländer die
Ausreise nach den dann maßgeblichen Umständen bzw. seinem Gesundheitszustand
möglich und zumutbar ist.
Tenor
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des
Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts - Einzelrichter der 6. Kammer - vom
30. November 2006 wird abgelehnt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Antragsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht
erhoben.
Gründe
Der auf § 78 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 2 AsylVfG gestützte Antrag der Beklagten auf
Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.
1) Die aufgeworfene, als grundsatzbedeutsam erachtete Frage (S. 2 des
Zulassungsantrags), „ob die Gefährdungslage für irakische Rückkehrer aufgrund
der angespannten Sicherheitslage im Irak eine individuelle Bedrohung ist oder als
allgemeine Gefahr i. S. von Ziffer 26 der RL [scil.: der Erwägungsgründe zur
Qualifikationsrichtlinie 2004/83 EG] zu beurteilen ist“, führt nicht zur
Berufungszulassung.
a) Die Formulierung der aufgeworfenen Frage lässt schon keine
verallgemeinerungsfähige Klärung erwarten, weil sie auf eine (nicht näher
konkretisierte, derzeit angenommene) „angespannte“ Lage im Irak und auf eine
individuelle, also den Einzelfall des Klägers betreffende „Bedrohung“ abstellt;
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individuelle, also den Einzelfall des Klägers betreffende „Bedrohung“ abstellt;
soweit sie „allgemeine Gefahren“ anspricht, ist unklar, in welcher Hinsicht hier eine
Klärung erfolgen soll.
Der Zusammenhang der aufgeworfenen Frage zu § 60 Abs. 7 AufenthG i. V. m.
Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG hätte eine - zumindest eingrenzbare - Darlegung
dazu erfordert, in welcher Hinsicht die Frage einer „ernsthaften individuellen
Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge
willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen
bewaffneten Konflikts“ (Art. 15 lit. C der Richtlinie) klärungsbedürftig und -fähig ist.
b) Unabhängig davon wäre die aufgeworfene Frage im zugelassenen Verfahren
nicht klärungsbedürftig. Nach dem derzeitigen Sachstand könnte der Kläger im
zugelassenen Verfahren keine Entscheidung des Senats nach § 60 Abs. 7
AufenthG (unter Berücksichtigung des Art. 15 lit. c der Richtlinie 2004/83/EG)
beanspruchen.
Dem Kläger wird - derzeit - ein dem § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gleichwertiger
Schutz vor einer Abschiebung durch den Erlass des Innenministeriums Schleswig-
Holstein vom 30. Juni 2005 (IV 605-212-29.233.20-7) vermittelt. Damit werden die
Beschlüsse der Innenministerkonferenzen (zuletzt) vom 19. November 2004 (zu
TOP 3, Ziff. 2) und vom 24. Juni 2005 umgesetzt; Rückführungen in den Irak
erfolgen derzeit nicht. Damit bedarf es dazu keiner gerichtlichen Entscheidung,
weil der Kläger aufgrund der genannten Erlasse bereits in einer Weise vor einer
Rückführung in den Irak geschützt ist, die dem Schutz infolge einer gerichtlichen
Entscheidung zu § 60 Abs. 7 AufenthG i. V. m. Art. 15 lit. c der Richtlinie
2004/83/EG entspricht (vgl. dazu BVerwG, Beschl. v. 23.08.2006, 1 B 60.06 u. a.
[Juris]; BVerwG, Beschluss v. 28.08.2003, 1 B 192.03, Buchholz 402.240, § 54
AuslG Nr. 7; Urt. v. 12.07.2001, 1 C 2.01 , BVerwGE 114, 379 ff.; Beschl. des
Senats v. 02.08.2006, 1 LB 122/05 [S. 13, 15 d. Abdr.]; VGH Mannheim, Urt. v.
04.05.2006, A 2 S 1046/05, DVBl. 2006, 1059 [Ls.]; VGH München, Urt. v.
03.03.2005, 23 B 04.30631, EzAR-NF 051 Nr. 5).
2) Für die weitere, für grundsatzbedeutsam erachtete Frage, ob „es für das
Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung i. S. v. Art. 15 c RL ausreicht,
wenn die Risiken unmittelbar drohen und nicht eine nur entfernt liegende
Möglichkeit darstellen oder ob die Verletzung der genannten Rechtsgüter
gleichsam unausweichlich sein muss“, gilt das zu 1) Ausgeführte entsprechend.
Auch diese Frage wäre nur im Zusammenhang mit einer Entscheidung zu § 60
Abs. 7 AufenthG relevant, der es aber im Hinblick auf die fortbestehende
Erlasslage nicht bedarf. Anzumerken ist, dass das (auch) nach Art. 15 lit. c der
Richtlinie 2004/83/EG erforderliche Kriterium einer „individuellen“ Bedrohung die
Berücksichtigung allgemeiner Bürgerkriegs- oder Kriegsgefahren im Rahmen der
Schutzgewährung nicht eröffnet; der rechtliche Maßstab hat sich insoweit
gegenüber der bisherigen Rechtslage nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht verschoben
(vgl. BVerwG, Urt. v. 08.12.1998, 9 C 4.98, BVerwGE 108, 77; OVG Münster, Urt. v.
05.04.2006, 20 A 5161/04.A [Juris]).
3) Die geltend gemachte Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG) liegt nicht vor. Für
den Umstand, dass das Verwaltungsgericht zu einer inländischen Fluchtalternative
im Irak keine Ausführungen gemacht hat, lässt sich den Urteilsgründen kein
tragender „verallgemeinerungsfähiger Grundsatz“ entnehmen. Aus den
Urteilsgründen ist nicht einmal zu entnehmen, ob dieser „Prüfungspunkt“
überhaupt gesehen worden ist. Damit fehlt eine Grundlage für eine Divergenz.
4) Aufgrund der Zulassungsbeschränkung in § 78 Abs. 3 AsylVfG, die bzgl. der
dargelegten Gründe (s. o.) ein Berufungsverfahren nicht eröffnet, besteht keine
Möglichkeit, die in Satz 1 des erstinstanzlichen Tenors ausgesprochene
Verpflichtung zur Abänderung des Bescheides vom 09.11.2005 im Hinblick auf ein
„Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG“ rechtlich zu überprüfen.
a) Anzumerken bleibt, dass die Feststellung einer posttraumatischen
Belastungsstörung (PTBS) ein wissenschaftlichen Mindeststandards
entsprechendes Sachverständigengutachten erfordert (BVerwG, Beschl. v.
24.05.2006, 1 B 118.05). In den erstinstanzlich verwerteten „Gutachten“ des Dr. S.
ist nur von einem „Verdacht“ auf PTBS (20.11.2006, S. 1) bzw. davon die Rede,
dass bestimmte Symptome „am ehesten“ auf eine PTBS zurückzuführen seien
(05.12.2005, S. 1). Das genügt bei weitem nicht für die Feststellung einer PTBS,
wie sie in den Ausführungen auf S. 13-14 des erstinstanzlichen Urteils
angenommen wird; ausgehend von der von Dr. S. benutzten Formulierung, es sei
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angenommen wird; ausgehend von der von Dr. S. benutzten Formulierung, es sei
mit „appellativen selbstgefährdenden Fehlhandlungen“ (20.11.2006, S. 2) zu
rechnen, ist eine dem § 60 Abs. 7 AufenthG zuzuordnende existenzielle
Extremgefahr nicht zu erkennen.
b) Zur Beurteilung der „angespannten Sicherheitslage“ im Irak hat der Senat in
seinem Beschluss vom 02.08.2006 (1 LB 122/05) ausgeführt:
„2.2.2 Ein Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60
Abs. 7 AufenthG besteht ebenfalls nicht (vgl. dazu bereits Beschl. des Senats v.
12.07.2006, 1 LB 104/05).
2.2.2.1 Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger - im Sinne des §
60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG - bei einer Rückkehr in den Irak landesweit einer
individuellen und erheblichen konkrete Gefahr für Leib, Leben oder für Freiheit
ausgesetzt wäre, besteht nicht. Eine bloße theoretische Möglichkeit, Opfer von
Eingriffen in diese Rechtsgüter zu werden, genügt für die Annahme einer solchen
Gefahr nicht (BVerwG, Urt. v. 17.10.1995, a.a.O.). Der Kläger wäre als Rückkehrer
wie andere Irakerinnen und Iraker einer - allgemeinen - Gefahr durch Anschläge
terroristischer Banden oder durch Kriminelle ausgesetzt. Weder die angespannte
Sicherheitslage noch örtliche Unzulänglichkeiten in der Versorgungslage im Irak
begründen einen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Soweit
daraus Gefährdungen erwachsen, können diese grundsätzlich nur bei einer
Entscheidung der obersten Landesbehörde nach § 60 a Abs. 1 AufenthG
berücksichtigt werden (vgl. die sog. Sperrklausel des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG
).
2.2.2.2 Der Rückgriff auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wäre - in
verfassungskonformer Anwendung der Vorschrift - nur dann nicht gesperrt, wenn
eine derart extreme Gefahrenlage bestünde, dass der Ausländer bei einer
Rückkehr gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten
Verletzungen ausgeliefert wäre (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.10.1995, a.a.O.), m. a. W.,
wenn eine mit dem Verfassungsrecht (Art. 1 und 2 GG) unvereinbare Abschiebung
drohte.
Eine (derart) extreme Gefahrenlage, die den Kläger individuell und konkret bedroht
und deshalb im vorliegenden Fall eine Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60
Abs. 7 S. 2 AufenthG begründen könnte, liegt nicht vor. Zwar ist nicht zu
verkennen, dass die Sicherheitslage in Teilen des Iraks nach wie vor sehr instabil
ist und auch die Nahrungs-, Trinkwasser- und Stromversorgung in einigen
Regionen zeitweise unzureichend ist (vgl. Lagebericht des Ausw. Amtes v.
24.11.2005, zu V. 3). Andererseits sind bewaffnete Anschläge,
Auseinandersetzungen oder Konflikte bzw. ausgedehnte Kampfhandlungen seit
geraumer Zeit schwerpunktmäßig in bestimmten Regionen (insb. Im Zentralirak)
zu verzeichnen. Terroristischen Anschläge sind v. a. die Menschen in der irakischen
Zentralregion ausgesetzt, wobei vor allem Polizisten, Soldaten, Intellektuelle, Ärzte
und Politiker (auch des früheren Baath-Regimes) gefährdet sind. Im Hinblick auf
die Gesamtbevölkerung des Irak von ca. 24 Mio. Menschen ist eine beachtlich
wahrscheinliche individuelle Extremgefährdung des Klägers aus dieser - zu
beklagenden - Situation, deren Verbesserung politisches Ziel sowohl der irakischen
Regierung als auch der internationalen Militärallianz ist (vgl. SZ v. 04.05.2006),
nicht abzuleiten. Das Gleiche gilt hinsichtlich der Versorgungslage, die die irakische
Regierung durch die Verteilung von Nahrungsmitteln abzumildern sucht (AA-
Lagebericht, a.a.O.). Abschiebungsschutz analog § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG kann
der 38-jährige Kläger nach alledem nicht beanspruchen; in seinem Fall kann nicht
davon ausgegangen werden, dass er als Rückkehrer in den Irak gleichsam
sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert
sein würde (…).“
An dieser Beurteilung ist festzuhalten; sie wird von anderen
Oberverwaltungsgerichten geteilt (vgl. OVG Saarlouis, Urt. v. 29.09.2006, 3 R 6/06
[S. 84 - 98 der Gründe], m. w. N.).
c) Das erstinstanzliche Urteil ist durch einen (entsprechend) geänderten Bescheid
umzusetzen. Ob dem Kläger (nach Ende des „Abschiebestopps“ aufgrund des o.
g. Erlasses des Innenministers vom 30.06.2005) eine Aufenthaltserlaubnis erteilt
werden kann, hängt nach § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG davon ab, ob ihm die
Ausreise nach den dann maßgeblichen Umständen möglich und zumutbar ist.
Dazu wird zu prüfen sein, ob die geltend gemachten gesundheitlichen Gründe
bestehen bzw. fortbestehen.
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5) Weitere Berufungszulassungsgründe hat die Beklagte nicht dargelegt.
Der Zulassungsantrag ist daher mit der Kostenfolge aus § 83 b AsylVfG, § 154
Abs. 1VwGO abzulehnen.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).