Urteil des OVG Saarland vom 18.10.2005

OVG Saarlouis: der Abschiebung im Eilverfahren bei Verstoß gegen GG Art 6 Abs 1 und 2; Geltendmachung zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse, beim Bundesamt, subjektives recht, türkische republik

OVG Saarlouis Beschluß vom 18.10.2005, 2 W 15/05
Rückgängigmachung der Abschiebung im Eilverfahren bei Verstoß gegen GG Art 6 Abs 1
und 2; Geltendmachung zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse - hier Probleme und
Folgen einer mangelhaften Betreuung im Heimatstaat - beim Bundesamt
Leitsätze
Im Falle bereits vollzogener Vollstreckungsmaßnahmen - hier in Form der zwangsweisen
Aufenthaltsbeendigung durch Abschiebung eines Ausländers - kann sich aus dem
Grundsatz der Gesetz- und Rechtmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) unter ganz
besonderen Umständen ein vorläufig über § 123 Abs. 1 VwGO sicherungsfähiger
Folgenbeseitigungsanspruch ergeben.
Das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG sowie der in diesem Anwendungsbereich einen
entsprechenden Schutz vermittelnde Art. 8 EMRK verpflichten die Ausländerbehörde, bei
der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen bestehende familiäre Bindungen
des Ausländers zu berücksichtigen, so dass sich im Einzelfall eine ausländerbehördlich
bewirkte längere Trennung von Familienmitgliedern, insbesondere kleiner Kindern von den
Eltern oder gegebenenfalls auch nur von einem Elternteil im Sinne des Art. 6 Abs. 2 GG als
unzumutbar und eine Abschiebung daher als unverhältnismäßig erweisen kann.
Das Betreuungsverhältnis nach den §§ 1896 ff. BGB ist vom Gesetzgeber auf eine
rechtliche Betreuung reduziert worden. Rechtlich gesehen kann daher nicht von einer dem
Schutzbereich des Art. 6 GG familiären Beziehung zwischen dem Betreuten und seinem
zum Betreuer aufgrund dieser Bestellung ausgegangen werden.
Ehemalige Asylbewerber können zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse (§ 60 Abs. 7
Satz 1 AufenthG, früher § 53 Abs. 6 AuslG) gegenüber der Ausländerbehörde mit Blick auf
die dem § 42 AsylVfG zu entnehmende Bindungswirkung der diesbezüglich negativen
Entscheidung des Bundesamtes nicht mit Erfolg geltend machen. In dem Zusammenhang
spricht alles dafür, dass es sich bei Problemen und Folgen einer mangelhaften Betreuung -
hier eines geistig Behinderten in der Türkei - nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts um in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat wurzelnde
Gefahren handelt, wenn sie nicht aus dem Wegfall einer nicht ersetzbaren in Deutschland
befindlichen Betreuungsperson resultieren, sondern aus der Nichteinschaltung einer
benötigten - generell vorhandenen - Betreuungseinrichtung im Heimatland.
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts des
Saarlandes vom 30. Juni 2005 – 6 F 39/05 – wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Antragsteller.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren und unter entsprechender Abänderung
der Festsetzung des Verwaltungsgerichts in dem angefochtenen Beschluss auch für die
erste Instanz auf 5.000,- EUR festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde des am 19.5.2005 in die Türkische Republik abgeschobenen
Antragstellers, eines türkischen Staatsangehörigen, der aufgrund einer frühkindlichen
Hirnschädigung an einer geistigen Behinderung leidet, gegen den Beschluss des
Verwaltungsgerichts vom 30.6.2005 – 6 F 39/05 – muss erfolglos bleiben. Mit dieser
Entscheidung wurde der Antrag zurückgewiesen,
„dem Antragsteller vorläufig das Betreten der Bundesrepublik Deutschland vorübergehend
zu erlauben,
die von der Bundesrepublik Deutschland her möglichen Voraussetzungen für eine
Rückschaffung des Antragstellers unter Übernahme der Reisekosten ab Istanbul binnen 3
Wochen ab Zustellung des Beschlusses zu schaffen, und
dem Antragsteller über seinen Prozessbevollmächtigten unverzüglich nach Herstellung der
Rückschaffungsvoraussetzungen unter Fristsetzung Gelegenheit zur Wiedereinreise in das
Bundesgebiet einzuräumen“.
Das den Prüfungsumfang des Beschwerdegerichts abschließend bestimmende Vorbringen
im Beschwerdeverfahren (§146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) rechtfertigt keine andere
Entscheidung. Insoweit ist davon auszugehen, dass sich im Falle bereits vollzogener
Vollstreckungsmaßnahmen – hier in Form der zwangsweisen Aufenthaltsbeendigung durch
Abschiebung eines Ausländers – aus dem Grundsatz der Gesetz- und Rechtmäßigkeit der
Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) unter ganz besonderen Umständen eine vorläufig über
§123 Abs. 1 VwGO sicherungsfähiger Folgenbeseitigungsanspruch ergeben kann, wenn
durch den hoheitlichen Eingriff ein subjektives Recht des Betroffenen verletzt wurde, und
hierdurch ein noch andauernder rechtswidriger Zustand entstanden ist. Die nach der
Rechtsprechung hierfür geltenden strengen Voraussetzungen liegen hier allerdings nicht
vor.
Der Antragsteller beanstandet eine Nichtbeachtung „seiner Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1
GG und seiner Rechte aus Art. 8 Abs. 1 EMRK, weiterhin im Familienverband seines Onkels
und Betreuers leben zu dürfen, wo er bis zu seiner Abschiebung 9 Jahre lebte“. Das
Verwaltungsgericht habe wie bereits in dem der Abschiebung vorausgegangenen
Eilverfahren erneut keinen Anlass gesehen, auf diese Argumentation einzugehen. Er – der
Antragsteller – habe ausdrücklich auf eine Entscheidung des VGH Mannheim hingewiesen,
der in einem „fast identisch gelagerten Fall“ einen Aufenthaltsanspruch zur Fortführung der
familiären Lebensgemeinschaft bejaht habe. Demgegenüber sei von ihm nie – wie das
Verwaltungsgericht unterstellt habe – vorgetragen worden, dass „die notwendige
Lebenshilfe gerade nur durch seinen in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Onkel
erbracht werden könnte“. Dieses Vorbringen lässt keine von der erstinstanzlichen
Entscheidung abweichende Beurteilung des Rechtsschutzersuchens des Antragstellers zu.
Das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG sowie der in diesem Anwendungsbereich einen
entsprechenden Schutz vermittelnde Art. 8 EMRK verpflichten die Ausländerbehörde, bei
der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen bestehende familiäre Bindungen
des Ausländers zu berücksichtigen, so dass sich im Einzelfall eine ausländerbehördlich
bewirkte längere Trennung von Familienmitgliedern, insbesondere kleinen Kindern von den
Eltern oder gegebenenfalls auch nur von einem Elternteil im Sinne des Art. 6 Abs. 2 GG als
unzumutbar und eine Abschiebung daher als unverhältnismäßig erweisen kann. Davon kann
hier indes nicht ausgegangen werden. Vorliegend ist bereits der Schutzbereich der
genannten Grundrechtsnorm nicht betroffen. Der mit seiner Familie in B. lebende Onkel
des Antragstellers, Herr AA., bei dem der Antragsteller über Jahre hinweg gelebt hat, ist
vom Amtsgericht B-Stadt im Jahre 2004 nach Maßgabe des §1896 Abs. 1 BGB zum
ehrenamtlichen Betreuer bestimmt worden, nachdem er zuvor bereits die Vormundschaft
des Antragstellers wahrgenommen hatte. Das Betreuungsverhältnis ist indes, wie schon
die Überschrift vor §1896 ff. BGB ausdrücklich klarstellt, vom Gesetzgeber auf eine
rechtliche Betreuung reduziert worden. Rechtlich gesehen kann daher, auch wenn dies im
konkreten Fall faktisch weitergehend gewesen sein dürfte, nicht von einer dem
Schutzbereich des Art. 6 GG unterfallenden familiären Beziehung zwischen dem betreuten
Antragsteller und seinem zum Betreuer bestellten Onkel aufgrund dieser Bestellung
ausgegangen werden. Darin liegt auch der wesentliche Unterschied zu dem der
Entscheidung des VGH Mannheim zugrunde liegenden Sachverhalt. In dem dortigen Fall
hatte der Onkel der zunächst auch über eine Vormundschaft verstärkten faktisch
bestehenden „Eltern-Kind-Beziehung“ durch eine Adoption des Neffen in rechtlicher Hinsicht
Rechnung getragen. Dort stand daher eine durch die Abschiebung der früheren Neffen zu
befürchtende Trennung von Adoptiveltern beziehungsweise Vater und Sohn in Rede. Das
unterscheidet sich entgegen der Ansicht des Antragstellers ganz wesentlich von seinem
Fall, in welchem demnach nicht von einer durch die Rückführung in die Türkei zerstörten
rechtlich „schutzwürdigen familiären Lebensgemeinschaft“ auszugehen ist. Der
Betroffenheit des Aufgabenkreises seines Betreuers, der unter anderem die
Aufenthaltsbestimmung umfasste, wurde im konkreten Fall dadurch Rechnung getragen,
dass der Betreuer in dem im Zusammenhang mit der Beendigung seines Aufenthalts in
Deutschland eingeleiteten gerichtlichen Verfahren in seiner Stellung berücksichtigt und in
den einschlägigen Entscheidungen als solcher aufgeführt worden ist.
Ansonsten macht der Antragsteller in der Beschwerdebegründung geltend, das
Verwaltungsgericht habe „die Grundsätze über das Erfordernis der Glaubhaftmachung …
auf den Kopf gestellt.“ Er – der Antragsteller - habe vorgetragen und durch eidesstattliche
Versicherungen glaubhaft gemacht, dass er in Istanbul „nicht irgendwelchen
Familienangehörigen übergeben, sondern einfach auf die Straße gesetzt“ worden und jetzt
nur vorübergehend bei dem Bruder eines Bekannten untergebracht sei. Demgegenüber hat
das Verwaltungsgericht in dem angegriffenen Beschluss darauf verwiesen, dass der
Antragsteller nicht substantiiert in Abrede gestellt habe, dass die Angaben des
Antragsgegners beziehungsweise des türkischen Generalkonsulats in Mainz nicht richtig
seien, wonach im Vorfeld der Rückführung des Antragstellers seine Familie habe ausfindig
gemacht werden können, die sich bereit erklärt habe, ihn in Empfang zu nehmen und in
deren „Kreis“ er letztendlich auch gelangt sei.
Dem muss aus Anlass der vorliegenden Entscheidung nicht weiter nachgegangen werden.
Welche der beiden extrem unterschiedlichen Schilderungen hinsichtlich der Abläufe bei der
Rückkehr des Antragstellers in die Türkei auch zutrifft, so steht jedenfalls fest, dass sich –
selbst wenn man die an telefonische Auskünfte anknüpfenden Behauptungen des Onkels
des Antragstellers und des Herrn EB zugrunde legt – der Antragsteller sich offensichtlich
gegenwärtig nicht in einer existenziellen Notsituation befindet, die eine weitere Prüfung
rechtfertigen könnte, ob dies Folge einer rechtswidrigen Abschiebung sein könnte, welche
dann seine Rückschaffung nach Deutschland gebieten könnte. Insofern wären im Übrigen
weitere Ermittlungen vor Ort, gegebenenfalls unter Inanspruchnahme der Deutschen
Auslandsvertretung in der Türkei anzustellen. Was allerdings – selbst im schlimmsten Fall,
auch wenn die Darstellung des Antragsgegners völlig falsch wäre – verhindern sollte, dass
der Antragsteller einer notwendigen Obhut einer Betreuungseinrichtung in der Türkei
zugeführt wird, ist nicht ersichtlich.
Ergänzend sei auf Folgendes hingewiesen: Was erstens den Vollstreckungsablauf
(Abschiebung) als solchen angeht, so steht nach dem Akteninhalt außer Frage, dass der
Antragsgegner nach den in der Ausländerakte befindlichen Unterlagen alles Erdenkliche
unternommen hat, um eine ausreichend betreute Rückführung in die Türkei sicherzustellen.
Die Rückführungsmaßnahme selbst war ärztlich begleitet und für die Inempfangnahme des
Antragstellers in Istanbul durch einen Vertrauensarzt der deutschen Botschaft wurde alles
Mögliche getan. Zweitens ist der Antragsteller nochmals darauf zu verweisen, dass er als
ehemaliger Asylbewerber zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse (§60 Abs. 7 Satz 1
AufenthG, früher §53 Abs. 6 AuslG) gegenüber dem Antragsgegner als Ausländerbehörde
mit Blick auf die dem §42 AsylVfG zu entnehmende Bindungswirkung der diesbezüglich
negativen Entscheidung des Bundesamtes nicht mit Erfolg geltend machen kann. In dem
Zusammenhang spricht alles dafür, dass es sich bei den von dem Antragsteller
beziehungsweise dem Onkel behaupteten Problemen und Folgen einer mangelhaften
Betreuung in der Türkei nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts um in
den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat wurzelnde Gefahren handeln würde, da sie –
und das trägt der Antragsteller selbst vor - nicht aus dem Wegfall einer nicht ersetzbaren in
Deutschland befindlichen Betreuungsperson resultieren würden, sondern aus der
Nichteinschaltung einer benötigten – generell vorhandenen – Betreuungseinrichtung im
Heimatland. Von daher konsequent und richtig wurde auch im Rahmen des Asylverfahrens
des Antragstellers unter dem Aspekt des Vorliegens von Abschiebungshindernissen die
Frage seiner Möglichkeiten, den Eintritt existenzieller Gefährdungen bei Rückkehr durch die
Inanspruchnahme von Sozialeinrichtungen zu vermeiden, in den Blick genommen.
Die Kostenentscheidung beruht auf dem § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung findet ihre Grundlage in den §§ 63 Abs. 2, 53 Abs. 3, 52 Abs. 2,
47 GKG 2004, wobei hier die Halbierung des Auffangstreitwerts nicht gerechtfertigt
erscheint.
Der Beschluss ist nicht anfechtbar.