Urteil des OVG Saarland vom 24.02.2011

OVG Saarlouis: rücknahme, anspruch auf einbürgerung, freies ermessen, staatsangehörigkeit, libanon, arglistige täuschung, eltern, öffentliche gewalt, gewöhnlicher aufenthalt, abweichende meinung

OVG Saarlouis Urteil vom 24.2.2011, 1 A 327/10
Voraussetzungen der Rücknahme einer Einbürgerung - § 35 RuStAG, intendiertes oder
freies Ermessen?
Leitsätze
Der Aufenthalt eines Ausländers im Bundesgebiet ist rechtmäßig, wenn er von der
zuständigen Ausländerbehörde erlaubt worden ist.
Der Einbürgerungsbehörde obliegt nach der gesetzlichen Zuständigkeitsverteilung nicht die
Beurteilung, ob ein von der Ausländerbehörde erteilter Aufenthaltstitel rechtmäßig ist. Sie
ist an die Tatbestandswirkung wirksamer Entscheidungen der Ausländerbehörde gebunden.
Dies gilt auch, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass der Eingebürgerte die seiner
Einbürgerung zugrunde liegenden Aufenthaltstitel auf der Grundlage unrichtiger oder
unvollständiger Angaben gegenüber der Ausländerbehörde erlangt hat. Eine derartige
Vorgeschichte macht seine Einbürgerung nicht im Sinne des § 35 Abs. 1 StAG rechtswidrig.
Auch unter der aus Sicht des Senats eher fernliegenden Prämisse, dass § 35 StAG der
Einbürgerungsbehörde ein sogenanntes intendiertes Ermessen eröffnet, gilt, dass der
Einbürgerungsbehörde nach der Gesetzeslage ein Rücknahmeermessen verbleibt und sie
alle Belange des Betroffenen, die sich nicht in einem etwaigen Vertrauen auf die
Rechtsbeständigkeit der Einbürgerung erschöpfen, in die Abwägung mit den für die
Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände sprechenden Gründen einbeziehen muss. Die
Schwere des vorwerfbaren Fehlverhaltens, das zur Einbürgerung geführt hat, die
Gesamtdauer des Aufenthalts im Bundesgebiet und je nach Fallgestaltung die zwischen
Einbürgerung und Rücknahme verstrichene Zeit sind solche Belange.
Tenor
Die Berufung gegen das aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 14. September 2010
ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts des Saarlandes - 2 K 901/09 - wird
zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens fallen dem Beklagten zur Last.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger reiste mit seiner Ehefrau und seinen vier ältesten Kindern im Januar 1990 in das
Bundesgebiet ein, beantragte die Gewährung politischen Asyls und gab an, staatenloser
Kurde aus dem Libanon zu sein.
Am 22.11.1991 machten er und seine Ehefrau ausweislich notarieller Urkunde gleichen
Datums - Urkundenrolle-Nr. .../1991 - (Bl. 12 - 14 d. Verwaltungsakte) im Rahmen einer
Versicherung an Eides statt unter Hinzuziehung eines für die arabische Sprache - nicht
hingegen für türkisch oder kurdisch - vereidigten Dolmetschers Angaben zu den
Geburtsdaten und -orten der einzelnen Familienmitglieder (jeweils Beirut) sowie zu Tag und
Ort ihrer Eheschließung (ebenfalls Beirut). Weitere Schriftstücke zu Herkunft und
Abstammung des Klägers befinden sich in der Verwaltungsakte in Gestalt von
Übersetzungen den Libanon betreffender Aufenthaltserlaubnisse seiner Eltern, die -
ausweislich der Übersetzungen - am 23.7.1975 (Vater) bzw. am 21.8.1975 (Mutter) von
der Libanesischen Republik - Innenministerium - ausgestellt worden sind und hinsichtlich der
Nationalität jeweils den Eintrag „ungeklärt“ enthalten (Bl. 227 und 228 d.
Verwaltungsakte).
Nach rechtskräftiger Abweisung der Asylklage im März 1993 wurden dem seit Dezember
1993 verwitweten Kläger und seinen zwischenzeitlich sechs Kindern am 14.11.1996 auf
zwei Jahre befristete Aufenthaltsbefugnisse aufgrund der Härtefallregelung für Familien mit
langjährigem Aufenthalt erteilt, deren Geltung später mehrfach verlängert wurde. Seit
1997 ist der Kläger erwerbstätig, hat aber zunächst noch ergänzende Hilfe zum
Lebensunterhalt der Familie bezogen, die zum 1.2.2002 eingestellt werden konnte, weil
das Familieneinkommen seitdem zur Bestreitung des Lebensunterhalts ausreicht.
Am 19.7.2001 beantragte der Kläger seine Einbürgerung. Er gab in dem entsprechenden
Antragsformular hinsichtlich seiner Selbst, seiner verstorbenen Ehefrau, seiner Kinder und
seiner Eltern an, staatenlose kurdische Volkszugehörige zu sein, und beantwortete die
Fragen „wehrpflichtig“ bzw. „anderer Militärdienst“ jeweils durch Ankreuzen der Antwort
„nein“. In den Rubriken „vom Wehrdienst befreit“ bzw. „Wehrdienst abgeleistet“ befinden
sich keine Eintragungen. Zu seinem bisherigen Aufenthalt gab er an, von seiner Geburt bis
Januar 1990 in Beirut/Libanon gelebt zu haben.
Am 9.9.2003 wurde dem Kläger eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt.
Während des Einbürgerungsverfahrens aufgetretene Zweifel an der Herkunft des Klägers
aus dem Libanon bestätigten sich im Rahmen einer im Oktober/November 2004
durchgeführten erkennungsdienstlichen Überprüfung seiner Identität nicht.
Am 3.12.2004 wurde der Kläger durch Aushändigung der Einbürgerungsurkunde
eingebürgert. Seine Kinder wurden unter gleichem Datum bzw. unter dem Datum
6.5.2005 eingebürgert.
Im Juni/Juli 2005 teilte die Ausländerbehörde des Landkreises Hildesheim der für den Kläger
zuständig gewesenen Ausländerbehörde unter Vorlage eines türkischen Registerauszugs
mit, dass Anhaltspunkte für eine türkische Staatsangehörigkeit des Klägers bestünden. Ein
Personenfeststellungsverfahren unter Beteiligung von Interpol Ankara ergab im Dezember
2006, dass der Kläger als türkischer Staatsbürger registriert ist.
Zu diesen Erkenntnissen und der auf sie gestützten Absicht der Rücknahme seiner
Einbürgerung wurde der Kläger durch Schreiben des Beklagten vom 22.5.2007 angehört.
Mit Schreiben vom 31.7.2007 ließ er sich dahingehend ein, dass er kurdischer
Volkszugehöriger und in Beirut geboren sei. Dort habe er bis 1976 gelebt und sei dann
wegen des Ausbruchs des Bürgerkrieges mit seinen Eltern und der gesamten Familie in die
Türkei geflohen, wo sein Vater Verwandtschaft gehabt habe. Da die Familienmitglieder die
libanesische Staatsangehörigkeit nicht besessen hätten, hätten sie keine libanesischen
Pässe, sondern nur Laissez-Passer als Identitätspapiere gehabt, mit denen sie nicht in die
Türkei hätten einreisen können. Aus Erzählungen des Vaters wisse er, dass dieser die
Grenzbeamten bestochen habe, um die Einreise in die Türkei zu bewerkstelligen und
türkische Pässe, ausgestellt auf den türkischen Namen K. - A. sei ein arabischer Name -, zu
beschaffen. In der Folge habe er auch den zweijährigen türkischen Wehrdienst abgeleistet.
Als sich die Lage im Libanon um1980 beruhigt habe, sei die Familie dorthin zurückgekehrt,
sei aber etwa 1982 wegen Verschlechterung der politischen Lage erneut in die Türkei
ausgewandert. Dieses Hin und Her habe sich in der Folgezeit wiederholt. 1990 habe er sich
im Libanon befunden und sei von dort unter seinem richtigen libanesischen (arabischen)
Namen A. in die Bundesrepublik ausgereist. Bei der Einreise habe er sein libanesisches
Laissez-Passer vorgelegt.
Am 16.4.2009 wurde der Kläger durch das Amtsgericht Merzig von dem strafrechtlichen
Vorwurf, durch falsche Angaben gegen das Ausländergesetz verstoßen und eine mittelbare
Falschbeurkundung begangen zu haben, mangels Nachweises der türkischen
Staatsangehörigkeit freigesprochen (25 Cs 24 Js 1557/02).
Durch Bescheid vom 9.9.2009, zugestellt am 10.9.2009, nahm der Beklagte die
Einbürgerung des Klägers unter Rückforderung der Einbürgerungsurkunde und Festsetzung
einer Verwaltungsgebühr von 255,- Euro nach § 35 StAG rückwirkend zum 3.12.2004
zurück, da der Inlandsaufenthalt und die Einbürgerung durch arglistige Täuschung in Gestalt
des Vorspiegelns falscher Personalien und bewussten Verschweigens persönlicher
Verhältnisse erwirkt worden seien und der Kläger daher keinen Vertrauensschutz genieße.
Hinsichtlich der Kinder des Klägers sind keine entsprechenden Verfahren eingeleitet
worden.
Gegen die Rücknahme seiner Einbürgerung hat der Kläger am 16.9.2009 Klage erhoben
und geltend gemacht, er habe keine falsche Identität vorgetäuscht, da er von seiner
Abstammung her staatenloser kurdischer Volkszugehöriger sei. Die türkische
Staatsangehörigkeit habe er nie besessen und auch 1976 nicht erworben, da die
Bestechung der türkischen Grenzbeamten keine ordnungsgemäße Einbürgerung bewirkt
habe. Seine Angaben im Einbürgerungsformular zum Thema Wehrdienst seien nicht falsch
gewesen, da er die Fragen auf sein Herkunftsland Libanon bezogen und diesbezüglich
vollständig und zutreffend beantwortet habe. Mangels damaliger Beherrschung der
deutschen Schriftsprache habe er die Ausfüllung des Formulars seinem ältesten Kind
überlassen. Auch im strafgerichtlichen Verfahren habe sich der Vorwurf falscher Angaben
nicht bestätigt. Die Festsetzung der Höchstgebühr als Verwaltungsgebühr sei nicht
gerechtfertigt.
Der Kläger hat beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 9.9.2009 aufzuheben.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er meint, der strafgerichtliche Freispruch ändere nichts daran, dass der Kläger seine
Einbürgerung durch vorsätzliche unrichtige und unvollständige Angaben erwirkt habe. So
habe er bewusst alle Angaben, die auf einen Bezug zur Türkei hingedeutet hätten,
unterlassen, um seine Einbürgerung nicht zu gefährden. Seine diesbezüglichen
Erklärungsversuche überzeugten weder rechtlich noch tatsächlich und müssten als
Schutzbehauptungen bewertet werden.
Durch aufgrund mündlicher Verhandlung vom 14.9.2010 ergangenes Urteil, dem Beklagten
zugestellt am 3.11.2010, hat das Verwaltungsgericht der Klage stattgegeben und die
Berufung gegen das Urteil zugelassen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt, dass
die tatbestandlichen Voraussetzungen der die Rücknahme einer Einbürgerung regelnden
Vorschrift des § 35 StAG erfüllt seien, da der Kläger seine Einbürgerung durch vorsätzliche
unrichtige und unvollständige Angaben erwirkt habe. Ungeachtet der Frage, ob § 35 StAG
der Behörde ein intendiertes oder ein freies Ermessen einräume, fehle es an einer
ordnungsgemäßen, den Verhältnismäßigkeitgrundsatz im Einzelfall angemessen
berücksichtigenden Ermessensbetätigung, die auch im Rahmen eines intendierten
Ermessens unabdingbar sei. Dem öffentlichen Interesse an der Herstellung gesetzmäßiger
Zustände im Staatsangehörigkeitsrecht sei durchschlagendes Gewicht beigemessen
worden, ohne die besonderen Lebensumstände des Klägers - insbesondere seine
gelungene wirtschaftliche und soziale Integration, seine nachgewiesen ausgezeichneten
Deutschkenntnisse und seine strafrechtliche Unbescholtenheit - sowie die Tatsache, dass
die Fünfjahresfrist des § 35 Abs. 3 StAG zur Zeit der Rücknahme bereits fast verstrichen
war, in die Abwägung einzubeziehen und ihrer Bedeutung entsprechend zu gewichten.
Der Beklagte hat am 25.11.2010 Berufung eingelegt und diese mit Schriftsatz vom
20.12.2010, eingegangen am 23.12.2010, begründet.
Seines Erachtens steht außer Frage, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen einer
Rücknahme der Einbürgerung erfüllt sind. Der Kläger habe sowohl im ausländerrechtlichen
Verfahren wie auch im Einbürgerungsverfahren über seine Staatsangehörigkeit getäuscht,
da er seine Aufenthalte in der Türkei, seine dortige Registrierung als türkischer
Staatsangehöriger und die Tatsache, in der Türkei Wehrdienst abgeleistet zu haben,
verschwiegen habe. Hierdurch habe er zunächst ein Daueraufenthaltsrecht und sodann
seine Einbürgerung erlangt, letzteres ohne zuvor das Verfahren zur Aufgabe seiner
türkischen Staatsangehörigkeit zu durchlaufen. Durch die so erschlichene Einbürgerung sei
die Ausländerbehörde unzuständig und damit eine Rücknahme der rechtswidrigen
Aufenthaltstitel unmöglich geworden. Es könne nicht sein, dass der Beklagte die
einbürgerungsrelevante Täuschung infolge seiner Bindung an Entscheidungen der
Ausländerbehörde reaktionslos hinnehmen müsse. Der vom Kläger bewirkte Irrtum über
dessen Staatsangehörigkeit habe sich unmittelbar auf eine tatbestandliche Voraussetzung
der Einbürgerung bezogen, so dass die konkret erfolgte Einbürgerung auf diesem Irrtum
beruhe. Ob der Kläger nach heutiger Rechtslage eingebürgert werden könne, sei völlig
offen, da hinsichtlich der Deutschkenntnisse und der Kenntnisse der Rechts- und
Gesellschaftsordnung noch Tests abzulegen wären. Ebenso sei fraglich, ob den
Anforderungen an die abzulegende Loyalitätserklärung Rechnung getragen wäre. In
rechtlicher Hinsicht ist der Beklagte der Auffassung, dass § 35 StAG ein intendiertes
Ermessen eröffne, was insbesondere in Verbindung mit der Fünfjahresfrist des Absatzes 3
der Vorschrift zur Folge habe, dass die Rücknahme die regelmäßige Folge einer Täuschung
sei und dem Betroffenen während des Zeitraums von fünf Jahren grundsätzlich kein
Vertrauensschutz zugebilligt werden könne. Ein Absehen von der Rücknahme könne daher
nur ausnahmsweise bei Vorliegen ganz besonderer Gründe, die nach Schwere und Gewicht
in etwa den Fällen des § 8 Abs. 2 StAG vergleichbar sein müssten, gerechtfertigt sein. Die
vom Verwaltungsgericht angeführten, nach dessen Auffassung im Rahmen der
Ermessensbetätigung nicht gebührend berücksichtigten Umstände seien keine besonderen
Gründe in diesem Sinne und entsprächen im Übrigen weitgehend nicht einmal den
tatsächlichen Gegebenheiten.
Der Beklagte beantragt,
die Klage unter entsprechender Abänderung des Urteils
des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 14.9.2010
abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er ist der Auffassung, dass § 35 Abs. 1 StAG kein intendiertes Ermessen vorgibt und daher
die allgemeinen Grundsätze zur Ausübung und gerichtlichen Überprüfung des
Rücknahmeermessens Anwendung finden müssten. Die Rücknahme seiner Einbürgerung
sei aber selbst dann ermessensfehlerhaft, wenn man die Vorschrift im Sinne eines
intendierten Ermessens verstehe. Auch unter dieser Prämisse seien die Dauer des
rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet, die Tatsache, dass die Fünfjahresfrist des § 35
Abs. 3 StAG zur Zeit der Rücknahmeverfügung bereits fast vollständig verstrichen
gewesen sei, seine Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet, die Einbürgerung seiner Kinder und
die hieran anknüpfende Unzumutbarkeit einer Rückkehr in den Libanon oder die Türkei in
die behördlichen Erwägungen einzustellen, was nicht geschehen sei.
Der Kläger wurde in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat zu seiner Abstammung
und den näheren Umständen der behaupteten Aufenthalte in der Türkei in den Jahren von
1976 bis 1990 angehört.
Wegen des Ergebnisses der Anhörung und der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird
Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Akte des Vorprozesses 12 K 47/05,
des im Asylverfahren ergangenen Urteils des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom
2.3.1993 - 5 K 118/92 - und der Verwaltungsakte (1 Ordner), der zum Gegen-stand der
mündlichen Verhandlung gemacht worden ist.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet.
Zu Recht hat das Verwaltungsgericht der Klage stattgegeben. Die Klage ist zulässig und
begründet, denn der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 9.9.2009, mit dem dieser
die Einbürgerung des Klägers zurückgenommen hat, ist rechtswidrig und verletzt den
Kläger im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO in seinen Rechten.
Rechtsgrundlage der Rücknahme einer Einbürgerung ist seit dem 12.2.2009 § 35 StAG.
Diese neu in das Staatsangehörigkeitsgesetz eingefügte Vorschrift enthält
spezialgesetzliche Regelungen zu den tatbestandlichen Voraussetzungen der Rücknahme
einer Einbürgerung und gibt vor, dass die Einbürgerungsbehörde eine Einbürgerung nur bei
Vorliegen dieser Voraussetzungen zurücknehmen kann. Bezogen auf ihren konkreten
Regelungsgegenstand ersetzt sie die bis dahin als Rechtsgrundlage der Rücknahme einer
Einbürgerung zur Anwendung gelangten, dem allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht
angehörenden Vorschriften des jeweiligen Landesverfahrensrechts, vorliegend des § 48
SVwVfG. Durch die Schaffung der spezialgesetzlichen Rechtsgrundlage des § 35 StAG ist
dem in der Rechtsprechung - zuletzt seitens des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Urteil
vom 24.5.2006 - 2 BvR 669/04 -, BVerfGE 116, 24 ff.) - in mehrfacher Hinsicht
aufgezeigten konkreten Regelungsbedarf Rechnung getragen worden, indem der
Gesetzgeber die aus Sicht der Rechtsprechung aufgeworfenen Fragen einer verbindlichen
Regelung zugeführt hat. (BT-Drs. 16/10528, S. 1 f., 6)
Nach § 35 Abs. 1 StAG kann eine rechtswidrige Einbürgerung nur zurückgenommen
werden, wenn sie durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung oder durch
vorsätzlich unrichtige oder unvollständige Angaben, die wesentlich für die Einbürgerung
gewesen sind, erwirkt worden ist. Damit sind die tatbestandlichen Voraussetzungen enger
als unter der früheren Heranziehung des § 48 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 SVwVfG gefasst, der
eine Rücknahmemöglichkeit grundsätzlich auch in Fällen der Kenntnis oder grob
fahrlässigen Unkenntnis der Rechtswidrigkeit eröffnete.
Fallbezogen liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen, unter denen die Rücknahme
einer Einbürgerung zulässig ist, vor.
Zunächst ist festzustellen, dass das vom Kläger unterzeichnete Formular betreffend seinen
Antrag auf Einbürgerung - gemessen an seiner inzwischen durch den Vorhalt, als türkischer
Staatsbürger registriert zu sein, veranlassten Einlassung zu den Geschehnissen im
Zeitraum von 1976 bis 1990 - unrichtige und unvollständige Angaben enthält. Unrichtig ist
seine Erklärung, von Geburt an bis zu seiner Ausreise im Januar 1990 in Beirut/Libanon
gelebt zu haben. Unvollständig sind seine Angaben insoweit, als er die Frage, ob er
Wehrdienst geleistet habe, nicht beantwortet und die Ableistung eines anderen
Militärdienstes verneint hat.
Diese Angaben sind zumindest, soweit es um das Verschweigen des Wehrdienstes in der
Türkei geht, im Sinn des § 35 Abs. 1 StAG wesentlich für seine Einbürgerung gewesen.
Denn die Angabe, in der Türkei Wehrdienst geleistet zu haben, hätte - anders wohl als die
Offenlegung einer bürgerkriegsbedingten zeitweiligen Flucht in die Türkei - die Annahme
nahegelegt, dass der türkische Staat den Kläger jedenfalls damals als türkischen
Staatsangehörigen angesehen hat. Das Verschweigen des Wehrdienstes in der Türkei war
mithin im Sinne des § 35 Abs. 1 StAG wesentlich für die Annahme des Beklagten, der
Kläger sei staatenlos und seine Einbürgerung daher rechtlich möglich, ohne dass zuvor
seine bis dahin bestehende Staatsangehörigkeit aufzugeben wäre.
Es ist davon auszugehen, dass der Kläger den türkischen Wehrdienst - wie der Tatbestand
des § 35 Abs. 1 StAG voraussetzt - vorsätzlich verschwiegen hat. Seine diesbezüglichen
Versuche, einen entsprechenden Schuldvorwurf von sich zu weisen, überzeugen nicht.
Seine Behauptung, er habe das Ausfüllen des Formulars infolge unzureichender Kenntnisse
der deutschen Schriftsprache seinem ältesten Kind überlassen, zielt offenbar darauf ab,
den Eindruck zu vermitteln, er habe nicht vorsätzlich, sondern allenfalls grob fahrlässig, was
zur Erfüllung des Tatbestands des § 35 Abs. 1 StAG nicht ausreichen würde (ebenso
bereits die neuere Rechtsprechung zu § 48 VwVfG: BVerwG, Beschluss vom 13.6.2007 -
5 B 132/07 -; HessVGH, Urteil vom 18.1.2007 - 11 UE 111/06 -, und OVG Sachsen-
Anhalt, Beschluss vom 6.12.2007 – 2 M 303/07 -, jeweils juris) , unvollständige Angaben
gemacht. Indes überzeugt diese Darstellung nicht. Denn das älteste Kind des Klägers, seine
ausweislich seiner am 22.11.1991 abgegebenen Erklärung an Eides statt im Januar 1981
geborene Tochter Amal, war zur Zeit der Ausreise der Familie nach Deutschland bereits
neun Jahre alt und hatte sich den Bekundungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung
vor dem Senat zufolge - ebenso wie die übrigen im Libanon geborenen Kinder - selbst
mehrfach gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern in der Türkei aufgehalten, kennt
die familiären Bezüge dorthin daher aus eigenem Erleben und wusste zudem - wie sich aus
ihrer im Urteil des Amtsgerichts Merzig im Verfahren 25 Cs 24 Js 1557/02
wiedergegebenen Zeugenaussage ergibt - aus Erzählungen innerhalb der Familie, dass der
Kläger 1976 mit seinen Eltern in die Türkei geflohen war. Dies berücksichtigend kann nicht
angenommen werden, dass die Angabe, der Kläger habe von Geburt bis 1990 immer in
der Türkei gelebt, auf Unkenntnis der Tochter basierte. Das diesbezügliche unrichtige
Ausfüllen des Formulars und die fehlende Angaben zur Ableistung von Wehrdienst, einer
Frage, die die Tochter - falls sie die Einzelheiten nicht ohnehin kannte - nicht ohne
Rücksprache mit dem Kläger beantworten konnte, lassen sich demgemäß nur damit
erklären, dass der Kläger seiner Tochter die entsprechende - jedenfalls hinsichtlich seiner
Aufenthalte vor 1990 auch nach deren Kenntnisstand unrichtige - Beantwortung
vorgegeben, also vorsätzlich veranlasst hat. Er kann sich schließlich nicht mit der
Behauptung entlasten, er habe die Frage betreffend den Wehrdienst auf sein Heimatland
Libanon bezogen und insoweit wahrheitsgemäß beantwortet. Dieser Darstellung steht
entgegen, dass er hinsichtlich der Angaben zu seinem Aufenthalt bis 1990 die in der Türkei
verbrachten Jahre bewusst verschwiegen hat, was belegt, dass er darauf bedacht war,
einen Verdacht, er könne aus der Türkei stammen oder gar die türkische
Staatsangehörigkeit besitzen, gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Weitere Tatbestandsvoraussetzung des § 35 Abs. 1 StAG ist, dass durch die unrichtigen
oder unvollständigen Angaben eine rechtswidrige Einbürgerung erwirkt worden ist, d.h. die
erfolgte Einbürgerung muss rechtswidrig und die Fehlerhaftigkeit der Angaben muss hierfür
kausal sein. Der Begünstigte muss seine Einbürgerung durch zweck- und zielgerichtetes
Handeln in Gestalt entscheidungserheblicher fehlerhafter oder unvollständiger Angaben
erlangt haben. (Gemeinschaftskommentar zum Staatsangehörigkeitsrecht - GK-StAR -, 24.
Erg.Lfg. November 2010, § 35 Rdnr. 80 m.w.N.)
Rechtsgrundlage der am 3.12.2004 vollzogenen Einbürgerung des Klägers war die damals
noch in Kraft befindliche Vorschrift des § 85 AuslG, die unter bestimmten tatbestandlichen
Voraussetzungen einen Anspruch auf Einbürgerung begründete. Erforderlich war - neben
anderen damals unstreitig erfüllten Voraussetzungen - u.a. ein achtjähriger rechtmäßiger
gewöhnlicher Aufenthalt im Inland, der Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder
Aufenthaltsberechtigung und die Aufgabe oder der Verlust der bisherigen
Staatsangehörigkeit.
Eine Rechtswidrigkeit der Einbürgerung ergibt sich jedenfalls nicht aus einem Fehlen der
beiden erstgenannten Voraussetzungen, denn diese liegen vor. Der Aufenthalt eines
Ausländers im Bundesgebiet ist rechtmäßig, wenn er von der zuständigen
Ausländerbehörde erlaubt worden ist. (BVerwG, Urteil vom 16.10.1990 - 1 C 15/88 -,
BVerwGE 87, 11 ff.; GK-StAR, a.a.O., § 10 Rdnrn. 102, 104, 107) Nach der im
einschlägigen Zeitraum maßgeblichen Gesetzeslage wurde der Aufenthalt eines Ausländers
im Bundesgebiet gemäß § 5 AuslG durch Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung erlaubt.
Der Kläger verfügte seit dem 14.11.1996 über eine solche, und zwar zunächst in Gestalt
einer befristeten mehrfach verlängerten Aufenthaltsbefugnis gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m.
§ 30 AuslG und seit dem 9.9.2003 über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis nach § 5
Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 15 AuslG, so dass sein Aufenthalt zur Zeit der am 3.12.2004
vollzogenen Einbürgerung seit acht Jahren erlaubt und damit rechtmäßig war und die nach
§ 85 Abs. 1 Nr. 2 AuslG erforderliche Aufenthaltserlaubnis vorlag.
Im Rahmen der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Einbürgerung des Klägers ist allein
maßgeblich, ob die ihm erteilten Aufenthaltstitel wirksam waren, denn die
Einbürgerungsbehörde ist an die Tatbestandswirkung wirksamer Entscheidungen der
Ausländerbehörde gebunden und nicht befugt, deren Rechtsmäßigkeit im
Einbürgerungsverfahren erneut zu prüfen. (GK-StAR, a.a.O., § 10 Rdnr. 200 ff.) Die
eventuelle Rechtswidrigkeit eines der Einbürgerung zugrunde liegenden Aufenthaltstitels
schlägt nicht auf die Rechtmäßigkeit der Einbürgerung durch. Es bedarf daher keiner
Klärung, ob die dem Kläger auf den Namen A. unter der Annahme, er sei ein aus dem
Libanon stammender kurdischer Volkszugehöriger ungeklärter Staatsangehörigkeit, seitens
der Ausländerbehörde ausgestellte Aufenthaltsbefugnis bzw. –er-laubnis unter der
Prämisse, dass es sich bei dem Kläger in Wahrheit um einen türkischen Staatsangehörigen
mit dem Namen M. K. handelt, rechtswidrig war.
Nicht anders sieht dies das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, das zu der
Relevanz von Zweifeln der Einbürgerungsbehörde an der Identität eines Ausländers erst
kürzlich mit überzeugender Argumentation entschieden hat, dass die geklärte Identität
eines Ausländers kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Einbürgerung sei. (OVG
Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18.8.2010 - 19 A 1412/09 -, InfAuslR 2011, 31 ff.;
anders VG Stuttgart, Urteil vom 1.3.2010, juris) Die Klärung der Identität sei nach der
gesetzlichen Systematik ausschließlich dem Aufenthaltsrecht zugeordnet. So sei die
geklärte Identität des Ausländers nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 a AufenthG ausdrücklich eine
Regelvoraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels, während die geklärte Identität
im Einbürgerungsrecht nicht erneut als tatbestandliche Voraussetzung einer Einbürgerung
gefordert werde. Eine erweiternde Auslegung der Einbürgerungsvorschriften dahingehend,
dass die Identität des Ausländers im Einbürgerungsverfahren erneut zu prüfen sei, sei nicht
zulässig, denn sie widerspräche der gesetzlich normierten Zuständigkeitsverteilung
zwischen Ausländer- und Einbürgerungsbehörde und lasse sich auch aus Sinn und Zweck
der Einbürgerungsvoraussetzungen im Zusammenhang mit dem Wortlaut, der Systematik
und der Entstehungsgeschichte der gesetzlichen Vorgaben zur Anspruchseinbürgerung
nicht herleiten. Ziel der Anspruchseinbürgerung sei es allgemein, die Integration langjährig
im Bundesgebiet lebender Ausländer zu fördern. Die Einbürgerung dieser Personen sei als
Abschluss eines hinreichenden Integrationsprozesses und Grundlage weiterer Inte-gration
gedacht. Sinn und Zweck einer gesonderten Überprüfung der Identität im
Einbürgerungsverfahren könne im Hinblick auf diese Ziele nur sein, sicherzustellen, dass die
Person, die mit einem Namen in der Einbürgerungsurkunde bezeichnet ist und der diese
ausgehändigt wird, auch diejenige Person ist, welche die Einbürgerungsvoraussetzungen
tatsächlich erfülle. Denn diese Person habe eine Lebensgeschichte, die nicht nur durch ihre
bloße über einen gewissen Zeitraum unter einem bestimmten Namen gelebte Existenz in
der Bundesrepublik Deutschland abschließend charakterisiert werde. Eine im Interesse der
Bundesrepublik liegende sorgfältige Prüfung der Einbürgerungsvoraussetzungen und der
Ausschlussgründe setze voraus, die konkrete Person und deren Lebensgeschichte, auch
soweit sie sie vor der Einreise durchlaufen hat, zuverlässig zusammenzuführen, also ihre
inländische mit ihrer ausländischen Identität abzugleichen. Dies sei nach der Gesetzeslage
für den Regelfall sichergestellt. Eine erneute Klärung der Identität im
Einbürgerungsverfahren sei unzulässig, solange der Gesetzgeber die tatbestandlichen
Voraussetzungen der Einbürgerung nicht durch Ergänzung der gesetzlichen Vorschriften
entsprechend ergänze. (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18.8.2010, a.a.O.)
Der Senat schließt sich diesen Erwägungen an, die keinen Zweifel daran lassen, dass es
der Einbürgerungsbehörde auch in den Fällen, in denen (ausnahmsweise) nach der
Einbürgerung neue Erkenntnisse über Identitätsmerkmale – wie etwa Name und
Staatsangehörigkeit – bekannt werden, mangels gesetzlich begründeter Kompetenz
verwehrt ist, die Rechtmäßigkeit des der Einbürgerung vorangegangenen Aufenthalts und
die Wirksamkeit der damaligen Aufenthaltstitel in Frage zu stellen.
Fallbezogen bedeutet dies, dass die nach erfolgter Einbürgerung bekannt gewordene
Registrierung des Klägers als türkischer Staatsangehöriger nichts daran ändert, dass der
Kläger als die Person, die 1990 als kurdischer Volkszugehöriger ungeklärter
Staatsangehörigkeit aus dem Libanon unter dem Namen A. eingereist ist, eingebürgert
wurde. Die neuen Erkenntnisse betreffend seine Registrierung als türkischer
Staatsangehöriger unter dem Namen M. K. begründen nach der Konzeption des Gesetzes
keine Befugnis des Beklagten als Einbürgerungsbehörde, die Einbürgerung des Klägers mit
der Begründung, er sei in Wahrheit eine andere Person als die, die am 3.12.2004 nach
dem behördlichen Willen eingebürgert worden ist, für rechtswidrig zu erklären. Insoweit
bleibt maßgeblich, dass der unter dem Namen A. eingebürgerte Kläger sich zur Zeit seiner
Einbürgerung unter diesem Namen seit acht Jahren ausländerbehördlich erlaubt und damit
rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten (§ 85 Abs. 1 Satz 1 AuslG) und über eine
wirksame - wenn vielleicht auch rechtswidrige - Aufenthaltserlaubnis verfügt hat (§ 85 Abs.
3 Satz 1 Nr. 2 AuslG).
Die Einbürgerung des Klägers ist indes in ihrer konkreten Ausgestaltung mit Blick auf § 85
Abs. 1 Nr. 4 AuslG rechtswidrig.
Nach dieser Vorschrift ist Voraussetzung der Einbürgerung, dass der Ausländer seine
bisherige Staatsangehörigkeit aufgibt oder verliert. Da der Kläger nach den
zwischenzeitlichen Erkenntnissen als türkischer Staatsangehöriger registriert ist, hätte
seine Einbürgerung erst nach Befassung der türkischen Behörden mit der Angelegenheit
erfolgen dürfen. Die Rechtmäßigkeit seiner Einbürgerung setzte nach der zitierten
gesetzlichen Vorgabe voraus, dass ihm von Seiten der türkischen Behörden zuvor
entweder ein sogenanntes Negativattest im Sinne einer Bestätigung, dass eine türkische
Staatsangehörigkeit nicht besteht, ausgestellt oder dass seine Entlassung aus dem
türkischen Staatsverband verfügt worden wäre. Hieran fehlt es und dies nur deshalb, weil
der Kläger dem Beklagten jeglichen persönlichen und rechtlichen Bezug zur Türkei,
insbesondere die Tatsache, dass er türkischen Wehrdienst geleistet hat, verschwiegen und
behauptet hat, staatenlos zu sein.
Damit steht fest, dass der Kläger seine Einbürgerung in ihrer konkreten rechtlichen Gestalt
durch seine vorsätzlich unvollständigen Angaben erwirkt hat und damit die tatbestandlichen
Voraussetzungen für ein Einschreiten des Beklagten in Gestalt der Rücknahme der
Einbürgerung erfüllt sind.
Dennoch unterliegt der angefochtene Bescheid mit Blick darauf, dass der Beklagte das ihm
durch § 35 Abs. 1 StAG eröffnete Rücknahmeermessen nicht fehlerfrei ausgeübt hat, der
Aufhebung (§§ 113 Abs. 1 Satz 1, 114 Satz 1 VwGO).
Prämisse der behördlichen Ermessensausübung war - wie insbesondere in der
Berufungsbegründung deutlich zum Ausdruck kommt - die Annahme, dass § 35 Abs. 1
StAG ein sogenanntes intendiertes Ermessen vorgibt. Der Beklagte meint, die von ihm zu
treffende Ermessensentscheidung müsse in der Regel zur Rücknahme der Einbürgerung
führen und nur besondere Gründe, die nach Schwere und Gewicht in etwa mit den Fällen
einer besonderen Härte im Sinne des § 8 Abs. 2 StAG vergleichbar seien, könnten
ausnahmsweise ein Absehen von einer Rücknahme rechtfertigen.
Zumindest letzteres überzeugt nicht. Denn für die Auffassung, dass nur eine den Fällen des
§ 8 Abs. 2 StAG vergleichbare Härte ein Absehen von der Rücknahme rechtfertigen kann,
bietet das Staatsangehörigkeitsgesetz keine Grundlage. Hätte der Gesetzgeber eine dem
Eingebürgerten günstige Ermessensentscheidung nur bei Vorliegen einer besonderen Härte
der vorbezeichneten Art zulassen und damit eine gemessen an der zu der Rücknahme
nach allgemeinem Verwaltungsverfahrensrecht ergangenen höchstrichterlichen
Rechtsprechung - insbesondere des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Urteil vom
24.5.2006, a.a.O.) - sehr restriktive Regelung schaffen wollen, so wäre zu erwarten, dass
diese Absicht in Anlehnung an die Formulierung des § 8 Abs. 2 StAG im Gesetzeswortlaut,
zumindest aber in der Gesetzesbegründung, ihren eindeutigen Niederschlag gefunden hat,
was nicht festzustellen ist.
Ob § 35 StAG der Verwaltung unabhängig hiervon nur ein intendiertes Ermessen eröffnet,
erscheint fraglich. Der Wortlaut des Gesetzes und seine Entstehungsgeschichte geben
jedenfalls auch unter Berücksichtigung der Zielsetzungen des Staatsangehörigkeitsrechts
aus Sicht des Senats keine eindeutigen Hinweise in diese Richtung.
§ 35 StAG beschränkt die Rücknahmemöglichkeit zwar in Abs. 3 in zeitlicher Hinsicht auf
fünf Jahre nach der Bekanntgabe der Einbürgerung und gibt in Abs. 2 ausdrücklich vor, dass
der Rücknahme in der Regel nicht entgegensteht, dass der Betroffene staatenlos wird. Des
Weiteren verhält Abs. 5 sich zu Fallgestaltungen, in denen die Rücknahme Auswirkungen
auf Dritte hat und legt Abs. 4 abschließend fest, dass jede Rücknahme mit Wirkung für die
Vergangenheit erfolgt, was sich im Vergleich zu § 48 Abs. 2 Satz 4 SVwVfG als eine
diesbezüglich verbleibendes Ermessen ausschließende Verschärfung darstellt. Ansonsten
beschränkt die gesetzliche Regelung sich ihrem Wortlaut nach in Abs. 1 auf die
Ermächtigung der Einbürgerungsbehörde, eine Einbürgerung bei Vorliegen der näher
bezeichneten tatbestandlichen Voraussetzungen, die enger als diejenigen des § 48 Abs. 2
SVwVfG gefasst sind, zurückzunehmen. Formulierungen, aus denen sich herleiten ließe,
dass der Gesetzgeber im Regelfall ein bestimmtes Ergebnis der Ermessensbetätigung als
angemessen erachtet, finden sich im Gesetzeswortlaut anders als etwa in § 48 Abs. 2
Satz 4 SVwVfG, einem anerkannten Fall intendierten Ermessens (Kopp/Schenke, VwGO,
Kommentar, 16. Aufl. 2009, § 114 Rdnr. 21 b) , nicht. Ob das einschlägige Fachrecht -
vorliegend das Staatsangehörigkeitsrecht - hinsichtlich der Rücknahme einer Einbürgerung
vorgibt, dass das Ermessen im Regelfall fehlerfrei nur durch eine bestimmte Entscheidung,
nämlich die Entscheidung für die Rücknahme, ausgeübt werden kann (vgl. hierzu BVerwG,
Urteile vom 5.7.1985 - 8 C 22/83 -, NJW 1986, 738 ff., vom 25.9.1992 - 8 C 68 und
70/90 -, NJW 1993, 744 ff., und vom 16.6.1997 - 3 C 22/96 -, NJW 1998, 2233 f.) ,
beurteilt sich nach der Entstehungsgeschichte und den grundsätzlichen
Wertentscheidungen und Zielsetzungen des Staatsangehörigkeitsrechts.
Allgemein ist unter den Gesichtspunkten Entstehungsgeschichte und Zielsetzung des § 35
StAG festzuhalten, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner bereits in Bezug
genommenen, den Gesetzgeber zum Tätigwerden veranlassenden Entscheidung vom
24.5.2006 zu den Rechtsfolgen einer erschlichenen Einbürgerung und dem
Regelungsgehalt des Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG ausgeführt hat, es sei grundsätzlich Sache
der gesetzgeberischen Beurteilung, auf welche Weise neben der normativen Geltung des
Rechts auch dessen praktische Wirksamkeit am besten zu sichern sei. Dabei sei dem
Gesetzgeber von Verfassungs wegen – auch soweit es um die Sicherung der
Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gehe – nicht der Einsatz bestimmter Sicherungsmittel
vorgegeben. Insbesondere verbiete die Verfassung es nicht prinzipiell, begünstigende
Verwaltungsakte, die durch Täuschung, Bestechung oder Betrug des Entscheidungsträgers
erwirkt worden seien, in Geltung zu belassen, solange die rechtlichen Rahmenbedingungen
insgesamt nicht so beschaffen seien, dass sie – zumindest aus der Sicht der weniger
Gewissenhaften – zu rechtswidrigem Verhalten oder zur Herstellung rechtswidriger
Zustände geradezu einladen. Es könne auch bei erschlichenen Einbürgerungen im Einzelfall
gute Gründe geben, auf eine Rücknahme als die nächstliegende Reaktion des Rechtsstaats
zu verzichten. Umgekehrt sei selbst bei drohender Staatenlosigkeit davon auszugehen,
dass der Verfassungsgeber die Möglichkeit der Rücknahme durch Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG
nicht grundsätzlich habe verschließen wollen. Zu beachten sei, dass der
Staatsangehörigkeitsstatus seiner Natur nach für den Einzelnen von grundlegender
Bedeutung sei, da er seine staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten bestimme. Der
diesbezügliche Grundrechtsschutz habe besonderes Gewicht, da er nicht graduell
austariert werden könne, sondern für den Betroffenen immer eine Entscheidung über
„Alles oder Nichts“ darstelle. Im Falle der zeitnahen Rücknahme einer erschlichenen
Einbürgerung stehe dem Täuschenden gemäß § 48 VwVfG kein schützenswertes
Vertrauen zu, so dass das rechtsstaatliche Interesse an der rückwirkenden
Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände regelmäßig überwiege, wobei die Verwaltung im
Rahmen des Ermessens einen Spielraum für besonders schutzwürdige Ausnahmefälle
habe. Hier sei durch die Einräumung von Ermessen die Möglichkeit einer dem Einzelfall
angemessenen Reaktion eröffnet. Die öffentliche Gewalt sei aus verfassungsrechtlichen
Gründen nicht verpflichtet, jeden rechtswidrigen oder verfassungswidrigen Verwaltungsakt
ohne Rücksicht auf seinen formellen Rechtsbestand von Amts wegen zu beseitigen. Ebenso
sei der Gesetzgeber nicht gehalten, in Fällen der erschlichenen Einbürgerung etwa dem
Beispiel des Beamtenrechts folgend (§ 14 Abs. 1 Nr. 1 BBG) kraft Gesetzes deren
zwingende Rücknahme vorzugeben.
Die Richter des Bundesverfassungsgerichts, die die im zitierten Urteil getroffene
Entscheidung, dass die Landesverwaltungsverfahrensgesetze der Rücknahme einer
Einbürgerung zumindest im Regelfall eine hinreichende Rechtsgrundlage bieten, nicht
mitgetragen haben, haben ihre abweichende Meinung unter dem Gliederungspunkt IV des
Urteils begründet, wobei sie die grundlegende Bedeutung der Staatsangehörigkeit für den
Einzelnen und die Gemeinschaft ebenfalls betont und hieraus hinsichtlich der
Rücknehmbarkeit von Einbürgerungen auf die Notwendigkeit geschlossen haben, die
Besonderheiten des Status der Staatsangehörigkeit in die Abwägung einbeziehen. Der
Gesetzgeber habe eine bewusste, diesen Besonderheiten Rechnung tragende
Entscheidung darüber zu treffen, ob und in welchen Grenzen Täuschung oder
vergleichbares Fehlverhalten zur Rücknahme der Einbürgerung führe. Denn es verstehe
sich nicht von selbst, dass missbräuchliches Verhalten über das Instrument der Rücknahme
der Einbürgerung und nicht auf andere Weise sanktioniert werde. Es liege im Rahmen der
Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, innerhalb eines vorgegebenen sachlichen und
zeitlichen Rahmens Spielräume für eine administrative Ermessensausübung vorzusehen,
um so der Vielfalt möglicher Fallgestaltungen gerecht zu werden. (BVerfG, Urteil vom
24.5.2006, a.a.O.)
Mithin stimmen alle an der Entscheidung beteiligten Richter des Bundesverfassungsgerichts
darin überein, dass die Fälle einer erschlichenen Einbürgerung bedingt durch die Umstände
des Einzelfalls sehr vielgestaltig sein können und es daher gerade unter Berücksichtigung
der grundlegenden Bedeutung der Staatsangehörigkeit gute Gründe dafür gibt, dass der
Gesetzgeber der Verwaltung ein Rücknahmeermessen einräumt und ihr damit die
Möglichkeit eröffnet, die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls ihrem Gewicht
entsprechend in ihre Abwägungen einzustellen. Diesen Erwägungen hat der Gesetzgeber
Rechnung getragen und § 35 StAG seinem insoweit eindeutigen Wortlaut nach als
Ermessensvorschrift ausgestaltet.
Zur Frage, ob den Strukturen des Staatsangehörigkeitsrechts aus verfassungsgerichtlicher
Sicht eher ein freies oder ein intendiertes Ermessen gerecht wird, enthalten die
Urteilsgründe und die Begründung der abweichenden Meinung keine eindeutigen Vorgaben
bzw. Empfehlungen. Die verfassungsgerichtlichen Ausführungen, die das Tätigwerden des
Gesetzgebers letztendlich veranlasst haben, lassen sich daher aus Sicht des Senats nicht
zur Stützung der Auffassung des Beklagten, ihm sei nach dem Willen des Gesetzgebers
nur ein intendiertes Ermessen eingeräumt, heranziehen.
Die Gesetzesbegründung zu § 35 StAG ist hinsichtlich der Frage, ob der Verwaltung ein
freies oder ein intendiertes Ermessen eröffnet werden sollte, ebenfalls nicht aussagekräftig.
Nach seinen die Gesetzesbegründung einleitenden Erwägungen hat der Gesetzgeber
aufgrund der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Regelungsbedarf hinsichtlich drei
näher bezeichneter Problemkomplexe gesehen, wobei die Ausgestaltung des
Rücknahmeermessens keine Erwähnung gefunden hat. (BT-Drs. 16/10528, S. 1 f.) Der
allgemeine Teil der Gesetzesbegründung und die Einzelbegründung zu § 35 enthalten
ebenfalls keine eindeutig im Sinn eines intendierten Ermessens zu verstehende Aussage.
(BT-Drs., a.a.O., S. 6 u. 7 f.) Eher gegen die Annahme eines intendierten Ermessens
spricht, dass es in der Gesetzesbegründung heißt, die tatsächliche Anzahl von Fällen der
Rücknahme von Einbürgerungen sei gemessen an der Zahl an Einbürgerungen in der Praxis
sehr gering. (BT-Drs. 16/10528, a.a.O., S. 7) Die Rücknahme von Einbürgerungen ist
mithin keine Rechtsmaterie, die auch nur annähernd Züge einer Massenverwaltung
aufweist. Es geht typischerweise um Einzelschicksale, was es nahelegt, der
Einbürgerungsbehörde ungeachtet des Fehlens von schutzwürdigem Vertrauen eine
sorgfältige Prüfung des jeweiligen Einzelfalls abzuverlangen.
Begründet sich die Rechtswidrigkeit der Einbürgerung - wie vorliegend - ausschließlich
darauf, dass diese in Unkenntnis einer etwaig bestehenden Staatsangehörigkeit des als
staatenlos angesehenen Einbürgerungsbewerbers erfolgt ist, ohne dass zuvor
behördlicherseits das Notwendige zur Vermeidung von Doppelstaatigkeit veranlasst werden
konnte, spricht ein weiterer Gesichtspunkt gegen die Annahme eines intendierten
Ermessens. Denn ein dem Staatsangehörigkeitsrecht innewohnendes Bedürfnis, auf das
Verschweigen einer bestehenden Staatsangehörigkeit bei Vorliegen aller sonstigen
Einbürgerungsvoraussetzungen mit einer Einzelbelange weitgehend ausschließenden
Bindung des Rücknahmeermessens zu reagieren, drängt sich nicht auf. Vielmehr ist die
unterbliebene Befassung der Heimatbehörden mit der Klärung der
Staatsangehörigkeitsfrage ohne weiteres nachholbar, wodurch dem mit den einschlägigen
Vorschriften (hier § 85 Abs. 1 Nr. 4 AuslG) allein verfolgten Anliegen des Gesetzgebers,
Doppelstaatigkeit zu vermeiden, im Nachhinein vollumfänglich Geltung verschafft werden
kann. Damit besteht ein entscheidender Unterschied zu Einbürgerungen, deren
Rechtswidrigkeit sich aus einer irreparablen Missachtung anderer Zielsetzungen des
Staatsangehörigkeitsrechts herleiten, weil sie beispielsweise durch eine Scheinehe
erschlichen worden sind.
Fallbezogen bedarf - wie bereits das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen hat - die
Frage, ob § 35 StAG der Verwaltung lediglich ein intendiertes Ermessen einräumt, wovon
insbesondere die vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern
vom 17.4.2009 ausgehen (GK-StAG, a.a.O., Band 2, VII-3, Nr. 35.1, S. 64) , oder ob der
Verwaltung ein freies Ermessen eröffnet ist, mit Blick auf die Begründung des konkret
angefochtenen Rücknahmebescheids keiner Entscheidung. Denn nach dem in der
Gesetzesbegründung zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers und der
auszugsweise wiedergegebenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts steht
jedenfalls außer Zweifel, dass einzelfallbezogen eine behördliche Abwägung unter
Einbeziehung der Belange des Betroffenen stattzufinden hat. So heißt es in der Begründung
zu § 35 StAG ausdrücklich, dass die Gründe der Wiederherstellung des rechtmäßigen
Zustandes mit den Rechten der betroffenen Person abzuwägen sind, wobei der
Vertrauensschutzgedanke keine Rolle spiele, weil die Fehlerhaftigkeit der Einbürgerung in
deren Sphäre liege (BT-Drs., a.a.O., S. 8) . Dies macht deutlich, dass auch nach den
Vorstellungen des Gesetzgebers - ungeachtet der Nichtgewährung von Vertrauensschutz -
alle etwaigen den konkreten Einzelfall prägenden Belange des Betroffenen zu ermitteln und
im Rahmen der Abwägung entsprechend ihrem Gewicht zu berücksichtigen sind.
Dem wird der angefochtene Rücknahmebescheid des Beklagten nicht gerecht, denn der
Beklagte hat es verabsäumt, die gegen eine Rücknahme der Einbürgerung sprechenden
Belange des Klägers in seine Ermessensentscheidung einzustellen. Diesbezüglich enthält
auch die neuere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Gerichtshofes
der Europäischen Union eindeutige Vorgaben, denen die Rücknahmeverfügung des
Beklagten nicht hinreichend Rechnung trägt.
Das Bundesverwaltungsgericht fordert in Fällen, in denen der Einbürgerungsbewerber in
seinem Einbürgerungsantrag ein laufendes strafrechtliches Ermittlungsverfahren
verschwiegen, dadurch eine Aussetzung des Einbürgerungsverfahrens bis zur Klärung des
Strafvorwurfs verhindert und demgemäß seine „sofortige“ Einbürgerung erwirkt hat, dass
die Einbürgerungsbehörde das Gewicht des Vorwurfs, der Gegenstand der Ermittlungen ist,
im Rahmen der Betätigung ihres Rücknahmeermessens berücksichtigt. (BVerwG, Urteil
vom 3.6.2003 - 1 C 19/02 -, BVerwGE 118, 216 ff.) Nicht anders sieht dies der
Gerichtshof der Europäischen Union, der verlangt, dass unter anderem die Schwere des
von dem Betroffenen begangenen Verstoßes in das Rücknahmeermessen einzustellen ist.
(EuGH, Urteil vom 2.3.2010 - C-135/08 -, juris) Bezogen auf die vorliegende Konstellation,
die sich dadurch auszeichnet, dass der Kläger Anhaltspunkte für das eventuelle Bestehen
einer türkischen Staatsangehörigkeit verschwiegen und dadurch erreicht hat, dass er
unmittelbar, also ohne vorherige Befassung der türkischen Behörden mit seiner
Angelegenheit zwecks Ausstellung eines Negativattestes beziehungsweise Entlassung aus
der türkischen Staatsangehörigkeit, eingebürgert wurde, bedeutet dies, dass das
Fehlverhalten des Klägers mit dem ihm nach dem Sach- und Streitstand konkret
zukommenden Gewicht in die Abwägung einzustellen ist. Dies ist nicht geschehen, obwohl
dem Beklagten aufgrund der Anhörung des Klägers dessen Einlassung bekannt war, er sei
staatenloser kurdischer Volkszugehöriger aus dem Libanon und habe die türkische
Staatsangehörigkeit weder aufgrund entsprechender Abstammung noch aufgrund einer
wirksamen Einbürgerung jemals erworben. Dass er und seine Eltern und Geschwister
dennoch in dem Register von Mersin als türkische Staatsangehörige geführt werden,
erkläre sich allein daraus, dass sein Vater diese Eintragungen 1976 durch Bestechung
erwirkt habe, um die durch den damals im Libanon ausgebrochenen Bürgerkrieg
veranlasste Flucht der Familie in die Türkei zu ermöglichen.
Diese Erklärung der Registereinträge kann - wie sie insbesondere in einem
Untersuchungsbericht zu staatenlosen Kurden aus dem Libanon vom April 2001
dokumentiert sind (RA Freckmann, Untersuchungsbericht Staatenlose Kurden aus dem
Libanon vom 20.4.2001) - mit Blick auf die tatsächlichen Verhältnisse in der fraglichen
Region durchaus der Wahrheit entsprechen und hätte daher eine Befassung des Beklagten
mit diesem Vorbringen notwendig gemacht.
Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat auf Nachfrage angegeben,
zur Volksgruppe der Mahalmi zu gehören. Hinsichtlich dieser Volksgruppe ergibt sich aus
dem erwähnten Untersuchungsbericht, dass es sich um arabisch sprechende Kurden
handeln dürfte, die seit mehreren Jahrhunderten in dem türkischen Gebiet zwischen
Mardin, Savur und Midyat leben. Diese Menschen tragen an und für sich arabische Namen,
wurden aber vom türkischen Staat gezwungen, einen türkischen Namen zu führen, den sie
im Umgang mit den türkischen Behörden benutzen müssen. Insbesondere die Mahalmi, die
in dem Bereich um Savur, in dem auch die als Geburtsort des Klägers bezeichnete
Ortschaft Ückavak liegt, angesiedelt sind, sind zumeist arm und gelten als Gegner des
türkischen Staates. Etwa seit Ende der 20iger Jahre des letzten Jahrhunderts sind die
Mahalmi verstärkt in den Libanon ausgewandert, weil sie dort in wirtschaftlicher Hinsicht
bessere Lebensbedingungen vorfanden. Dort konnten sie ungehindert unter ihren
arabischen Namen leben. Schon ihre Kinder haben die türkischen Familiennamen nicht
mehr gekannt und in der Regel keine Kontakte in die Herkunftsregion der Familie mehr
gehabt. Soweit Angehörige der Volksgruppe der Mahalmi die Türkei bereits vor Ende 1930
verlassen haben und ihr Verbleib ungeklärt war, regelt das türkische
Staatsangehörigkeitsgesetz von 1964, dass sie nicht mehr als türkische Staatsangehörige
gelten.
Unter Zugrundelegung dieser Gegebenheiten erscheint durchaus möglich, dass die
Darstellung des Klägers, er sei nur aufgrund Bestechung als türkischer Staatsangehöriger
registriert, ohne dass ihm dieser Status nach türkischem Recht zustünde, zutrifft. So
spricht der Kläger - wie der notariellen Urkunde vom 22.11.1991 zu entnehmen ist - weder
Türkisch noch Kurmanci, die Sprache der türkischen Kurden. Ferner sind seine Eltern
ausweislich ihrer libanesischen Aufenthaltserlaubnisse aus dem Jahre 1975, deren
Übersetzungen sich in der Verwaltungsakte des Beklagten befinden (Bl. 227 und 228),
1932 bzw. 1935 geboren. Nach Angaben des Klägers haben sie ihren Erzählungen zufolge
von Geburt an im Libanon gelebt. Dies vorausgesetzt ist nicht fernliegend, dass seine
Großeltern vor Ende 1930 in den Libanon ausgewandert sind und daher nach türkischen
Staatsangehörigkeitsrecht 1964 ihre ursprüngliche türkische Staatsangehörigkeit verloren
haben, so dass auch der Kläger diese nicht kraft Abstammung erlangt hätte. In diesem Fall
könnte er zu Recht für sich in Anspruch nehmen, alleine aufgrund der Bestechung
türkischer Beamter, von der sein Vater immer erzählt habe, unter dem türkischen Namen
M. K. als türkischer Staatsangehöriger registriert worden zu sein.
Der Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat angegeben, der zitierte
Untersuchungsbericht aus dem Jahr 2001 liege ihm vor und sein Inhalt sei ihm seit Jahren
bekannt. Vor diesem Hintergrund ist nicht nachvollziehbar, dass er die ihm bekannte
Einlassung des Klägers, nur aufgrund Bestechung in den türkischen Registern geführt zu
werden, in seinem Rücknahmebescheid vom 9.9.2009 damit abgehandelt hat, dass nach
den entgegenstehenden Ergebnissen der Ermittlungen des Bundeskriminalamtes und von
Interpol Ankara zweifelsfrei davon auszugehen sei, dass der Kläger der türkische
Staatsangehörige M. K. sei. Es wäre geboten gewesen, die Angaben des Klägers -
gegebenenfalls im Wege einer ergänzenden Befragung - einer Glaubhaftigkeitskontrolle und
den Kläger selbst einer Glaubwürdigkeitskontrolle zu unterziehen und bejahendenfalls im
Rahmen des Rücknahmeermessens zu berücksichtigen, dass das Fehlverhalten des
Klägers nicht im Verschweigen seiner „wahren“ arabischen Identität, sondern seiner
erkauften türkischen Aliasidentität bestand und ihm daher nicht mit dem Gewicht, das ihm
ansonsten beizumessen wäre, entgegengehalten werden kann. Da dies nicht geschehen
ist, leidet die Ermessensentscheidung des Beklagten an einem ihre Rechtswidrigkeit
begründenden Mangel. Gegen die Erheblichkeit dieses Mangels lässt sich insbesondere
nicht einwenden, der Kläger hätte unter Offenlegung seiner Registrierung in der Türkei nie
ein vorläufiges Bleiberecht und daher auch später kein Aufenthaltsrecht erlangen können.
Denn ausweislich der Auskunft des Landesverwaltungsamtes vom 20.3.2008 (Bl. 283 der
Verwaltungsakte) hätte der Kläger als türkischer Staatsangehöriger kurdischer
Volkszugehörigkeit bei einem Abschluss des entsprechenden Asylverfahrens nach dem
25.3.1992, dem Tag, an dem die diesbezügliche Härtefallregelung in Kraft getreten ist,
deren Voraussetzungen erfüllt.
Abgesehen hiervon ist die Ermessensausübung des Beklagten nach der neueren
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch insoweit zu beanstanden, als der
Beklagte es versäumt hat, die Dauer des Gesamtaufenthalts des Klägers im Bundesgebiet
und die zwischen Einbürgerung und Rücknahme verstrichene Zeit zugunsten des Klägers in
seine Erwägungen einzustellen. Die frühere Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts, wonach die Dauer des Aufenthalts in Deutschland in Fällen
eines erschlichenen Aufenthaltsrechts im Rahmen der Ermessensausübung nicht zu
berücksichtigt werden braucht (BVerwG, Urteil vom 9.9.2003 - 1 C 6/03 -, BVerwGE 119,
17 ff.) , ist überholt.
Unter dem Eindruck der bereits zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom
24.5.2006 hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (OVG Berlin-Brandenburg,
Urteil vom 19.10.2006 - 5 B 15.03 -, juris) im Oktober 2006 die Auffassung vertreten,
dass eine unzureichende Gewichtung der Dauer des Aufenthalts in Deutschland im Rahmen
der Abwägung - im dortigen Fall 13 ½ Jahre - zur Ermessensfehlerhaftigkeit der
Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung führen dürfte, dies aber letztlich mangels
Entscheidungserheblichkeit offen gelassen. In der nachfolgenden Revisionsentscheidung, in
der es auf diese Frage ebenfalls nicht ankam, hat das Bundesverwaltungsgericht dennoch
festgestellt, dass es die Erwägungen des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg
dazu, dass die Zeitdauer des Aufenthalts des Klägers in Deutschland und der zwischen der
Einbürgerung und deren Rücknahme verstrichene Zeitraum als maßgebliche
Abwägungsgesichtspunkte bei der Ausübung des Ermessens einzustellen seien, im
rechtlichen Ansatz teile (BVerwG, Urteil vom 14.2.2008 - 5 C 4/07 -, BVerwGE 130, 209
ff.) , insoweit also von seiner früheren Rechtsprechung Abstand genommen.
Diese Neuorientierung der Rechtsprechung ist sachgerecht. Insbesondere die Gesamtdauer
des Aufenthalts im Bundesgebiet ist regelmäßig - und dies gilt im besonderen Maße, wenn
sie von langjähriger Erwerbstätigkeit begleitet wird - ein aussagekräftiger Indikator für die
Integration in das gesellschaftliche Umfeld, deren Förderung durch Einräumung
staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten ein Hauptanliegen der Einbürgerung ist. Die
Berücksichtigung der Gesamtdauer des Aufenthalts als ein je nach zeitlichem Umfang und
Begleitumständen mehr oder minder gewichtiger privater Belange trägt daher dazu bei, die
privaten Belange und das öffentliche Interesse an der Herstellung gesetzmäßiger Zustände
einzelfallbezogen in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander zu setzen.
Der Gerichtshof der Europäischen Union betont ebenfalls, dass die Zeit, die zwischen der
Einbürgerungsentscheidung und der Rücknahmeentscheidung vergangen ist, als ein
maßgeblicher Abwägungsgesichtspunkt in das Rücknahmeermessen einzustellen sei und
hebt im Übrigen hervor, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung zu
beachten sei. (EuGH, Urteil vom 2.3.2010, a.a.O.)
Diesen vom Bundesverwaltungsgericht und dem Gerichtshof der Europäischen Union
formulierten Anforderungen wird die Rücknahmeentscheidung des Beklagten nicht gerecht.
Insbesondere der Umstand, dass der Kläger sich zur Zeit der Rücknahmeentscheidung seit
fast 20 Jahren in Deutschland aufhielt, findet in seinen Erwägungen nicht einmal
ansatzweise Erwähnung. Ebensowenig verhält er sich zu der eventuellen
Abwägungsrelevanz der Tatsache, dass zwischen der Einbürgerung und der Rücknahme
bereits knapp fünf Jahre verstrichen waren. Vielmehr behauptet der Beklagte pauschal,
besondere Gründe, die zugunsten des Klägers zu berücksichtigen seien, seien nicht
ersichtlich. Hierin liegt ein durchgreifender Ermessensfehler, der zur Aufhebung der
angefochtenen Entscheidung führen muss, zumal das Bundesverwaltungsgericht in einem
ganz neuen Urteil vom 11.11.2010 (BVerwG, Urteil vom 11.11.2010 - 5 C 12/10 -, juris) ,
dessen Begründung erst nach der mündlichen Verhandlung vor dem Senat veröffentlicht
worden ist, bekräftigt hat, dass im Rahmen der Abwägung der öffentlichen und privaten
Belange alle nach Lage der Dinge maßgeblichen Umstände zu berücksichtigen seien.
Hierbei seien insbesondere die Schwere des vom Betroffenen begangenen Verstoßes und
die Zeit zwischen Einbürgerungsentscheidung und Rücknahmeentscheidung zu gewichten.
So könne zum Beispiel eine geringe Schwere des Verstoßes im Zusammenwirken mit
anderen Umständen dazu führen, dass die Rücknahme ausnahmsweise unverhältnismäßig
ist.
Einen Versuch, im Berufungsverfahren im Rahmen des nach § 114 Satz 2 VwGO Möglichen
Ermessenserwägungen nachzuschieben, hat der Beklagte nicht unternommen, sondern
beharrlich den Standpunkt vertreten, der Fall biete keine Veranlassung zu ergänzenden
Ermessenserwägungen.
Schließlich ist das Vorbringen des Beklagten, es sei fraglich, ob der Kläger alle nach heutiger
Rechtslage maßgeblichen Einbürgerungsvoraussetzungen erfülle, nicht
entscheidungserheblich. Seiner Relevanz steht bereits das im Staatsangehörigkeitsrecht
geltende Günstigkeitsprinzip, das in § 40 c StAG seinen gesetzlichen Niederschlag gefunden
hat, entgegen. Zudem gilt, dass die Erfüllung der Voraussetzungen einer
Anspruchseinbürgerung zur Zeit der gerichtlichen Entscheidung über die Rücknahme der
Einbürgerung zwar zur Rechtswidrigkeit einer nach den Rücknahmevorschriften eigentlich
rechtmäßigen Rücknahme führen kann, weil ihr der aktuelle Anspruch auf Einbürgerung
entgegensteht. Indes kann das Nichtbestehen eines Einbürgerungsanspruchs zur Zeit der
gerichtlichen Entscheidung über die angefochtene Rücknahme unter keinem rechtlichen
Gesichtspunkt zur Folge haben, dass eine den rechtlichen Anforderungen nicht genügende
und damit rechtswidrige Rücknahme rechtmäßig wird.
Nach alledem hat das Verwaltungsgericht der gegen die Rücknahme der Einbürgerung
erhobenen Klage zu Recht stattgegeben, so dass die Berufung des Beklagten
zurückgewiesen werden muss.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 167 VwGO, 708 Nr.
10 ZPO.
Die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO für die Zulassung der Revision sind nicht
erfüllt.
Beschluss
Der Streitwert wird in Anwendung der §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 2, 47 Abs. 1 GKG in
Verbindung mit Nr. 42.1. der Empfehlungen des Streitwertkataloges für die
Verwaltungsgerichtsbarkeit auch für das Berufungsverfahren auf 10.000,- Euro
festgesetzt.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar.