Urteil des OVG Saarland vom 26.07.2007

OVG Saarlouis: rechtliches gehör, gewissheit, unrichtigkeit, wahrscheinlichkeit, grundstück, erkenntnis, behandlung, gerichtsgebühr, verfahrensmangel, verfahrensbeteiligter

OVG Saarlouis Beschluß vom 26.7.2007, 2 A 349/07
Anhörungsrüge im Berufungszulassungsverfahren - baurechtlicher Nachbarstreit
Leitsätze
1. Hat sich das Verwaltungsgericht für die Beurteilung der Frage des Vorliegens einer
Verletzung des Rücksichtnahmegebots im baurechtlichen Nachbarstreit einen Eindruck von
dem "Baugrundstück" und seiner Umgebung, insbesondere auch von der Situation des
Nachbargrundstücks verschafft und anschließend eine nach den Maßstäben der
Rechtsprechung nachvollziehbare Bewertung vorgenommen, so ist die Zulassung der
Berufung auf der Grundlage des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nur geboten, wenn das
Antragsvorbringen besondere Aspekte des Falles aufzeigt, die eine überwiegende
Wahrscheinlichkeit der Unrichtigkeit des vom Verwaltungsgericht gefundenen Ergebnisses
rechtfertigen können.
2. Dass die "Eröffnung" des auf die volle Überprüfung verwaltungsgerichtlicher Urteile in
tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zielenden Rechtsmittels der Berufung seit dem
Inkrafttreten des 6. VwGO Änderungsgesetzes zum 1.1.1997 einem generellen
Zulassungserfordernis unterliegt, verdeutlicht ohne weiteres, dass die Zurückweisung eines
Zulassungsantrags nicht die abschließende Feststellung durch das Rechtsmittelgericht
voraussetzen kann, dass das erstinstanzliche Urteil "mit Gewissheit" richtig ist.
3. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen der Gebote effektiven Rechtsschutzes (Art.
19 Abs. 4 GG) und der Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) gebieten
keine davon abweichende Interpretation der Zulassungstatbestände der § 124 Abs. 2 Nr. 1
und Nr. 2 VwGO.
Tenor
Die Anhörungsrüge der Klägerin gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des
Saarlandes vom 21. Juni 2007 – 2 A 152/07 – wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Rügeverfahrens trägt die Klägerin. Außergerichtliche Kosten der
Beigeladenen werden nicht erstattet.
Gründe
I.
Die Klägerin begehrt die Zulassung der Berufung gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts
des Saarlandes vom 14.2.2007 – 5 K 125/05 –, mit dem ihre Klage auf Aufhebung einer
der Beigeladenen mit Bauschein des Beklagten vom 18.5.2004 erteilten Baugenehmigung
für den „Neubau einer Lagerhalle zur Lagerung von Trockenbaustoffen“ auf einem
rückseitig an ihr Wohnanwesen angrenzenden Grundstück abgewiesen wurde Das
Verwaltungsgericht hat nach Durchführung einer Ortseinsicht, in deren Zeitpunkt das
Gebäude bereits ausgeführt worden war, unter anderem eine Verletzung des Gebotes
nachbarlicher Rücksichtnahme (§ 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB) wegen der Auswirkungen auf
das Grundstück der Klägerin verneint. Den Berufungszulassungsantrag hat der Senat mit
Beschluss vom 21.6.2007 – 2 A 152/07 – zurückgewiesen. Insoweit macht die Klägerin
eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, §
108 Abs. 2 VwGO) geltend.
II.
Die Anhörungsrüge (§ 152a VwGO) der Klägerin ist unbegründet und rechtfertigt nicht die
damit beantragte Fortsetzung des Berufungszulassungsverfahrens. Eine Verletzung des
Anspruchs der Klägerin auf rechtliches Gehör liegt nicht vor (§ 152a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
VwGO). Eine solche möchte die Klägerin konkret aus folgender Passage des beanstandeten
Beschlusses des Senats (Seiten 6 und 7) herleiten:
Die Klägerin macht geltend, die letztgenannte Aussage, die im Übrigen ständiger
Rechtssprechung des erkennenden und auch des früher für Bausachen zuständigen 1.
Senats entspricht und die in einer Vielzahl von – unter anderem auch unter Beteiligung der
Prozessbevollmächtigten der Klägerin ergangenen – Entscheidungen zum Ausdruck
gekommen ist, (vgl. die in den Fußnoten 8 bis 10 des Beschlusses vom 21.6.2007 – 2 A
152/07 – angeführten Beschlüsse des 1. und des 2. Senats, wobei beispielsweise der
Beschluss vom 20.7.2001 – 2 Q 10/01 –, SKZ 2002, 159 Leitsatz Nr. 35, einen
Berufungszulassungsantrag der Klägerin betraf, und die entsprechende Passage auch in
veröffentlichten Leitsatz enthalten ist) halte „einer verfassungsrechtlichen Überprüfung
nicht stand“. Hierdurch werde die „gerichtliche Prüfungskompetenz im
Zulassungsverfahren auf eine Art Schlüssigkeits- oder Evidenzprüfung reduziert“
beziehungsweise die „für das Berufungsverfahren vorgesehene gerichtliche Kontrolle im
Berufungszulassungsverfahren abgeschnitten“.
Das ist unzutreffend und rechtfertigt schon gar nicht die Annahme, hierdurch werde ein
„von der Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel“ ineffektiv gemacht. Die „Eröffnung“ des
auf die Überprüfung eines Urteils des Verwaltungsgerichts in tatsächlicher und rechtlicher
Hinsicht zielenden Rechtsmittels der Berufung unterliegt seit dem Inkrafttreten des 6.
VwGO ÄndG (vgl. das Gesetz vom 1.11.1996, BGBl. I, 1626) zum 1.1.1997 – in
verfassungsrechtlich (Art. 19 Abs. 4, 103 Abs. 1 GG) unbedenklicher Weise – einem
generellen Zulassungserfordernis. Allein dieser Umstand, insbesondere aber die
Formulierung der Zulassungstatbestände der Nr. 1 und der Nr. 2 in § 124 Abs. 2 VwGO
macht ohne weiteres deutlich, dass die Zurückweisung eines Zulassungsantrags nicht –
wie die Klägerin meint – die abschließende Feststellung („mit Gewissheit“) voraussetzen
kann, dass das erstinstanzliche Urteil richtig ist. Bei einem solchen Verständnis liefe die mit
der genannten Änderung Prozessrechts beabsichtigte Beschränkung der Berufung durch
die Einführung des Zulassungserfordernisses leer. Die Verneinung des Vorliegens
„ernstlicher Zweifel“ an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils ist schon nach der
Formulierung eindeutig nicht gleichzusetzen mit der Feststellung seiner Richtigkeit und die
in den Fällen notwendiger Ortseinsichten in baurechtlichen Streitigkeiten immer
verbleibenden „Restzweifel“ sind nicht notwendig „ernstlich“. Vielmehr obliegt es dem
Zulassungsantragsteller auch in diesen Fällen, gewichtige Anhaltspunkte für die
Unrichtigkeit der Beurteilung und damit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts mit
seinem Zulassungsantrag darzulegen.
Die von der Klägerin zitierte Aussage bezieht sich auch konkret auf die Geltendmachung
der Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 VwGO, zu denen es im
Zusammenhang mit einer von der Klägerin insoweit geltend gemachten Verletzung des
Rücksichtnahmegebots im Beschluss des Senats vom 21.6.2007 unmittelbar vorher (Seite
6) heißt:
Daran ist festzuhalten. Dass die Klägerin ausweislich ihres Rügevorbringens nach wie vor
die Auffassung vertritt, das genehmigte Bauvorhaben der Beigeladenen sei ihr gegenüber
rücksichtslos, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Das Verwaltungsgericht ist zur
gegenteiligen Auffassung gelangt und hat dies ausführlich und nachvollziehbar begründet.
Das Vorbringen der Klägerin rechtfertigt nicht den Schluss, dass dabei der
entscheidungserhebliche Sachverhalt nicht zutreffend erfasst oder die von der
Rechtsprechung für diese Beurteilung entwickelten Maßstäbe verkannt worden wären.
Woraus sich hier die vom Gesetzgeber geforderten „ernstlichen Zweifel“ an der Richtigkeit
dieses Beurteilungsergebnisses ergeben sollen, ist nicht nachzuvollziehen.
Die von der Klägerin zur Begründung ihrer Rüge angeführte Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.6.2005 – 1 BvR 2615/04 –,
NVwZ 2005, 1176, wobei der dortige Zulassungsantrag im Übrigen vom
Rechtsmittelgericht mit seitens des Bundesverfassungsgerichts beanstandeter
Nutzbarmachung des Darlegungserfordernisses (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO)
zurückgewiesen worden war) betraf schließlich einen wesentlich anders gelagerten
Sachverhalt. In dem sich mit der Frage der Auswirkungen des Gebots effektiven
Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) für die Behandlung von Zulassungsanträgen
befassenden Erkenntnis ging es um einen Sachverhalt, in dem ein erstinstanzlich
unterlegener Verfahrensbeteiligter einen Verfahrensmangel (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) aus
der inhaltlich nicht nachvollziehbaren Ablehnung eines von ihm förmlich gestellten
Beweisantrags (§ 86 Abs. 2 VwGO) durch das Gericht hergeleitet hatte. Im vorliegenden
Fall hat aber das Verwaltungsgericht gerade die gebotene Sachverhaltsermittlung
durchgeführt, bei der die Klägerin im Übrigen durch ihre Prozessbevollmächtigten vertreten
worden ist und damit auch insoweit „Gehör“ gefunden hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf dem § 154 Abs. 1 VwGO. Einer Streitwertfestsetzung
bedarf es nicht, da der Beklagte und die Beigeladene nicht an dem Rügeverfahren beteiligt
wurden und sich die Gerichtsgebühr aus der Nr. 5400 des Kostenverzeichnisses nach
Anlage 1 zum Gerichtskostengesetz (GKG) ergibt, der insoweit eine Festgebühr von 50,-
EUR vorsieht.
Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 152a Abs. 4 Satz 3 VwGO).