Urteil des OVG Rheinland-Pfalz vom 01.09.2004

OVG Koblenz: therapie, rehabilitation, geistig behinderter, private krankenversicherung, training, abgrenzung, behandlung, behinderung, zink, sozialhilfe

OVG
Koblenz
01.09.2004
12 A 10886/04.OVG
Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz
Urteil
Im Namen des Volkes
In dem Verwaltungsrechtsstreit
wegen Sozialhilfe (Eingliederungshilfe)
hat der 12. Senat des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz in Koblenz aufgrund der mündlichen
Verhandlung vom 1. September 2004, an der teilgenommen haben
Vorsitzende Richterin am Oberverwaltungsgericht Wünsch
Richter am Oberverwaltungsgericht Wolff
Richter am Verwaltungsgericht Müller-Rentschler
ehrenamtliche Richterin Hausfrau Emmert
ehrenamtlicher Richter Organist Höhmann
für Recht erkannt:
Die Berufung der Beigeladenen gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 21. April 2004 ergangene
Urteil des Verwaltungsgerichts Koblenz ‑ 5 K 2044/03.KO - wird zurückgewiesen.
Die Beigeladene hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen; Gerichtskosten werden nicht
erhoben.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz –
BSHG - an die Beigeladene.
Die am 20. April 2000 geborene Beigeladene leidet an einer spastischen Tetraplegie als Folge einer
durch Frühgeburt verursachten infantilen Cerebralparese (ICP), die insbesondere zu Störungen ihrer
motorischen Entwicklung geführt hat. Durch Bescheid des Sozialamtes K. vom 14. Februar 2002 ist sie als
schwer behindert mit einem Grad der Behinderung von 100 anerkannt.
Das „Zentrum für Konduktive Therapie“ des S.-Hospitals A., dem die Beigeladene im Alter von knapp zwei
Jahren vorgestellt worden war, stufte sie als für eine konduktive Therapie nach der Petö-Methode (im
Folgenden: Petö-Therapie) geeignet ein und bezeichnete in seinem Bericht vom 28. März 2002 als Ziele
einer solchen Therapie für die Beigeladene: Lockerung der Gelenke, Training des selbständigen Essens
und Trinkens, Verbesserung der Abstützreaktion, Erlernen und Training des selbständigen Sitzens auf
Boden und Stuhl, Verbesserung der unzureichenden Kopfkontrolle, Förderung der Fein- und Grobmotorik,
Training des Laufens am Sprossenstuhl.
Mit Schreiben vom 17. April 2002 beantragte der Vater der Beigeladenen bei dem Beklagten die
Übernahme der Kosten einer Petö-Therapie im S.-Hospital A. aus Mitteln der Sozialhilfe. Die für den Vater
der Beigeladenen zuständige Beihilfestelle und dessen private Krankenversicherung hatten eine
Kostenübernahme abgelehnt.
Nachdem das Gesundheitsamt A. in seiner Stellungnahme vom 29. Mai 2002 ausgeführt hatte, eine
konduktive Therapie komme für die Beigeladene zum damaligen Zeitpunkt noch nicht in Betracht, weil
diese Behandlung hohe Anteile an pädagogischen Maßnahmen enthalte und der Beigeladenen aufgrund
ihres Alters das Verständnis für gewisse Anforderungen noch fehle, lehnte der Beklagte den
Kostenübernahmeantrag mit Bescheid vom 5. Juni 2002 mit dieser Begründung ab.
Auf den Widerspruch der Beigeladenen hob der Kreisrechtsausschuss des Beklagten diesen Bescheid mit
Widerspruchsbescheid vom 8. Juli 2003 auf und verpflichtete den Beklagten, die Kosten der Behandlung
der Beigeladenen nach der Petö-Methode zu übernehmen. Zur Begründung wurde ausgeführt: Die Bei-
geladene habe Anspruch auf Kostenübernahme im Rahmen der Eingliederungshilfe gemäß §§ 39, 40
Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BSHG. Bei der Petö-Therapie handele es sich nicht um Krankenhilfe i. S. v. § 37 BSHG,
sondern um eine heilpädagogische Maßnahme i. S. v. § 40 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BSHG i. V. m. § 12 Nr. 1
EinglHVO, die nicht gegenüber Leistungen der Krankenkasse nachrangig sei. Nach dem Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Mai 2002 – 5 C 36/01 – komme es insoweit nur auf die Geeignetheit
und Erforderlichkeit der Maßnahme zur Ermöglichung oder Erleichterung des künftigen Schulbesuchs des
behinderten Kindes an, was vorliegend zu bejahen sei.
Auf die Beanstandungsklage des Klägers hin hat das Verwaltungsgericht Koblenz mit auf die mündliche
Verhandlung vom 21. April 2004 ergangenem Urteil – 5 K 2044/03.KO – den Widerspruchsbescheid vom
8. Juli 2003 aufgehoben und den Widerspruch der Beigeladenen zurückgewiesen. Zur Begründung hat es
ausgeführt: Die Beigeladene habe keinen Anspruch auf Kostenübernahme im Rahmen der
Eingliederungshilfe nach §§ 39, 40 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BSHG, weil es sich bei der Petö-Therapie nicht um
eine heilpädagogische Maßnahme, sondern um ein Heilmittel i. S. v. § 32 SGB V und damit um
Krankenhilfe i. S. v. § 37 BSHG handele. Dies führe zur Zuständigkeit der gesetzlichen
Krankenversicherung für diese Maßnahme und zum Nachrang der Sozialhilfe, unabhängig davon, ob die
gesetzlichen Krankenkassen die Kosten tatsächlich übernehmen würden. Denn nach § 37 Abs. 1 BSHG
würden Leistungen zur Krankenbehandlung nur im Umfang der Leistungen der gesetzlichen
Krankenversicherung erbracht. Bei neuen Heilmitteln setze dies gemäß § 138 SGB V voraus, dass der
Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen zuvor deren therapeutischen Nutzen
anerkannt habe. Die Petö-Therapie befinde sich indessen noch im Anerkennungsverfahren.
Zur Begründung ihrer von dem Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung gegen dieses Urteil hat die
Beigeladene vorgetragen, die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Petö-Therapie sei keine
heilpädagogische, sondern eine medizinische Maßnahme, sei unrichtig. Bei der Petö-Therapie würden
vorwiegend pädagogische Mittel eingesetzt; das Berufsbild des „Konduktors“ entspreche eher dem eines
Erziehers oder Pädagogen als einem klassischen Heilhilfeberuf. Die Petö-Methode wolle sowohl die
motorischen Grundfähigkeiten des behinderten Kindes als auch seine koordinativen Eigenschaften sowie
seine intellektuellen und sozial-emotionalen Fähigkeiten, aber auch sein lebenspraktisches Handeln
verbessern. Die Petö-Therapie ziele also gerade darauf ab, dem behinderten Kind die Teilnahme am
Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen und zu erleichtern.
Die Beigeladene beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 21. April 2004 – 5 K 2044/03.KO –
die Beanstandungsklage der Klägerin abzuweisen.
Die Klägerin tritt der Berufung unter Verteidigung des erstinstanzlichen Urteils entgegen und beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte verteidigt ebenfalls das erstinstanzliche Urteil, stellt aber keinen Antrag.
Die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes ergeben sich aus der Gerichtsakte, der
Sitzungsniederschrift vom 1. September 2004 sowie aus den beigezogenen Verwaltungsakten, die
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist nicht begründet.
Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass der Widerspruchsbescheid vom 8.
Juli 2003 rechtswidrig ist, weil der Beigeladenen kein Anspruch gegen den Beklagten auf Übernahme der
Kosten einer Petö-Therapie zusteht (§ 113 Abs. 1 und 5 VwGO).
Zwar kann der Beigeladenen vorliegend nicht „Hilfe bei Krankheit“ i.S.v. § 37 BSHG, sondern
„Eingliederungshilfe für behinderte Menschen“ nach den §§ 39 ff. BSHG gewährt werden (1.). Für die im
maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt etwa dreijährige Beigeladene kommt jedoch keine „Hilfe zu einer
angemessenen Schulbildung einschließlich der Vorbereitung hierzu“ i.S.v. § 40 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BSHG,
sondern nur eine Maßnahme der Frühförderung behinderter Kinder im Rahmen der Leistungen zur
medizinischen Rehabilitation nach §§ 40 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BSHG i.V.m. 26 Abs. 2 Nr. 2, 30 SGB IX in
Betracht (2.). In diesem Rahmen scheitert die Kostenübernahme an § 40 Abs. 1 Satz 2 BSHG, weil die
Petö-Therapie bisher nicht zu den Rehabilitationsleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung zählt
(3.).
1. Der Senat folgt nicht der Auffassung des Verwaltungsgerichts, der Anspruch der Beigeladenen auf
Übernahme der Kosten einer Petö-Therapie sei nicht nach den Vorschriften der Eingliederungshilfe für
behinderte Menschen zu beurteilen, sondern falle unter den Begriff der Krankenhilfe i.S.v. § 37 Abs. 1
BSHG. Die an einer spastischen Tetraplegie leidende Beigeladene ist unstreitig dauerhaft körperlich
behindert. Für Personen, die i.S.v. § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 des Sozialgesetzbuches - Neuntes Buch - (SGB
behindert. Für Personen, die i.S.v. § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 des Sozialgesetzbuches - Neuntes Buch - (SGB
IX) - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen vom 19. Juni 2001 (BGBl. I, S. 1046) sowie der §§
1 bis 3 der Verordnung nach § 47 des Bundessozialhilfegesetzes ‑ EingliederungshilfeVO - i.d.F. der
Bekanntmachung vom 1. Februar 1975 (BGBl. I, S. 433) behindert oder von Behinderung bedroht sind,
kommt Eingliederungshilfe, nicht Krankenhilfe in Betracht: Die Eingliederungshilfe ist in Bezug auf diesen
Personenkreis lex specialis gegenüber § 37 BSHG und derogiert diese Vorschrift, weil sie die speziell auf
Behinderte zugeschnittenen und umfassenderen Hilfen enthält. Die Krankenhilfe nach § 37 BSHG ist ins-
besondere gegenüber der Eingliederungshilfe nach § 40 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BSHG, deren Leistungen sich
nach § 26 Abs. 2 und 4 SGB IX richten, nachrangig (vgl. Mergler/Zink, BSHG, § 37, ANr. 34).
Anzuwenden sind die §§ 39, 40 BSHG hier bereits i.d.F. von Art. 15 SGB IX, die gemäß Art. 68 Abs. 1 SGB
IX am 1. Juli 2001 in Kraft getreten sind. Denn maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und
Rechtslage ist vorliegend der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, hier also der Zeitpunkt der
Absendung des Widerspruchsbescheides im Juli 2003. Dies gilt sowohl im Hinblick darauf, dass es sich
im Ausgangspunkt um die Entscheidung über eine Aufsichtsklage nach § 17 AGVwGO, mithin über eine
Anfechtungsklage handelt, als auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass die von der
Beigeladenen begehrten Leistungen der Eingliederungshilfe, wie andere Sozialhilfeleistungen auch,
keine rentengleichen Dauerleistungen sind, sondern nur mit Blick auf die Lage, wie sie sich dem
Sozialhilfeträger im Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung darstellt, beurteilt werden können (st.
Rspr.; vgl. z. B. BVerwG, Urt. v. 29. September 1971 – V C 110.70 -, BVerwGE 38, 299, 300 und BVerwG,
Urt. v. 30. April 1992 – 5 C 1/88 -, FEVS 43, 19, 21).
2. Entgegen der Auffassung des Kreisrechtsausschusses im Widerspruchsbescheid vom 8. Juli 2003
kommt vorliegend ein Anspruch auf Eingliederungshilfe in der Form der Hilfe zu einer angemessenen
Schulbildung einschließlich der Vorbereitung hierzu i.S.v. § 40 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BSHG i.V.m. § 12 Nr. 1
EingliederungshilfeVO nicht in Betracht. Vielmehr ist die von der im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt
etwa 3 1/4 Jahre alten Beigeladenen begehrte Petö-Therapie als Leistung der medizinischen
Rehabilitation in der Form der Frühförderung behinderter Kinder nach § 40 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BSHG i.V.m.
§§ 26 Abs. 2 Nr. 2, 30 SGB IX einzustufen. Die notwendige Abgrenzung zwischen Hilfen zur Vorbereitung
einer angemessenen Schulbildung und Leistungen zur Frühförderung behinderter Kinder ist danach
vorzunehmen, ob die zu beurteilende Therapieform als heilpädagogische Maßnahme unmittelbar der
Vorbereitung auf den Schulbesuch dient oder ob die Therapie nach dem Schwerpunkt ihrer Zielsetzung
eine medizinische Maßnahme zugunsten eines noch nicht im Vorschulalter befindlichen Kleinkindes ist
(a.). Dies führt im Falle der für die Beigeladene vorgesehenen konduktiven Therapie nach der Petö-
Methode zur Einstufung als Leistung der medizinischen Rehabilitation (b.).
a. In seiner bis zum Inkrafttreten von Art. 15 SGB IX am 1. Juli 2001 geltenden Fassung unterschied das
Bundessozialhilfegesetz zwischen „heilpädagogischen Maßnahmen für Kinder, die noch nicht im schul-
pflichtigen Alter sind“ (§ 40 Abs. 1 Nr. 2 a BSHG i.d.F. der Bekanntmachung vom 23. März 1994 i.V.m. § 11
Satz 1 EingliederungshilfeVO i.d.F. der Bekanntmachung vom 1. Februar 1975) und „heilpädagogischen
Maßnahmen im Rahmen der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung“ (§ 40 Abs. 1 Nr. 3 BSHG F: 1994
i.V.m. § 12 Nr. 1 EingliederungshilfeVO F: 1975). In Anknüpfung hieran hat das Bundesverwaltungsgericht
mit Urteil vom 30. Mai 2002 - 5 C 35.01 - (NVwZ-RR 2003, S. 43) entschieden, dass sich die Beurteilung
der Eignung heilpädagogischer Maßnahmen zu einer angemessenen Schulbildung - anders als die
Gewährung heilpädagogischer Maßnahmen für Kinder im Vorschulalter - nicht nach dem Maßstab der
allgemeinen ärztlichen und sonstigen fachlichen Erkenntnis, sondern nur nach dem Maßstab der
Erforderlichkeit und Geeignetheit zur Ermöglichung oder Erleichterung des Schulbesuchs richtet. Durch
Art. 15 SGB IX wurden jedoch § 40 Abs. 1 Nr. 2 a BSHG und § 11 EingliederungshilfeVO ersatzlos
gestrichen. Der bisherige § 40 Abs. 1 Nr. 3 BSHG wurde zu § 40 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BSHG; inhaltlich blieb
die Vorschrift - ebenso wie § 12 Nr. 1 EingliederungshilfeVO - praktisch unverändert. Gleichzeitig wurde §
40 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BSHG völlig neu gefasst und verweist nunmehr hinsichtlich Leistungen der
Eingliederungshilfe, die Leistungen „zur medizinischen Rehabilitation“ darstellen, auf den
Leistungskatalog des § 26 Abs. 2 und 3 SGB IX, der in § 26 Abs. 2 Nr. 2 u. a. auch die „Frühförderung
behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder“ umfasst. Dabei erstreckt sich die Dauer der
Frühförderung als System komplexer Hilfen grundsätzlich von der Feststellung des Entwicklungsrisikos bis
zum Schuleintritt (vgl. Mergler/Zink, a.a.O., § 40, ANr. 124; Knittel, SGB IX, § 30, Rn. 7). Zugleich ergibt sich
aus § 12 Nr. 1 EingliederungshilfeVO, dass die Hilfe nach § 40 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BSHG auch (u. a.)
„heilpädagogische ... Maßnahmen zugunsten körperlich und geistig behinderter Kinder ... (umfasst), wenn
die Maßnahmen erforderlich und geeignet sind, dem behinderten Menschen den Schulbesuch im
Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen ...“. Daraus wird geschlossen, dass die Hilfe nach
Nr. 4 auch den Bereich der Vorbereitung des Schulbesuchs durch Maßnahmen zugunsten behinderter
Kinder im Vorschulalter (z.B. den Besuch heilpädagogischer Kindergärten) einschließt (vgl. Mergler/ Zink,
a.a.O., § 40, ANr. 78). Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit einer sachgerechten Abgrenzung zwischen
Eingliederungshilfen für behinderte Kinder im Rahmen der medizinischen Rehabilitation (Frühförderung)
nach § 40 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BSHG einerseits und Eingliederungshilfen zur Vorbereitung einer
angemessenen Schulbildung von behinderten Kindern im Vorschulalter nach § 40 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BSHG
andererseits. Die Abgrenzung ist schon deshalb notwendig, weil die Leistungen nach Nr. 1 durch § 40
Abs. 1 Satz 2 BSHG ausdrücklich an den Katalog der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung
gebunden sind (vgl. Oestreicher/Schelter/Kunz, BSHG, § 40, Rn. 9 a), während eine solche Ein-
schränkung für Leistungen nach Nr. 4 fehlt.
Nach Auffassung des Senats ist die notwendige Abgrenzung wie folgt vorzunehmen: Soweit es um
Therapieformen geht, die nicht unmittelbar der Vorbereitung auf den Schulbesuch dienen, weil sich das
behinderte Kind noch nicht im Vorschulalter befindet, und die Therapie nach dem Schwerpunkt ihrer
Zielsetzung keine heilpädagogische Maßnahme, sondern eine medizinische Maßnahme ist, kommt nur
Eingliederungshilfe nach § 40 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BSHG in Betracht. Diese Abgrenzung entspricht der
erkennbaren Intention des Gesetzgebers des Sozialgesetzbuchs – Neuntes Buch -, im Rahmen der
Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz alle Leistungen der medizinischen Rehabilitation
einschließlich der Frühförderung behinderter Kinder an den Leistungskatalog der gesetzlichen
Krankenversicherung zu binden. Sie liegt auch aufgrund der Systematik des SGB IX nahe. Denn dieses
Gesetz unterscheidet zwischen Leistungen der Frühförderung im Rahmen der medizinischen
Rehabilitation (§ 26 Abs. 2 Nr. 2, 30) einerseits und heilpädagogischen Leistungen im Vorschulalter (§ 56
SGB IX) andererseits. Zwar bestimmt § 56 Abs. 2 SGB IX zugleich, dass heilpädagogische Leistungen
grundsätzlich „in Verbindung mit Leistungen zur ... Frühförderung (§ 30) ... als Komplexleistung“ zu
erbringen sind. Doch bestätigt auch diese Regelung letztlich, dass zwischen beiden Leistungstypen
grundsätzlich zu unterscheiden ist und sie lediglich aus Gründen einer möglichst effektiven Förderung des
behinderten Kindes „in einem engen Funktionszusammenhang“ (vgl. Knittel, SGB IX, § 30, Rn. 7) erbracht
werden sollen.
b. Im Falle der im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt Juli 2003 erst etwa 3 1/4 Jahre alten
Beigeladenen spricht schon der Umstand, dass sie sich noch nicht im Vorschul-, sondern gerade erst im
Kindergartenalter befand, dafür, dass die bei ihr angewandte konduktive Therapie nach der Petö-Methode
ihrer Zielsetzung nach nicht der Vorbereitung des Schulbesuchs, sondern der Frühförderung im
Kleinkindalter zu dienen bestimmt war. Darüber hinaus ist die Petö-Therapie nach Überzeugung des
Senats aber generell als medizinische Rehabilitationsmaßnahme einzustufen. Zwar ist das
Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 30. Mai 2002 (a.a.O.) - ohne weitere Begründung - davon
ausgegangen, dass es sich bei der Petö-Therapie um eine heilpädagogische Maßnahme handele. Doch
befasst sich die Entscheidung im Kern nur mit der Rechtsfrage, ob für heilpädagogische Maßnahmen im
Rahmen der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung der Maßstab der allgemeinen ärztlichen oder
sonstigen fachlichen Kenntnis oder nur derjenige der Geeignetheit und Erforderlichkeit gilt. Durch die
Aufhebung von § 40 Abs. 1 Nr. 2 a BSHG sowie des § 11 EingliederungshilfeVO und die gleichzeitige
Neufassung des § 40 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BSHG hat der Gesetzgeber jedoch das Problem auf die (vom
Bundesverwaltungsgericht noch nicht zu erörternde) Abgrenzung zwischen heilpädagogischen und
medizinischen Maßnahmen verlagert.
Dagegen hat sich das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 3. September 2003 - B 1 KR 34/01 R -
(veröffentlicht in JURIS) eingehend mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Petö-Therapie eine
(heil‑)pädagogische Maßnahme oder eine medizinische Behandlung bzw. Rehabilitation (und damit
Versicherungsgegenstand der gesetzlichen Krankenversicherung) ist. Das Bundessozialgericht hat diese
Frage unter maßgeblicher Anknüpfung an die Zielsetzung der Maßnahme überzeugend im letzteren Sinne
beantwortet. Dabei geht das Bundessozialgericht hinsichtlich der Zielsetzung der Petö-Therapie zu Recht
von der Selbsteinschätzung der Leistungserbringer aus: Die Petö-Therapie erhebt den Anspruch, durch
die Behandlung von an Cerebralparese leidenden Kindern nicht nur die Auswirkungen der Behinderung
auf die Lebensgestaltung aufzufangen und abzumildern, sondern die Behinderung selbst zu bessern;
durch einen aktiven Lernprozess sollen die motorischen Fähigkeiten verbessert und dabei sogar
physiologische und anatomische Veränderungen im zentralen Nervensystem bewirkt werden (vgl. BSG,
a.a.O., Rn. 16, m.w.N.). Bestätigt wird dies durch die vom Senat recherchierte und mit den Beteiligten in
der mündlichen Verhandlung erörterte umfassende Darstellung der Petö-Therapie auf der Internetseite
www.beratung.psy-knowhow.de
: Diese enthält die Einschätzung, dass die Petö-Therapie „eine
medizinische Leistung mit pädagogischen Mitteln“ erbringt und „eindeutig eine Krankenbehandlung“ ist.
Auch nach dem Abschlussbericht über das Modellprojekt der Ersatzkassen zur konduktiven Förderung
von Blank und von Voss sind ca. 70 % der Arbeit mit behinderten Kindern nach der Petö-Methode auf eine
Verbesserung der motorischen Fähigkeiten, also auf ein therapeutisches Ziel gerichtet (vgl. BSG, Urteil
vom 3. September 2003, a.a.O., Rn. 15). Dem entsprechen die Behandlungsziele, die das „Zentrum für
Konduktive Therapie“ des S.-Hospitals A. für die Beigeladene formuliert hat. Danach zielt die Therapie bei
ihr ab auf: Lockerung der Gelenke, Training des selbständigen Essens und Trinkens, Verbesserung der
Abstützreaktion, Erlernen und Training des selbständigen Sitzens auf Boden und Stuhl, Verbesserung der
unzureichenden Kopfkontrolle, Förderung der Fein- und Grobmotorik, Training des Laufens am
Sprossenstuhl. Hieraus wird besonders deutlich, dass die für die Beigeladene vorgesehen Therapie
schwerpunktmäßig auf die Verbesserung ihrer motorischen Fähigkeiten ausgerichtet ist. Letztlich hat dies
auch der Vater der Beigeladenen bei seiner informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung
bestätigt. Er hat anschaulich geschildert, dass die Kinder in der von seiner Tochter besuchten
Therapiegruppe z. B. Boden- oder Sitzübungen durchführen, in Essenspausen lernen, den Löffel
selbständig zum Mund zu führen, Treppensteigübungen machen und an der Sprossenwand üben. Der
wesentliche Unterschied der Petö-Therapie zu einer „klassischen“ krankengymnastischen Behandlung
bestehe darin, dass die Beigeladene bei der konduktiven Therapie viel besser motiviert werde. Daraus
wird deutlich, dass sich die Petö-Therapie nicht in der Zielsetzung, sondern vorwiegend in der Methodik
von der „klassischen“ krankengymnastischen Behandlung unterscheidet.
3. Ist nach alledem die Anwendung der Petö-Therapie im Falle der Beigeladenen als Leistung zur
medizinischen Rehabilitation in Form der Frühförderung nach §§ 40 Abs. 1 Nr. 1 BSHG i.V.m. 26 Abs. 2
Nr. 2, 30 SGB IX einzustufen, so scheitert der Anspruch der Beigeladenen auf Übernahme der Kosten
dieser Therapie im Rahmen der Eingliederungshilfe an § 40 Abs. 1 Satz 2 BSHG. Nach dieser Vorschrift
entsprechen (u. a.) die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach diesem Gesetz jeweils den
Rehabilitationsleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Infolge dieser Anbindung der medizini-
schen Rehabilitationsleistungen im Rahmen der Eingliederungshilfe an die „entsprechenden“ Leistungen
der gesetzlichen Krankenversicherung besteht kein Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 40 Abs. 1 S.
1 Nr. 1 BSHG, soweit die in Rede stehende Rehabilitationsleistung nicht zum Leistungsumfang der
gesetzlichen Krankenversicherung gehört (vgl. Mergler/Zink, a.a.O., § 40, ANr. 18). Die Petö-Therapie ist
als medizinische Rehabilitationsleistung ein Heilmittel i.S.v. § 32 SGB V, nämlich eine nichtärztliche
therapeutische Dienstleistung (vgl. zum Heilmittelbegriff Wannagat, Sozialgesetzbuch, Kommentar, § 32
SGB V, Rn. 5 - 11 und § 138 SGB V, Rn. 3). Gemäß § 138 SGB V dürfen neue Heilmittel im Rahmen der
gesetzlichen Krankenversicherung nur verordnet werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss der
Ärzte und Krankenkassen (§§ 91 ff. SGB V) „zuvor ihren therapeutischen Nutzen anerkannt und in den
Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 Empfehlungen für die Sicherheit der Qualität bei der
Leistungserbringung abgegeben hat“. Dies ist bisher indessen nicht der Fall: Eine Entscheidung des
Gemeinsamen Bundesausschusses über die Anerkennung der Petö-Therapie steht noch aus; sie soll
nach der vom Senat eingeholten telefonischen Auskunft des Ausschusses im letzten Quartal 2004
erfolgen. Im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt Juli 2003 fehlte es daher an der Verordnungsfähigkeit
der Petö-Therapie im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung und damit zugleich an der
Übernahmefähigkeit dieser Kosten im Rahmen der Eingliederungshilfe nach dem
Bundessozialhilfegesetz.
Da ein Anspruch der Beigeladenen auf Eingliederungshilfe nach dem allein in Betracht kommenden § 40
Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BSHG gemäß § 40 Abs. 1 Satz 2 BSHG ausgeschlossen ist, hat das Verwaltungsgericht
den Widerspruchsbescheid im Ergebnis zu Recht aufgehoben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 188 Satz 2
VwGO nicht erhoben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils folgt aus §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10
ZPO.
Die Revision ist nicht zuzulassen, da Gründe der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Art nicht vorliegen.
Rechtsmittelbelehrung
...
VRinOVG Wünsch ist
wegen Urlaubs an der
Unterschriftsleistung
gehindert
gez. Wolff gez. Wolff gez. Müller-Rentschler
Beschluss
Der Gegenstandswert wird auf 4.000,00 € festgesetzt (§ 72 Nr. 1 des Kosten-
rechtsmodernisierungsgesetzes i.V.m. § 10 Abs. 1, 8 BRAGO i.V.m. § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG a.F.).
VRinOVG Wünsch ist
wegen Urlaubs an der
Unterschriftsleistung
gehindert
gez. Wolff gez. Wolff gez. Müller-Rentschler