Urteil des OVG Rheinland-Pfalz vom 18.03.2010

OVG Koblenz: mitgliedstaat, freizügigkeit der arbeitnehmer, anerkennung, aufschiebende wirkung, ausnahme, verfügung, inhaber, entzug, sperrfrist, erfüllung

OVG
Koblenz
18.03.2010
10 A 11244/09.OVG
Fahrerlaubnisrecht
Oberverwaltungsgericht
Rheinland-Pfalz
Urteil
Im Namen des Volkes
In dem Verwaltungsrechtsstreit
……….
- Kläger und Berufungskläger -
Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte Dr. Säftel, Künkele & Dr. Thilmann, Bahnhofstraße 21-29,
67227 Frankenthal,
gegen
die Stadt Koblenz, vertreten durch den Oberbürgermeister, Gymnasialstraße 1, 56068 Koblenz,
- Beklagte und Berufungsbeklagte -
wegen Fahrerlaubnis
hat der 10. Senat des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz in Koblenz aufgrund der mündlichen
Verhandlung vom 18. März 2010, an der teilgenommen haben
Vizepräsident des Oberverwaltungsgerichts Steppling
Richter am Oberverwaltungsgericht Möller
Richterin am Oberverwaltungsgericht Brink
ehrenamtlicher Richter Rentner Blaschka
ehrenamtliche Richterin Rentnerin Böhm
für Recht erkannt:
Auf die Berufung des Klägers wird unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 1.
Juli 2009 der Bescheid der Beklagten vom 24. November 2008 aufgehoben.
Die Beklagte trägt 20/21 der Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens sowie die Kosten des
Berufungsverfahrens. Der Kläger trägt 1/21 der Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Dem im Jahre 1971 geborenen und seit März 2001 in K…., wohnhaften Kläger wurde am 23. November
2005 in Tschechien eine Fahrerlaubnis der Klasse B erteilt; zuvor hatte er noch zu keiner Zeit eine
Fahrerlaubnis besessen. In dem ihm am 7. Dezember 2005 ausgestellten tschechischen Führerschein
wurde zutreffend als sein Wohnort K…. angeführt. Seinen im Februar 2006 gestellten Antrag auf
Umschreibung der tschechischen Fahrerlaubnis in eine deutsche Fahrerlaubnis nahm er später zurück.
Unter dem 28. Juli 2006 stellte die Beklagte dem Kläger gegenüber daraufhin klar, dass sie mit Rücksicht
auf die aktuelle Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs vorerst davon Abstand nehme, die
Fahrerlaubnis zu entziehen, dass sie sich jedoch vorbehalte, bei einer Änderung dieser Rechtsprechung
erneut auf die Angelegenheit zurückzukommen; ihrer Auffassung nach habe er die EU-Fahrerlaubnis
unter Umgehung des deutschen Fahrerlaubnisrechts erworben.
Nachdem der Europäische Gerichtshof mit zwei Beschlüssen vom 26. Juni 2008 entschieden hatte, dass
die Richtlinie 91/439/EWG - 2. Führerscheinrichtlinie - es einem EU-Mitgliedstaat nicht verwehre, einem
von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein die Anerkennung zu versagen, wenn der
betreffende Führerscheininhaber zum Ausstellungszeitpunkt nicht in dem anderen Mitgliedstaat seinen
ordentlichen Wohnsitz gehabt habe und das aus dem Führerschein selbst oder aus unbestreitbaren
Informationen seitens dieses Mitgliedstaates hervorgehe, stellte die Beklagte mit für sofort vollziehbar
erklärter Verfügung vom 24. November 2008 fest, dass der Kläger nicht berechtigt sei, von seiner tsche-
chischen Fahrerlaubnis auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Gebrauch zu machen. Sie
stützte die Verfügung auf § 28 Abs. 4 Nr. 3 der Fahrerlaubnisverordnung in der seinerzeit geltenden
Fassung; diese Vorschrift sah vor, dass der Inhaber einer gültigen EU-Fahrerlaubnis, der seinen
ordentlichen Wohnsitz in Deutschland hat, nicht dazu berechtigt ist, im Inland Kraftfahrzeuge zu führen,
sofern er zum Zeitpunkt der Fahrerlaubniserteilung seinen ordentlichen Wohnsitz im Inland hatte.
Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein und suchte um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes
nach. Das Verwaltungsgericht gab diesem Antrag mit Beschluss vom 5. Januar 2009 statt und stellte die
aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 24. November 2008 wieder her. Es
war der Auffassung, dass die in den Beschlüssen des Europäischen Gerichtshofs vom 26. Juni 2008
beschriebene Ausnahme vom Anerkennungsgrundsatz auch voraussetze, dass dem betreffenden
Führerscheininhaber vor der Fahrerlaubniserteilung in dem anderen EU-Mitgliedstaat in dem Mitgliedstaat
seines Wohnsitzes die Fahrerlaubnis entzogen worden sei.
Auf die Beschwerde der Beklagten gegen diese Entscheidung lehnte der Senat mit Beschluss vom
18. März 2009 unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts den Eilantrag des Klägers ab.
Einen der Fahrerlaubniserteilung in dem anderen EU-Mitgliedstaat vorausgegangenen Fahrerlaubnis-
entzug im Wohnsitzmitgliedstaat hielt der Senat nicht für erforderlich.
Darauf hat der Kläger am 14. April 2009 Untätigkeitsklage erhoben, zu deren Begründung er sich
insbesondere darauf berufen hat, dass die bloße Verletzung des Wohnsitzprinzips durch den EU-
Mitgliedstaat, der den Führerschein ausgestellt habe, die Nichtanerkennung des Führerscheins durch den
Wohnsitzmitgliedstaat nicht zu rechtfertigen vermöge.
Er hat beantragt,
die Verfügung der Beklagten vom 24. November 2008 aufzuheben.
Die Beklagte hat
Klageabweisung
beantragt und sich der Auffassung des Senats in der Beschwerdeentscheidung vom 18. März 2009
angeschlossen.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 1. Juli 2009 abgewiesen. Zur Begründung hat es sich
auf die Ausführungen im Beschluss des Senats vom 18. März 2009 bezogen.
Mit Rücksicht auf die von seiner Rechtsauffassung abweichende Rechtsprechung anderer Obergerichte
hat der Senat mit Beschluss vom 19. November 2009 ‑ wie vom Kläger beantragt ‑ die Berufung gegen
dieses Urteil wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.
Die Berufung hat der Kläger sodann fristgemäß begründet. Hierzu wiederholt er sein bisheriges
Vorbringen.
Er beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils nach seinem Klageantrag erster Instanz zu erkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des Verwaltungsgerichts für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der von den Beteiligten
zu der Prozessakte gereichten Schriftsätze sowie der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung
gemachten Verwaltungsvorgänge verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Das Verwaltungsgericht hätte der Klage
stattgeben müssen.
Die Verfügung der Beklagten vom 24. November 2008 verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Die Voraussetzungen für die Feststellung, dass der Kläger nicht berechtigt ist, von seiner tschechischen
Fahrerlaubnis in Deutschland Gebrauch zu machen, liegen nicht vor. Der Kläger ist vielmehr aufgrund
dieser Fahrerlaubnis zur Teilnahme am Straßenverkehr im Bundesgebiet befugt.
Zwar sind die in der für die Nichtberechtigung allein in Betracht kommenden Vorschrift des § 28 Abs. 4
Nr. 2 der Fahrerlaubnisverordnung in der bis zum 18. Januar 2009 geltenden Fassung ‑ FeV a. F. ‑
bestimmten Voraussetzungen für die Versagung der Anerkennung einer EU-Fahrerlaubnis erfüllt, weil der
Kläger zum Zeitpunkt der Erteilung der tschechischen Fahrerlaubnis seinen ordentlichen Wohnsitz in der
Bundesrepublik Deutschland hatte. Die genannte Bestimmung gelangt jedoch nur dann zur Anwendung,
wenn sich der Verstoß gegen das in Art. 7 Abs. 1 b der Richtlinie 91/439/EWG ‑ 2. Führerscheinrichtlinie ‑
geregelte Wohnsitzerfordernis, nach dem ein EU-Führerschein nur vom Mitgliedstaat des ordentlichen
Wohnsitzes ausgestellt werden darf, aus dem vom anderen EU-Mitgliedstaat ‑ Ausstellermitgliedstaat ‑
ausgestellten Führerschein oder anderen von diesem Staat herrührenden unbestreitbaren Informationen
ergibt ‑ diese Voraussetzung wird hier noch erfüllt ‑ und dem betreffenden EU-Fahrerlaubnisinhaber in
Deutschland als dem Mitgliedstaat, um dessen Anerkennung es geht ‑ Aufnahmemitgliedstaat ‑, vor der
Führerscheinausstellung die Fahrerlaubnis entzogen oder seine Fahrerlaubnis eingeschränkt, ausgesetzt
oder aufgehoben worden war ‑ was vorliegend nicht der Fall ist.
An seiner bisherigen Rechtsprechung, nach der die Verletzung des Wohnsitzerfordernisses ‑ unter den
oben dargestellten Voraussetzungen ‑ für die Nichtanerkennungsbefugnis des Aufnahmemitgliedstaats
ausreicht, es also nicht darauf ankommt, ob dem Betreffenden in diesem Staat vor dem Erwerb der EU-
Fahrerlaubnis eine frühere Fahrerlaubnis entzogen worden war (grundlegend Beschluss vom 23. Januar
2009, BA 2009, 352; ferner z. B. der in dieser Sache ergangene Beschluss vom 18. März 2009 - 10 B
10087/09.OVG -), hält der Senat nicht mehr fest.
Dass es neben dem Verstoß gegen das Wohnsitzerfordernis seitens des Ausstellermitgliedstaats auch
einer der oben näher bezeichneten Maßnahmen im Aufnahmemitgliedstaat bedarf, um gemäß den
rechtlichen Vorgaben der 2. Führerscheinrichtlinie als Aufnahmemitgliedstaat europarechtlich dazu
ermächtigt zu sein, der vom Ausstellermitgliedstaat erteilten Fahrerlaubnis die Anerkennung zu versagen,
und von daher § 28 Abs. 4 Nr. 2 FeV a. F. nur insoweit europarechtskonform und anwendbar ist, erschließt
sich wie folgt:
Die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit dem Europarecht beurteilt sich, wie gesagt, nach der
2. Führerscheinrichtlinie. Sie sieht in Art. 1 Abs. 2 die gegenseitige Anerkennung der von den
Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine "ohne jede Formalität" vor. Die Bestimmung erlegt den
Mitgliedstaaten "eine klare und unbedingte Verpflichtung auf, die keinen Ermessensspielraum in Bezug
auf die Maßnahmen lässt, die zu ergreifen sind, um dieser Verpflichtung nachzukommen" (stRspr. des
EuGH, z. B. Urteile vom 29. April 2004 ‑ C-476/01 ‑, Kapper, und 26. Juni 2008 ‑ C-329 und 343/06 ‑,
Wiedemann u.a.). Dieser Grundsatz wurde aufgestellt, um die Freizügigkeit von Personen zu erleichtern,
die sich in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen niederlassen, in dem sie die Fahrprüfung
abgelegt haben. Er soll die Ausübung der Rechte erleichtern, die durch die Bestimmungen des EG-
Vertrags über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Niederlassungsfreiheit und den freien
Dienstleistungsverkehr gewährleistet werden (vgl. wie vor). Der Besitz eines von einem anderen
Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins ist als Nachweis dafür anzusehen, dass der Inhaber dieses
Führerscheins im Zeitpunkt dessen Ausstellung die in der 2. Führerscheinrichtlinie hierfür vorgesehenen
Voraussetzungen erfüllt hat. Allein dem Ausstellermitgliedstaat steht es zu, ggf. die Beachtung der in der
Richtlinie aufgestellten Ausstellungsvoraussetzungen nachzuprüfen (vgl. wie vor).
Die 2. Führerscheinrichtlinie kennt nur eine Ausnahme von diesem Grundsatz. So ist in Art. 8 Abs. 4 der
Richtlinie bestimmt, dass ein Mitgliedstaat es ablehnen kann, die Gültigkeit eines Führerscheins
anzuerkennen, der von einem anderen Mitgliedstaat einer Person ausgestellt wurde, auf die in seinem
Hoheitsgebiet eine der in Abs. 2 der Bestimmung genannten Maßnahmen angewendet ‑ d. h. eine
Fahrerlaubnis eingeschränkt, ausgesetzt, entzogen oder aufgehoben ‑ wurde.
Hierzu hat der Europäische Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung (vgl. wie vor) hervorgehoben, dass
die Vorschrift eng auszulegen ist. Begründet hat er dies damit, dass so schon ganz allgemein
Bestimmungen einer Richtlinie auszulegen seien, die von einem in der betreffenden Richtlinie
aufgestellten allgemeinen Grundsatz abwichen; erst recht müsse das gelten, wenn dieser allgemeine
Grundsatz die Ausübung von durch den EG-Vertrag garantierten Grundfreiheiten erleichtern solle ‑ wie es
zufolge des eingangs Ausgeführten bei dem Anerkennungsgrundsatz der Fall ist.
Eingedenk der ‑ insbesondere hier ‑ gebotenen engen Auslegung hat der Europäische Gerichtshof dann
entschieden, dass eine Nichtanerkennung nach Maßgabe dieser Ausnahmeregelung nur in Betracht
kommt, wenn im Zeitpunkt der Führerscheinausstellung durch den anderen Mitgliedstaat aufgrund einer
mit der in Rede stehenden Maßnahme im Aufnahmemitgliedstaat angeordneten Sperrfrist für die
Neuerteilung einer Fahrerlaubnis dort noch keine neue Fahrerlaubnis erteilt werden durfte (vgl. neben
den Urteilen in den Rechtssachen Kapper und Wiedemann u. a. z. B. die Entscheidungen vom 6. April
2006 ‑ C-227/05 ‑, Halbritter, und 28. September 2006 ‑ C-340/05 ‑, Kremer) oder wenn die
Führerscheinausstellung durch den anderen Mitgliedstaat während der Gültigkeitsdauer einer Aussetzung
der im Aufnahmemitgliedstaat erteilten Fahrerlaubnis erfolgte und diese Fahrerlaubnis nach dem
Führerscheinerwerb im Ausstellermitgliedstaat entzogen wurde (vgl. Urteil vom 20. November 2008 ‑ C-
1/07 ‑, Weber).
Vor dem aufgezeigten rechtlichen Hintergrund ‑ der besonderen Bedeutung des
Anerkennungsgrundsatzes für eines der zentralen Anliegen der Europäischen Union und der hieraus
abzuleitenden engen Auslegung der einzigen vom europäischen Normgeber vorgesehenen Ausnahme
von diesem Grundsatz ‑ ist kein Raum für die Annahme, dass es völlig losgelöst von den durch den Richt-
liniengeber vorgeschriebenen tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Ausnahme vom Grundsatz
auch aus anderen Gründen in Betracht kommen kann, dem von einem anderen EU-Mitgliedstaat
ausgestellten Führerschein die Anerkennung zu versagen. Es überschreitet nicht nur die Grenzen einer
engen, sondern jedweder Auslegung, die Erfüllung sämtlicher von einer Norm für die von ihr angeordnete
Rechtsfolge geforderten Voraussetzungen in bestimmten Fällen für entbehrlich zu erachten, d. h. die
betreffende Rechtsfolge auch auf einen völlig anderen Sachverhalt zu beziehen. Für eine zulässige
richterliche Rechtsfortbildung fehlt es hinsichtlich einer weiteren Ausnahme ‑ neben Art. 8 Abs. 4 der
2. Führerscheinrichtlinie ‑ von dem für die Wahrnehmung der unionsrechtlichen Grundfreiheiten
besonders bedeutsamen Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der Führerscheine bereits an einer
planwidrigen Regelungslücke.
Dafür, dass es dem Europäischen Gerichtshof ungeachtet dessen genau darum aber gegangen sein
könnte, gibt es in den Entscheidungen vom 29. April 2004 (Kapper) und 26. Juni 2008 (Wiedemann u. a.)
auch keinerlei Anhaltspunkte. Sie sprechen vielmehr dafür, dass der Europäische Gerichtshof die
Befugnis zur Nichtanerkennung wegen ‑ im eingangs dargestellten Sinne "offenkundiger" ‑ Verletzung des
Wohnsitzerfordernisses durch den Ausstellermitgliedstaat als "Unterfall" der
Anerkennungsversagungskompetenz des Art. 8 Abs. 4 der 2. Führerscheinrichtlinie, als "Lockerung" der
engen Auslegung, was den Zeitpunkt der Führerscheinausstellung anbelangt, betrachtet hat.
So ist in der Sache Kapper zu sehen, dass die dem Gericht vorgelegte Frage allein die Rechtsfolgen einer
aufgrund eigener Ermittlungen des Aufnahmemitgliedstaates diesem zur Kenntnis gelangten Verletzung
des Wohnsitzerfordernisses durch den Ausstellermitgliedstaat mit Blick auf den Anerkennungsgrundsatz
des Art. 1 Abs. 2 der 2. Führerscheinrichtlinie zum Gegenstand hatte. Der Europäische Gerichtshof hat
dann von sich aus die Vorlagefrage über die "vom vorlegenden Gericht ausdrücklich erwähnten Aspekte"
hinaus ausgeweitet, um "eine sachdienliche und möglichst vollständige Antwort auf … (sie) zu geben".
Hierzu hat er die Frage um "einige andere Bestimmungen der Richtlinie 91/439 …, die sich auf die
Beantwortung der Frage auswirken können, und zwar insbesondere Art. 8 Abs. 4" ergänzt. Er hat sodann
zunächst unter Heranziehung seiner bisherigen Rechtsprechung (Urteil vom 10. Juli 2003 ‑ C-246/00 ‑,
Kommission/Niederlande; Beschluss vom 11. Dezember 2003 ‑ C-408/02 ‑, Da Silva Carvalho) die
ursprüngliche ihm vorgelegte Frage beantwortet. Der hierauf bezogene Tenor (Nr. 1) der Entscheidung
stimmt bis auf geringfügige rein sprachliche Abweichungen mit dem Tenor der Entscheidung in der
Rechtssache Da Silva Carvalho überein. Die "vom vorlegenden Gericht ausdrücklich erwähnten Aspekte"
waren mit anderen Worten in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs vollumfänglich geklärt.
Danach ist der Europäische Gerichtshof auf die Rechtslage nach Maßgabe des Art. 8 Abs. 4 der 2.
Führerscheinrichtlinie als Bestimmung, "die sich auf die Beantwortung der Frage auswirken kann",
eingegangen und hat insofern ‑ erstmals ‑ klargestellt, dass die Möglichkeit zur Versagung der
Führerscheinanerkennung nach Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie eine Führerscheinausstellung während des
Laufs einer mit der Maßnahme gemäß Abs. 2 angeordneten Sperrfrist voraussetzt. Diese über die bereits
vorliegende Entscheidung im Verfahren Da Silva Carvalho hinausgehende ‑ ungefragte ‑ Feststellung zu
Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie erscheint danach als weiterer "Aspekt" neben den bereits "vom vorlegenden
Gericht ausdrücklich erwähnten Aspekten" ein und derselben Rechtsvorschrift.
Aber auch die Begründung des EuGH-Urteils in der Rechtssache Wiedemann u. a. weist darauf hin, dass
die Frage nach der Verpflichtung zur Führerscheinanerkennung in Fällen einer "offensichtlichen"
Außerachtlassung der Wohnsitzvoraussetzung als "Aspekt" der Befugnis gem. Art. 8 Abs. 4 der 2.
Führerscheinrichtlinie behandelt worden ist.
So ist zunächst festzustellen, dass der Europäische Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen ‑ als sein
"Prüfungsprogramm" ‑ so "zurecht gelegt" hat, dass es danach, auch was die Frage der Anerkennung in
den genannten Fällen betrifft, um die Auslegung des Art. 8 Abs. 4 der 2. Führerscheinrichtlinie als
Ausnahme vom Anerkennungsgrundsatz gemäß Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie geht. So heißt es dort, dass die
vorlegenden Gerichte wissen möchten, wie die Art. 1 Abs. 2, 7 Abs. 1 a und b sowie 8 Abs. 2 und Abs. 4
der 2. Führerscheinrichtlinie auszulegen seien, wenn der Führerschein durch einen anderen Mitgliedstaat
nach einem vorausgegangenen Fahrerlaubnisentzug im Aufnahmemitgliedstaat "außerhalb einer
Sperrzeit, aber unter Missachtung des Wohnsitzerfordernisses oder der Eignungsvoraussetzungen, die
der Aufnahmemitgliedstaat insoweit zur Gewährleistung der Sicherheit des Straßenverkehrs vorsieht,
ausgestellt wurde". Nach dieser Formulierung steht im Rahmen der Auslegung der Ausnahmevorschrift
des Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie die Beantwortung der Frage an, wie der Fall zu würdigen ist, dass der
Führerschein zwar außerhalb einer Sperrfrist ‑ und damit ohne die Möglichkeit zu einer Nichtanerkennung
von daher ‑, dafür aber unter Nichtbeachtung der Wohnsitzvoraussetzung bzw. der im Recht des
Aufnahmemitgliedstaats bestimmten Eignungsvoraussetzungen ausgestellt wurde.
Diesen Vorgaben folgt sodann die rechtliche Würdigung des Europäischen Gerichtshofs. Es werden
zunächst die zufolge der bisherigen Rechtsprechung aus dem Anerkennungsgrundsatz herzuleitenden
Ge- bzw. Verbote dargestellt. Daran schließen sich Ausführungen zu der einzigen in der Richtlinie
vorgesehenen Ausnahme vom Anerkennungsgrundsatz ‑ Art. 8 Abs. 4 ‑ an. In diesem Zusammenhang
wird die in der vom Europäischen Gerichtshof ausformulierten Frage "gleichrangig" neben der Verletzung
des Wohnsitzprinzips angesprochene Missachtung der vom Aufnahmemitgliedstaat vorgesehenen
Eignungsvoraussetzungen ebenso wie bereits in seinem Beschluss in der Rechtssache Kremer dahin
gewürdigt, dass Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie nicht dazu ermächtigt, die Gültigkeit des Führerscheins nicht
anzuerkennen, solange der Führerscheininhaber die Bedingungen nicht erfüllt, die nach den
Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis nach dem
Entzug einer früheren Fahrerlaubnis vorliegen müssen, einschließlich einer Überprüfung der
Fahreignung, die bestätigt, dass die Gründe für den Entzug nicht mehr vorliegen.
Schließlich folgen die Ausführungen zu der in Rede stehenden Fallgestaltung. Sie werden eingeleitet mit
der Bemerkung, zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen sei "sodann insbesondere auf die
Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung, wie er oben in Erinnerung gerufen worden
ist, für den Fall einzugehen, dass feststeht, dass der neue Führerschein unter Missachtung der von der
Richtlinie aufgestellten Wohnsitzvoraussetzungen ausgestellt worden ist". Die Anwendung des
Anerkennungsgrundsatzes war zuvor, wie dargestellt, namentlich auch unter dem Gesichtspunkt des
hierzu in der Richtlinie bestimmten Ausnahmetatbestands "in Erinnerung gerufen" worden. Innerhalb der
nachfolgenden Ausführungen zu Art. 7 Abs. 1 b der 2. Führerscheinrichtlinie ist der Europäische
Gerichtshof dann im Zusammenhang mit der "besonderen Bedeutung" des Wohnsitzerfordernisses im
Verhältnis zu den übrigen in der Richtlinie aufgestellten Voraussetzungen noch unmittelbar auf Art. 8
Abs. 4 der Richtlinie zu sprechen gekommen mit der Feststellung, "die Sicherheit des Straßenverkehrs
könnte … gefährdet werden, wenn die Wohnsitzvoraussetzung in Bezug auf eine Person, auf die eine
Maßnahme der Einschränkung, der Aussetzung, des Entzugs oder der Aufhebung der Fahrerlaubnis nach
Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie … angewendet worden ist, nicht beachtet würde". Schließlich wird die
behandelte Frage unter Voranstellung der rechtlichen Grundlage für die getroffene Feststellung ‑ dieselbe
wie die der Feststellung in Bezug auf die Missachtung der Eignungsvoraussetzungen des
Aufnahmemitgliedstaats ‑ beantwortet.
Handelt es sich nach alledem aber bei den in der Rechtssache Wiedemann u. a. zur "offensichtlichen"
Missachtung des Wohnsitzerfordernisses bei der Führerscheinausstellung in dem anderen EU-
Mitgliedstaat getroffenen Feststellungen des Europäischen Gerichtshofs erklärtermaßen um das Ergebnis
einer Auslegung des Art. 8 Abs. 4 der 2. Führerscheinrichtlinie ‑ vor dem Hintergrund des Aner-
kennungsgrundsatzes des Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie ‑, so widerspräche es den Regeln der Ausdeutung
einer gerichtlichen Entscheidung, wollte man davon ausgehen oder es doch für möglich erachten, der
Europäische Gerichtshof habe die Feststellung nur deshalb zu Art. 8 Abs. 4 der 2. Führerscheinrichtlinie
getroffen, weil dessen tatbestandliche Voraussetzungen eben erfüllt gewesen seien, der Fall eben so
"dahergekommen" sei, ohne dass der Europäische Gerichtshof jedoch die seinerseits gewonnene
Erkenntnis an die Erfüllung des besagten Tatbestands geknüpft habe. Dementsprechend lässt sich auch
die ausdrückliche Erwähnung des Umstands im Entscheidungstenor, dass auf den Inhaber des
Führerscheins "im Hoheitsgebiet des … (Aufnahmemitgliedstaats) eine Maßnahme des Entzugs einer
früheren Fahrerlaubnis angewendet worden ist", vernünftigerweise nicht dahin verstehen, dass diese
Aussage allein der Tatsache geschuldet ist, dass die Kläger der Ausgangsverfahren eben "solche"
Führerscheininhaber waren, dass mit dieser Aussage vielmehr die Notwendigkeit der Erfüllung des gem.
Art. 8 Abs. 4 der 2. Führerscheinrichtlinie für eine Nichtanerkennung des vom anderen EU-Mitgliedstaates
ausgestellten Führerscheins vorausgesetzten Tatbestands zum Ausdruck gebracht worden ist.
Der Senat schließt sich damit unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung der Rechtsprechung des
Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (Beschluss vom 18. Juni 2009, BA 2009, 354) an. Zu dieser
Rechtsauffassung tendiert auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (vgl. Beschluss vom 26. Februar
2009 ‑ 11 C 09.296 ‑, juris).
Die Kostenentscheidung folgt, was das erstinstanzliche Verfahren angeht, aus § 155 Abs. 1 Satz 1 der
Verwaltungsgerichtsordnung ‑ VwGO ‑, im Übrigen aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten beruht auf
§ 167 VwGO.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Gründe der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Art nicht vorliegen.
Rechtsmittelbelehrung
gez. Steppling
gez. Möller
gez. Brink
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Berufungsverfahren auf 5.000,00 € festgesetzt (§§ 52 Abs. 1
und 2, 47 des Gerichtskostengesetzes ‑ GKG ‑ i. V. m. Nr. 46.3 des Streitwertkataloges für die
Verwaltungsgerichtsbarkeit, NVwZ 2004, 1327).
gez. Steppling
gez. Möller
gez. Brink