Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 24.01.2011
OVG NRW (stellungnahme, verwaltungsgericht, überwiegende wahrscheinlichkeit, stationäre behandlung, gutachter, therapie, berufsunfähigkeit, behandlung, verletzung, 1995)
Oberverwaltungsgericht NRW, 17 A 129/09
Datum:
24.01.2011
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
17. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
17 A 129/09
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Minden, 7 K 1705/08
Tenor:
Die Anträge werden abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfah-rens.
Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 69.253,54 Euro
festgesetzt.
G r ü n d e:
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1. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist abzulehnen, da die
beabsichtige Rechtsverfolgung aus den Gründen zu 2. keine hinreichende Aussicht auf
Erfolg bietet, §§ 166 VwGO, 114 ZPO.
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2. Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist nicht begründet.
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Die Berufung ist nicht nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO wegen eines Verfahrensmangels
zuzulassen, der der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegt und auf dem das Urteil
beruhen kann.
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Die Klägerin rügt, das Verwaltungsgericht habe in verfahrensfehlerhafter Weise ohne
Einholung eines unabhängigen medizinischen Sachverständigengutachtens
entschieden. Dieses Vorbringen zielt damit, ohne den Zulassungsgrund selbst zu
nennen, der Sache nach auf einen Verfahrensfehler in Form der Verletzung der
richterlichen Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) ab. Dieses Monitum
greift nicht durch.
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Bei der Prüfung der Aufklärungsrüge ist von der materiellen Rechtsauffassung der
Vorinstanz auszugehen. Das Verwaltungsgericht hat seiner Entscheidung zugrunde
gelegt:
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Die Klägerin könne (derzeit) eine Berufsunfähigkeitsrente nicht beanspruchen.
Entscheidendes Merkmal der Berufsunfähigkeit im Sinne des § 11 Abs. 1 der Satzung
des Versorgungswerkes (VwS) sei die Dauerhaftigkeit der gesundheitlichen
Einschränkung. Die Anspruchsvoraussetzung, dass dem Architekten jedwede
berufstypische Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen versagt sei, liege daher nicht
vor, wenn in einem überschaubaren Zeitraum begründete Heilungschancen gegeben
seien. Dabei seien erfolgsversprechend nicht nur solche Therapieansätze, denen eine
überwiegende Wahrscheinlichkeit einer Heilung oder deutlichen Besserung innewohnt,
sondern auch solche Maßnahmen, die nur eine unterdurchschnittliche, aber nicht völlig
unbedeutende Erfolgsprognose versprechen. Dieser rechtliche Ansatz entspricht – dies
sei im Hinblick auf die in der Zulassungsantragsbegründung verkürzt dargestellten
Anspruchsvoraussetzungen angemerkt – der ständigen Senatsrechtsprechung zum
Begriffsmerkmal der Dauerhaftigkeit der Berufsunfähigkeit als Anspruchsvoraussetzung
für die Gewährung einer Berufsunfähigkeitsrente. Das Prinzip gemeinschaftlicher
Absicherung des Berufsunfähigkeitsrisikos bringt für den Einzelnen die Verpflichtung mit
sich, alle ihm möglichen Anstrengungen zu unternehmen, um durch baldmögliche
Wiederherstellung seines Berufsfähigkeit die Belastung der Versichertengemeinschaft,
die ihm im Falle einer Berufsunfähigkeit eine überdurchschnittliche Rentenleistung
sichert, gering zu halten.
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Vgl. nur: Senatsurteil vom 22. Juni 2010 - 17 A 346/07 -; so auch OVG
Saarland, Beschluss vom 4. März 2010 - 3 A 341/09 - zu § 11 Abs. 1 VwS,
juris.
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Gestützt auf die gutachtliche Stellungnahme von Prof. Dr. Dr. T. , Facharzt für
Psychiatrie und Psychotherapie, Psychologischer Psychotherapeut und Ärztlicher
Direktor der Klinik E. vom 18. Oktober 2008, die seine im Verwaltungsverfahren von
dem Beklagten eingeholte gutachtliche Stellungnahme vom 19. Dezember 2007
ergänzt, hat das Verwaltungsgericht das Bestehen solcher Therapieoptionen bejaht,
deren Ausschöpfung der Klägerin zumutbar seien.
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Ausgehend hiervon ist nicht erkennbar, dass das Verwaltungsgericht seine Pflicht zur
Sachaufklärung nach § 86 Abs. 1 VwGO verletzt hat, weil es kein gerichtliches
Sachverständigengutachten zur Frage der Ausschöpfung zumutbarer und
erfolgsversprechender Therapieoptionen eingeholt hat.
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Einen förmlichen Beweisantrag nach § 86 Abs. 2 VwGO hat die rechtskundig vertretene
Klägerin nicht gestellt. Sieht ein rechtskundig vertretener Beteiligter aber – wie hier – im
gerichtlichen Verfahren von der förmlichen Beantragung einer von ihm für geboten
erachteten weiteren Beweisaufnahme ab, so kann er das Unterbleiben einer
entsprechenden Beweisaufnahme im anschließenden Berufungszulassungsverfahren
nicht mit Erfolg unter Hinweis auf das Vorliegen einer Verletzung der gerichtlichen
Sachaufklärungspflicht rügen. Die Aufklärungsrüge kann in diesen Fällen nicht dazu
dienen, solche Beweisanträge zu ersetzen, die der Beteiligte in zumutbarer Weise hätte
stellen können, jedoch zu stellen unterlassen hat.
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Vgl. OVG Saarland, Beschluss vom 4. März 2010, a.a.O. unter Verweis auf
BVerwG, Beschluss vom 5. August 1997 - 1 B 144.97 -, NJW-RR 1998, 784.
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Anders liegt es dann, wenn sich dem Verwaltungsgericht das Einholen eines
gerichtlichen Sachverständigengutachtens hätte aufdrängen müssen. Angesichts der
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vom Verwaltungsgericht zu Recht als überzeugend und nachvollziehbar angesehenen
Ausführungen des Prof. Dr. Dr. T. in seiner gutachtlichen Stellungnahme vom 18.
Oktober 2008 ist hierfür nichts ersichtlich; Gegenteiliges wird mit der
Zulassungsbegründung auch nicht substantiiert dargelegt.
Nach § 86 Abs. 1 VwGO ist das Gericht verpflichtet, den entscheidungserheblichen
Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären und die erforderlichen Beweise zu erheben.
Erfordert die Tatsachenfeststellung besondere Sachkunde, darf ohne Zuziehung von
Sachverständigen nur entschieden werden, wenn das Gericht nach eigenem
pflichtgemäßem Ermessen selbst über die nötige Sachkunde verfügt und dies für die
Beteiligten nachvollziehbar darlegt.
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Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 28. August 1995 - 3 B 5.95 -, Buchholz 310
§ 86 Abs. 1 VwGO Nr. 270 = juris und vom 13. Januar 2009 - 9 B 64.08 -,
NVwZ 2009, 329.
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Allerdings kann es im Verwaltungsverfahren eingeholte und von den Beteiligten
vorgelegte Sachverständigengutachten im Wege des Urkundenbeweises verwerten. In
diesem Fall ist es zum Einholen eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens nur
verpflichtet, wenn die vorgelegten Gutachten an offen erkennbaren Mängeln oder
unlösbaren Widersprüchen leiden, wenn sie von unzutreffenden sachlichen
Voraussetzungen ausgehen oder wenn Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder
Unparteilichkeit des Gutachters besteht.
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Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 4. Dezember 1991 - 2 B 135.91 -, Buchholz
310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 238 = juris und vom 7. Juni 1995 - 5 B 141.94 -,
Buchholz, a.a.O. Nr. 268 = juris.
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Gemessen an diesen Kriterien ist es nicht zu beanstanden, dass ein gerichtliches
Sachverständigengutachten nicht eingeholt worden ist.
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Zweifel an der Sachkunde von Prof. Dr. Dr. T. macht die
Zulassungsantragsbegründung selbst nicht geltend. Seine Unparteilichkeit wird nicht
allein dadurch in Frage gestellt, dass der Gutachtenauftrag von dem Beklagten
vergeben worden ist. Sonstige Umstände, die den Schluss auf eine
Voreingenommenheit des Gutachters Prof. Dr. Dr. T. rechtfertigen könnten, werden
nicht ansatzweise vorgetragen. Soweit die Zulassungsantragsbegründung das Fehlen
einer "Waffengleichheit" bemängelt, genügt der Hinweis auf das von der rechtkundig
vertretenen Klägerin nicht wahrgenommene Recht, einen förmlichen Beweisantrag nach
§ 86 Abs. 2 VwGO zu stellen.
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Die Zulassungsantragsbegründung zeigt nicht auf, dass die gutachtliche Stellungnahme
inhaltlich in einer Weise defizitär wäre, dass sich dem Verwaltungsgericht das Einholen
eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens hätte aufdrängen müssen. Die
gutachtliche Stellungnahme ist im Hinblick auf die beweiserhebliche Frage weder
unvollständig noch werden ihre Ergebnisse durch beweiserhebliches Vorbringen der
Klägerin ernsthaft erschüttert.
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Eine andere Bewertung ist nicht deshalb geboten, weil der Gutachter Prof. Dr. Dr. T.
die Klägerin nicht selbst untersucht hat. Der gutachtlichen Stellungnahme vom 18.
Oktober 2008, die auf der gutachtlichen Stellungnahme vom 19. Dezember 2007
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aufbaut, lagen zahlreiche ärztliche Stellungnahmen der die Klägerin behandelnden
Ärzte und Psychotherapeuten zugrunde, aus denen die Diagnosen und die bisher
durchgeführten Behandlungsmaßnahmen hervorgingen. Diese Stellungnahmen sind
von dem Gutachter Prof. Dr. Dr. T. sorgfältig ausgewertet worden. Dass der Gutachter
dabei von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen wäre oder die von ihm als
erfolgversprechend genannten Therapieoptionen der vollstationären psychiatrischen
Behandlung in einem Krankenhaus, der alternativen Medikation, der sog.
Kombinationstherapie und Augmentationstherapie mit Lithium (Gutachtenabdruck Seite
7 bis 9) bereits im für die rechtliche Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt der
Entscheidung des Verwaltungsgerichts bzw. des Ablaufs der
Zulassungsbegründungsfrist durchgeführt worden sind, ist nicht ersichtlich.
Soweit die Klägerin – nach Ablauf der Zulassungsbegründungsfrist – mit Schriftsatz vom
22. Januar 2010 auf von ihr aufgefundene und noch nicht berücksichtigte
psychotherapeutische Behandlungen in den Jahren 1995 bis 1998 verweist, vermag
dies keine Zweifel an der gutachtlichen Stellungnahme vom 18. Oktober 2008 zu
wecken. Bei den belegten psychotherapeutischen Maßnahmen handelte es sich zum
einen um ausschließlich ambulante Behandlungen und nicht um die vom Gutachter
aufgezeigte erfolgsversprechende stationäre Krankenhausbehandlung kombiniert mit
einer pharmakologischen Therapie. Zum anderen übte die Klägerin nach diesen
Behandlungen nach den tatbestandlichen Feststellungen des angegriffenen Urteils
noch bis Juni 2006 den Beruf als Architektin aus.
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Es wird auch nicht substantiiert vorgetragen, warum trotz der eingehenden ärztlichen
Stellungnahmen zu dem Krankheitsbild und zu den durchgeführten Therapien eine
weitere Untersuchung der Klägerin durch den Gutachter zur sachgerechten
Beantwortung der entscheidungserheblichen Beweisfrage erforderlich gewesen sein
sollte. Ebenso werden keine durchgreifenden Umstände vorgetragen, warum die vom
Gutachter Prof. Dr. Dr. T. auf den Seiten 7 bis 9 genannten Therapieoptionen, die in
dem angegriffenen Urteil der Klägerin entgegengehalten worden sind, ihr nicht zumutbar
oder nicht erfolgsversprechend hätten sein können.
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Ein solcher Schluss ist nicht deshalb gerechtfertigt, weil die von der Klägerin – den
Therapievorschlag des Gutachters nunmehr aufgreifend – nach Ablauf der
Berufungsbegründungsfrist in der M. Nervenklinik Dr. T1. in der Zeit vom 16.
März 2009 bis 22. Mai 2009 durchgeführte stationäre Behandlung nach dem
Entlassungsbericht vom 15. Oktober 2009 zu keiner Wiederherstellung der
Berufsfähigkeit geführt hat. Dies mag Anlass für ein neues Berentungsverfahren sein,
sagt für sich genommen aber nichts darüber aus, dass die vom Gutachter benannte
Behandlungsmöglichkeit von vornherein nach medizinischen Erkenntnissen eine
Besserung des Krankheitsbildes nicht erwarten ließ, was nach dem materiell-rechtlichen
Ansatz des Verwaltungsgerichts die Verweisung auf noch nicht ausgeschöpfte
Therapiemöglichkeiten ausgeschlossen hätte. Derartiges ist dem Entlassungsbericht
vom 15. Oktober 2009 auch nicht ansatzweise zu entnehmen. Im Gegenteil spricht die
Durchführung der Therapie in der M. Nervenklinik Dr. T1. für die Annahme,
dass dieser Therapieform Erfolgsaussichten nicht von vornherein abgesprochen werden
konnten; andernfalls wäre sie nicht durchgeführt worden.
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Eine Verletzung der richterlichen Sachaufklärungspflicht ist nicht darin zu sehen, dass in
der gutachtlichen Stellungnahme des Prof. Dr. Dr. T. vom 18. Oktober 2008 die
Leitlinien der Fachgesellschaften zur Behandlung des in Rede stehenden
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Krankheitsbildes (Depression und Zwangsstörungen) nicht näher konkretisiert worden
sind. Leitlinien werden von den jeweiligen medizinischen Fachgesellschaften erarbeitet
und sind systematisch entwickelte, wissenschaftlich begründete und praxisorientierte
Hilfen zur Entscheidungsfindung über die angemessene therapeutische
Vorgehensweise bei speziellen gesundheitlichen Problemen. Sie geben den aktuellen
fachlichen Entwicklungsstand zu einer Erkrankung wieder. Mit der
Zulassungsantragsbegründung wird nicht ansatzweise dargetan, warum sich dem
Verwaltungsgericht hätte aufdrängen müssen, dass die in der gutachtlichen
Stellungnahme des Prof. Dr. Dr. T. vom 18. Oktober 2008 genannten und als für die
Klägerin zumutbar bewerteten Therapieoptionen (stationäre Krankenhausbehandlung
kombiniert mit einer pharmakologischen Therapie) entgegen dem Stand der
medizinischen Erkenntnisse für eine erfolgversprechende Therapie nicht in Frage
gekommen wären. Die schließlich erfolgte stationäre Krankenhausbehandlung in der
M. Nervenklinik Dr. T1. in der Zeit vom 16. März 2009 bis zum 22. Mai 2009
zeigt im Gegenteil, dass der Klägerin eine solche, wie in der gutachtlichen
Stellungnahme vom 18. Oktober 2008 in ausführlicher Auseinandersetzung mit der
Einschätzung der behandelnden Ärztin M1. vom 28. August 2008 zugrunde gelegt,
durchaus möglich war.
Soweit die Zulassungsantragsbegründung auf die mangelnde Kompetenz der Klägerin
als "medizinische Laiin" zur Beurteilung der Therapieoptionen verweist, ist nicht
ersichtlich, weshalb dieser Umstand dem Verwaltungsgericht das Einholen eines
gerichtlichen Sachverständigengutachtens hätte aufdrängen müssen. Im Übrigen ist die
Therapieoption der Klägerin bereits in dem im Verwaltungsverfahren eingeholten
neurologisch-psychiatrischem Gutachten des Arztes für Neurologie, Psychiatrie und
Psychotherapie Dr. G. vom 15. August 2007 benannt worden, das ihr mit dem
Ablehnungsbescheid vom 2. Oktober 2007 übersandt worden ist. Damit waren der
Klägerin die bei ihrem Krankheitsbild noch erfolgsversprechenden Therapien
hinreichend aufgezeigt worden.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf
§§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 1 GKG.
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Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar.
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