Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 30.04.2004
OVG NRW: körperliche unversehrtheit, obg, hund, gefahr, bestätigung, eigenschaft, rechtsgrundlage, tierarzt, vollstreckbarkeit, behörde
Oberverwaltungsgericht NRW, 5 A 1890/03
Datum:
30.04.2004
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
5 A 1890/03
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Klage wird insgesamt abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 3.000,-- EUR
festgesetzt.
Die Revision wird nicht zugelassen.
G r ü n d e :
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I.
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Der Kläger ist Halter der Schäferhündin "E. ". Diese biss, als sie am 5. Juli 2001 vom
Kläger an der Leine ausgeführt wurde, ohne erkennbaren Anlass eine Jugendliche in
den linken Unterschenkel. Die etwa 0,5 cm tiefe Wunde musste im Krankenhaus
ambulant behandelt werden. Der zuständige Veterinär kam nach Untersuchung der
Hündin zu dem Ergebnis, diese sei mäßig erzogen und zeige sich reserviert bis
ängstlich, sei aber gleichwohl nicht als gefährlich i.S.v. § 2 der damals geltenden
Landeshundeverordnung NRW (LHV NRW) vom 30. Juni 2000 (GVBl. S. 518 b)
einzuordnen. Am 7. Juli 2002 biss die von der Frau des Klägers unangeleint
ausgeführte Hündin eine Fußgängerin wiederum ohne erkennbaren Anlass in den
linken Unterschenkel und fügte dieser eine 0,2 cm große blutende Bisswunde zu, die
anschließend ambulant behandelt werden musste.
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Daraufhin gab der Beklagte gestützt auf § 14 Abs. 1 OBG NRW dem Kläger mit
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Ordnungsverfügung vom 12. Juli 2002 auf, seine Hündin auf öffentlichen
Verkehrsflächen nur noch mit einem das Beißen verhindernden Maulkorb oder einer in
der Wirkung gleichstehenden Vorrichtung sowie an einer maximal 1,5 m langen Leine
auszuführen. Weiterhin dürfe die Hündin nur von solchen Personen ausgeführt werden,
die von ihrer körperlichen Verfassung her in der Lage seien, sie sicher an der Leine zu
führen. Außerdem drohte der Beklagte dem Kläger für den Fall einer Zuwiderhandlung
ein Zwangsgeld in Höhe von 500,-- EUR an.
Den hiergegen gerichteten Widerspruch des Klägers wies der Landrat des Kreises M.
mit Widerspruchsbescheid vom 15. August 2002 als unbegründet zurück.
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Am 5. September 2002 hat der Kläger Klage erhoben.
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Der Kläger hat beantragt,
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die Ordnungsverfügung des Beklagten vom 12. Juli 2002 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 15. August 2002 aufzuheben.
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Der Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Der Beklagte hat die Auffassung vertreten, er habe die angefochtene
Ordnungsverfügung auf der Grundlage des § 14 OBG NRW erlassen dürfen. Vor dem
Hintergrund der beiden Beißvorfälle sei die angeordnete Anleinpflicht zur Abwehr
weiterer Gefahren für die körperliche Unversehrtheit Dritter geeignet, erforderlich und
verhältnismäßig gewesen. Dies gelte auch für die Maulkorbpflicht, da die Hündin im Juli
2001 trotz Anleinung zugebissen habe. Er sei an der Anordnung der Anlein- und
Maulkorbpflicht auch nicht durch die Einschätzung des Veterinärs gehindert, der die
Hündin des Klägers nach einer erneuten Untersuchung Ende Oktober 2002 wiederum
als nicht gefährlich i.S.v. § 2 LHV NRW eingestuft, allerdings eine Anleinpflicht
befürwortet hatte. Dies ergebe sich für die Zeit ab 1. Januar 2003 unmittelbar aus § 3
Abs. 3 Nr. 3 des Hundegesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (LHundG NRW) vom
18. Dezember 2002 (GV. NRW S. 656). Da die angefochtene Ordnungsverfügung in die
Zukunft fortwirke, sei für die Beurteilung der Rechtslage ab Inkrafttreten des
Landeshundegesetzes auf dessen Normen abzustellen. Es gelte im Ergebnis aber
ebenso für die Zeit vor Inkrafttreten des Landeshundegesetzes.
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Das Verwaltungsgericht hat die Anordnung zum Tragen eines Maulkorbs oder einer in
der Wirkung gleichstehenden Vorrichtung und die Verpflichtung zur Anleinung der
Hündin außerhalb im Zusammenhang bebauter Ortsteile sowie jeweils die darauf
bezogene Zwangsgeldandrohung aufgehoben. Im Übrigen hat es die Klage
abgewiesen. Wegen der Begründung wird auf das angefochtene Urteil Bezug
genommen.
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Gegen das Urteil wendet sich der Beklagte mit seiner zugelassenen Berufung, zu deren
Begründung er ergänzend und vertiefend darlegt: Entgegen der Auffassung des
Verwaltungsgerichts sei die Landeshundeverordnung nicht geeignet, ein Gesetz im
formellen und materiellen Sinne wie das Ordnungsbehördengesetz in seiner
Anwendbarkeit einzuschränken oder gar zu verdrängen. Der Verordnungsgeber sei zu
einer derartigen Einschränkung des § 14 OBG nicht ermächtigt. Daher gehe das
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Verwaltungsgericht in dem angegriffenen Urteil fehlerhaft davon aus, eine Anlein- und
Maulkorbpflicht habe unter der Geltung der Landeshundeverordnung nur bei Vorliegen
der Voraussetzungen deren § 2 angeordnet werden können. Habe ein Hund wie hier –
zweimal, ohne hierzu provoziert worden zu sein, einen Menschen gebissen, habe die
Ordnungsbehörde die notwendigen Anordnungen zur Abwendung weiterer Gefahren
treffen können. Dieses Ergebnis werde auch von dem neuen Landeshundegesetz
getragen, nach dessen § 3 Abs. 3 in derartigen Fällen die Gefährlichkeit des Hundes
vermutet werde.
Der Beklagte beantragt,
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unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage insgesamt
abzuweisen.
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Der Kläger beantragt sinngemäß,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Zur Begründung trägt der Kläger vor, die beiden Beißvorfälle zeugten nicht von der
Grundgefährlichkeit seiner Hündin. Diese habe vielmehr jeweils nur erschrocken
reagiert und aus diesem Grund zugeschnappt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten
wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten
Bezug genommen.
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II.
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Der Senat kann gemäß § 130a Satz 1 VwGO über die Berufung durch Beschluss
entscheiden, weil er sie einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht
für erforderlich hält. Die Beteiligten sind hierzu gemäß §§ 130a Satz 2, 125 Abs. 2 Satz
3 VwGO gehört worden.
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Die zugelassene Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu
Unrecht teilweise stattgegeben. Die Klage ist insgesamt unbegründet.
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Die Ordnungsverfügung des Beklagten vom 12. Juli 2002 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides des Landrates des Kreises M. vom 15. August 2002 ist
rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1
VwGO).
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Ermächtigungsgrundlage für das angefochtene Maulkorb- und Anleingebot war § 14
Abs. 1 OBG NRW. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts war der Beklagte
durch die Regelung des § 6 Abs. 3 LHV NRW, der eine entsprechende Verpflichtung
allein für Hunde bestimmter Rassen bzw. Kreuzungen sowie für gefährliche Hunde i.S.v.
§ 2 LHV NRW vorsah, nicht gehindert, auf der Grundlage der allgemeinen
ordnungsbehördlichen Generalklausel wie geschehen tätig zu werden. Die Vorschriften
der Landeshundeverordnung konnten nämlich den Anwendungsbereich des § 14 Abs. 1
OBG NRW bereits deshalb nicht einschränken, weil dem Verordnungsgeber hierzu die
nötige Ermächtigung fehlte.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 6. März 1997 5 B 3201/96 -, NVwZ 1997,
806, 807.
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Die Voraussetzungen für die Anordnung einer Anlein- und Maulkorbpflicht lagen vor.
Die Hündin des Klägers hatte innerhalb etwa eines Jahres zweimal, ohne zuvor
provoziert worden zu sein, Menschen gebissen. Es bestand danach die Gefahr, dass
sich ähnliche Vorfälle ohne geeignete Vorkehrungen wiederholen könnten. Dieser
berechtigten Einschätzung des Beklagten stehen die Beurteilungen des Veterinärs des
Kreises vom 12. September 2001 und 6. Oktober 2002 nicht entgegen. Für die
behördliche Feststellung einer von der Hündin ausgehenden Gefahr i.S.v. § 14 Abs. 1
OBG NRW kam der Beurteilung des Veterinärs - anders als nach § 2 Buchst. b LHV
NRW für die Feststellung der Eigenschaft als gefährlicher Hund im Sinne der
Landeshundeverordnung - keine konstitutive Bedeutung zu. Für den Beklagten bestand
auch in der Sache keine Veranlassung, der Einschätzung des Veterinärs zu folgen, die
von ihm zuletzt empfohlene Anleinung genüge zur Abwendung künftiger Beißattacken
der Hündin des Klägers. Diese Bewertung des Veterinärs berücksichtigt nicht
hinreichend, dass die Hündin am 5. Juli 2001 trotz Anleinung zugebissen hatte. Die
Einschätzung des Beklagten hat hingegen im nachhinein ihre Bestätigung durch die am
1. Januar 2003 in Kraft getretenen Regelungen des Landeshundegesetzes für das Land
Nordrhein-Westfalen erfahren. Nach § 3 Abs. 3 Nr. 3 LHundG NRW ist ein im Einzelfall
gefährlicher Hund auch ein solcher, der - wie die Hündin des Klägers - einen Menschen
gebissen hat, sofern dies nicht zur Verteidigung anlässlich einer strafbaren Handlung
geschah. Gemäß § 5 Abs. 2 Sätze 1 und 3 LHundG NRW sind solche gefährlichen
Hunde außerhalb eines befriedeten Besitztums sowie in Fluren, Aufzügen,
Treppenhäusern und auf Zuwegen von Mehrfamilienhäusern an einer zur Vermeidung
von Gefahren geeigneten Leine zu führen. Ihnen ist ein das Beißen verhindernder
Maulkorb oder eine in der Wirkung gleichstehende Vorrichtung anzulegen. Der Beklagte
hat mithin die Gefahrensituation aufgrund der Beißvorfälle ebenso eingeschätzt wie
nach ihm in genereller Weise der Landesgesetzgeber. Auch die vom Beklagten für
notwendig befundenen Abwehrmaßnahmen entsprechen den nunmehr im Gesetz
grundsätzlich zwingend vorgesehenen Halterpflichten.
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Die angefochtene Ordnungsverfügung des Beklagten, die als Dauerverwaltungsakt
fortwirkt, ist demnach auch nicht durch Änderung der maßgeblichen Rechtsvorschriften
nachträglich rechtswidrig geworden. Sie findet ihre Rechtsgrundlage nunmehr in § 12
Abs. 1 LHundG NRW i.V.m. §§ 5 Abs. 2, 3 Abs. 3 Nr. 3 LHundG NRW. Der in § 3 Abs. 3
Satz 2 LHundG NRW vorgesehenen Begutachtung durch einen amtlichen Tierarzt und
dessen Beurteilung kommt keine konstitutive Bedeutung zu; es handelt sich nach dem
Wortlaut der Norm insoweit um ein bloßes Verfahrenserfordernis. Die Feststellung der
Gefährlichkeit trifft die Behörde in eigener Verantwortung. Im Übrigen besteht im
konkreten Fall für eine die Gefährlichkeit nach Maßgabe des § 3 Abs. 3 Nr. 3 LHundG
NRW verneinende Einschätzung kein Raum.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über deren
vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 14 Abs. 1, 13 Abs. 1 GKG.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht
vorliegen (§ 132 Abs. 2 VwGO).
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