Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 03.08.2010

OVG NRW (windkraftanlage, wiedereinsetzung in den vorigen stand, kläger, errichtung, gebiet, gutachter, genehmigung, verhandlung, stellungnahme, europäische kommission)

Oberverwaltungsgericht NRW, 8 A 4062/04
Datum:
03.08.2010
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
8. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
8 A 4062/04
Tenor:
Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit überein-stimmend in der
Hauptsache für erledigt erklärt haben und soweit die Kläger die Klage
zurückgenommen haben, wird das Verfahren eingestellt. Das auf die
mündliche Verhandlung vom 29. Juli 2004 ergangene Urteil des
Verwaltungsgerichts Düsseldorf ist wirkungslos, soweit es sich auf die
Windkraftanlage 4 bezieht.
Im Übrigen wird auf die Berufung der Beklagten zu 2. das Urteil des
Verwaltungsgerichts Düssel-dorf geändert.
Die Klage wird, soweit sie noch anhängig ist, ab-gewiesen.
Hinsichtlich des übereinstimmend für erledigt er-klärten Teils
(Windkraftanlage 4) tragen die Klä-ger die außergerichtlichen Kosten der
Beklagten zu 1., soweit die Klage hilfsweise auf ein Fortset-
zungsfeststellungsbegehren gerichtet war; im Übrigen tragen die Kläger
und die Beklagte zu 2. die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge
jeweils zur Hälfte.
Hinsichtlich des nicht für erledigt erklärten Teils (Windkraftanlage 1)
tragen die Kläger die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig voll-streckbar. Der jeweilige
Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden
Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger
vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
1
Mit Bauanträgen vom 3. Mai 2000 beantragten die Kläger bei der Beklagten zu 1. die
Erteilung von Baugenehmigungen für die Errichtung von vier Windkraftanlagen des
Typs Enercon-66/18.70 mit einer Nennleistung von 1800 kW, einer Nabenhöhe von 98
m und einem Rotordurchmesser von 35 m und mit Bauantrag vom 7. Juli 2000 für die
Errichtung einer weiteren Anlage gleichen Typs auf verschiedenen Flurstücken in X. ,
Gemarkung C. , Flur 18 ("H. ") (im Genehmigungsverfahren als WEA 1 bis 5
bezeichnet). Mit Schreiben vom 25. Oktober 2000 änderten die Kläger die Bauanträge
dahin, dass nunmehr Anlagen des Typs Enercon-66/15.66 mit einer Nennleistung von
1.500 kW, einer Nabenhöhe von 98 m und einem Rotordurchmesser von 66 m
Gegenstand der Bauanträge sein sollten. Gegenstand des Berufungsverfahrens sind die
Windkraftanlagen 1 und 4 (WEA 1 und 4).
2
Das Gebiet H1. , in dem die Windkraftanlagen errichtet werden sollen, liegt links
des Rheins südwestlich der Stadt X. zwischen den Ortsteilen H2. im Nordwesten
und C. im Osten sowie dem zur Gemeinde B. gehörenden Ortsteil N. im
Südwesten. Die Standorte der Windkraftanlagen liegen innerhalb der durch die 1.
Ergänzung des Flächennutzungsplans der Stadt X. dargestellten Konzentrationszone
für die Windenergienutzung; die Beklagte zu 2. hatte diese Ergänzung am 4. Dezember
1998 genehmigt. Südöstlich des Vorhabengebiets befindet sich mit dem N1. eine
weitere dargestellte Konzentrationszone für die Windenergienutzung. Ein von den
Klägern unter dem 11. Juli 2000 gestellter Bauantrag für die Errichtung einer weiteren
Windkraftanlage (WEA 6) in diesem Gebiet war Gegenstand des Verfahrens 8 A
4096/04. In der Konzentrationszone N1. ist zudem eine Windkraftanlage (WEA 8)
eines anderen Vorhabenträgers bereits genehmigt und errichtet. Eine weitere
ursprünglich geplante Windkraftanlage eines dritten Vorhabenträgers (WEA 7) wird
hingegen nicht errichtet werden. Wegen der genauen Lage der einzelnen
Windkraftanlagen im Bereich H1. /N1. wird auf den Auszug aus der
Deutschen Grundkarte (BA 25) Bezug genommen.
3
Westlich, nördlich und - jenseits der Konzentrationszone N1. - (süd-)östlich des
Vorhabengebiets liegen Flächen des Europäischen Vogelschutzgebiets "Unterer
Niederrhein". Das Vogelschutzgebiet wurde im Jahr 2000 an die Europäische
Kommission gemeldet und durch Bekanntmachung im Ministerialblatt des Landes
Nordrhein-Westfalen vom 26. Januar 2005 (MBl. NRW S. 61) mit einer Fläche von
20.271 ha unter Schutz gestellt. Als Schutzzweck ist in der Bekanntmachung u.a.
angegeben: "Erhaltung und Entwicklung der grünlandgeprägten Rheinaue sowie der
angrenzenden Niederungsflächen mit ihren naturnahen Gewässern als Durchzugs-,
Rast- und Überwinterungsgebiet für Wasser- und Watvögel, insbesondere für Bläss- und
Saatgans, Nonnengans". Durch Verordnung vom 28. April 2009 (GV. NRW S. 325)
wurde die Unterschutzstellung auf eine Fläche von 25.809 ha erweitert. Hierdurch
wurde ein von der Europäischen Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland
eingeleitetes Vertragsverletzungsverfahren (Nr. 2001/5003) beendet. Die Einstellung
des Vertragsverletzungsverfahrens war darüber hinaus mit der Auflage verbunden, für
das Gebiet einen ergänzenden Maßnahmenplan zu erarbeiten, der zu einem guten
Erhaltungszustand der Vogelarten und ihrer Lebensräume beiträgt. Der Standort der im
Berufungsverfahren allein noch streitgegenständlichen Windkraftanlage (WEA 1) liegt
etwa 300 m von den westlich bis an die Straße K 22 heranreichenden Flächen des
Vogelschutzgebiets in der nach der Erweiterung maßgeblichen Gebietsabgrenzung
entfernt.
4
Mit Bescheiden vom 8. Juni 2001 (WEA 3) und 2. Mai 2001 (WEA 5) versagte die
Beklagte zu 1. die Baugenehmigungen für zwei der fünf Windkraftanlagen. Hinsichtlich
der übrigen drei Anlagen (WEA 1, 2 und 4) haben die Kläger am 29. Mai 2001
Untätigkeitsklage erhoben.
5
Mit Bescheiden vom 8. Juni 2001 (WEA 1), 9. Juli 2001 (WEA 2) und 4. Juli 2001 (WEA
4) lehnte die Beklagte zu 1. auch die für diese drei Anlagen gestellten Bauanträge ab.
Hinsichtlich der WEA 2 und 4 führte die Beklagte zu 1. zur Begründung unter
Bezugnahme auf einen Vermerk der Biologischen Station im Kreis X. e.V. (Gutachter
Dr. N2. ) vom 12. Juni 2001 aus, dass der Genehmigung der Vorhaben Belange des
Vogelschutzes entgegenstünden, da sich die Standorte innerhalb eines faktischen
Vogelschutzgebiets befänden. Das Vorhabengebiet H1. liege zwar nicht
innerhalb des an die Europäische Kommission im Jahr 2000 gemeldeten
Vogelschutzgebiets, jedoch innerhalb der vom Naturschutzbund Deutschland in einer
sog. Schattenliste sowie der vom Internationalen Rat für Vogelschutz bzw. seiner
Nachfolgeorganisation BirdLife International vorgeschlagenen Gebietsabgrenzung
(Liste der "Important Bird Areas" - IBA-Liste - aus dem Jahr 1989, überarbeitet im Jahr
2000). Der Standort der WEA 2 liege zudem innerhalb einer künftigen
Wasserschutzzone II, in der Eingriffe in den Boden bzw. die Deckschichten unzulässig
seien.
6
Hinsichtlich der weiteren drei Anlagen (WEA 1, 3 und 5) ergänzte die Beklagte zu 1. die
ursprünglich vor allem auf Gesichtspunkte des Wasserschutzes bzw. die
Nichteinhaltung von Abstandsflächenvorschriften gestützte Ablehnung mit Bescheiden
vom 9. Juli 2001 (WEA 1) und 12. Juli 2001 (WEA 3 und 5) um die vorgenannten
Belange des Vogelschutzes.
7
Die Klägerin legte gegen sämtliche Ablehnungsbescheide jeweils rechtzeitig
Widerspruch ein.
8
Am 20. März 2002 erließ die Beklagte zu 2. eine ordnungsbehördliche Verordnung zum
Erlass einer Veränderungssperre zur Sicherung der Planung zur Festsetzung eines
Wasserschutzgebietes im H3. Feld, in deren Geltungsbereich die
Vorhabenstandorte liegen (Amtsblatt für den Regierungsbezirk Düsseldorf vom 28. März
2002, S. 147).
9
Die Landrätin des Kreises X. wies die Widersprüche der Kläger mit
Widerspruchsbescheiden vom 8. April 2002 (WEA 4), 15. April 2002 (WEA 5), 23. April
2002 (WEA 1), 24. April 2002 (WEA 3) und 25. April 2002 (WEA 2) zurück. Zur
Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass der Errichtung der Windkraftanlagen
Belange des Vogelschutzes als öffentliche Belange im Sinne des § 35 Abs. 3 BauGB
entgegenstünden. Durch die Windkraftanlagen werde - unter Einbeziehung der weiteren
in der Konzentrationszone N1. geplanten bzw. errichteten Windkraftanlagen - ein
Flugkorridor der arktischen Wildgänse beeinträchtigt, der zwischen den für die
Wildgänse besonders bedeutenden Gebieten C1. Insel und P. Rheinbogen über
die Gebiete H1. und N1. hinweg verlaufe.
10
Am 21. Mai 2002 haben die Kläger hinsichtlich der WEA 3 und 5 Verpflichtungsklage
erhoben (VG Düsseldorf 4 K 3339/02), die das Verwaltungsgericht mit der
Untätigkeitsklage betreffend die WEA 1, 2 und 4 verbunden hat. Mit Schreiben vom 20.
August zeigten die Kläger hinsichtlich der WEA 1 einen Bauherrenwechsel auf Herrn
11
Hermann U. an. Hinsichtlich der WEA 4 wurde nach übereinstimmenden Angaben
der Beteiligten ein Bauherrenwechsel auf Herrn Herrmann-Josef T. angezeigt. Zur
Begründung ihrer Klage trugen die Kläger unter Vorlage eines Ornithologischen
Gutachtens des Gutachters Dr. M. aus Oktober 2002 im Wesentlichen vor, dass nicht
von der Beeinträchtigung eines Flugkorridors der arktischen Wildgänse ausgegangen
werden könne. Die von der Beklagten zu 2. erlassene wasserrechtliche
Veränderungssperre sei rechtswidrig, da sie sich auf eine - nicht sicherungsfähige -
vorbereitende Standortsuche für zukünftige Trinkwassergewinnungsanlagen
beschränke.
Nachdem die Kläger die Bauanträge und Klagen betreffend die Windkraftanlagen 2, 3
und 5 in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht zurückgenommen
haben, haben sie beantragt,
12
die Beklagte zu 1. unter Aufhebung ihrer Ablehnungsbescheide vom 8. Juni
2001 und 4. Juli 2001 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide der
Landrätin des Kreises X. vom 8. und 23. April 2002 zu verpflichten,
13
1. Herrn Hermann U. die mit Datum vom 3. Mai 2000 beantragte
Baugenehmigung für die Errichtung einer Windenergieanlage in X. , Gemarkung
C. , Flur 18, Flurstücke 250, 251 (WEA 1) zu erteilen,
2. Herrn Herrmann-Josef T. die mit Datum vom 3. Mai 2000 beantragte
Baugenehmigung für die Errichtung einer Windenergieanlage in X. , Gemarkung
C. , Flur 18, Flurstücke 110, 170 und 192 (WEA 4) zu erteilen,
14
15
und zwar so, wie vor Ergehen der Ablehnungsbescheide zuletzt beantragt.
16
Die Beklagte zu 1. hat beantragt,
17
die Klage abzuweisen.
18
Sie hat den Inhalt der Widerspruchsbescheide vertieft und zum Ornithologischen
Gutachten des Dr. M. eine Stellungnahme der Biologischen Station im Kreis X. e.V.
(Gutachter Dr. N2. ) vom 27. Januar 2003 vorgelegt.
19
Mit dem auf die mündliche Verhandlung vom 29. Juli 2004 ergangenen Urteil hat das
Verwaltungsgericht - nach Teileinstellung des Verfahrens im Umfang der
Klagerücknahme - der Verpflichtungsklage hinsichtlich der Windkraftanlage 1
stattgegeben und die Klage hinsichtlich der Windkraftanlage 4 abgewiesen. Zur
Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Windkraftanlage 1 sei
genehmigungsfähig, da Belange des Vogelschutzes als öffentliche Belange im Sinne
des § 35 Abs. 3 BauGB nicht entgegenstünden. Der Vorhabenstandort liege weder
innerhalb eines ausgewiesenen Europäischen Vogelschutzgebiets noch innerhalb
eines faktischen Vogelschutzgebiets. Eine Gebietsbeeinträchtigung von außerhalb
durch die Errichtung der Windkraftanlage 1 könne nicht angenommen werden. Eine von
20
der Windkraftanlage ausgehende Barrierewirkung reiche hierfür nur aus, wenn die
Vögel von dem Gebiet geradezu abgeschnitten würden. Die bloße Erschwerung, das
Schutzgebiet zu erreichen, genüge demgegenüber nicht. Die von der Beklagten zu 2.
erlassene wasserrechtliche Veränderungssperre stehe der Erteilung der
Baugenehmigung ebenfalls nicht entgegen, da sie nichtig sei. Sie widerspreche der in
der 1. Ergänzung des Flächennutzungsplans dargestellten Konzentrationszone für die
Windenergienutzung, die von der Beklagten zu 2. genehmigt worden sei und der sie ihre
Planungen daher anpassen müsse. Die Windkraftanlage 4 sei hingegen nicht
genehmigungsfähig, da sie weniger als 200 m von dem südlich des Vorhabenstandortes
im Gebiet der Gemeinde B. gelegenen Naturschutzgebiet (Feuchtgebiet bei N.
Ost) entfernt liege und damit den im Windenergieerlass 2002 vorgesehenen
Mindestabstand unterschreite.
Gegen das den Beteiligten jeweils am 30. August 2004 zugestellte Urteil haben die
Beklagte zu 1. am 27. September 2004 und die Kläger am 28. September 2004 die vom
Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt.
21
Mit Schreiben der Senatsgeschäftsstelle des vormals zuständigen 22. Senats vom 5.
Oktober 2004 ist der Beklagten zu 1. infolge eines Versehens mitgeteilt worden, dass
die Berufungsbegründung binnen 8 Wochen erbeten werde. Am 2. Dezember 2004 hat
die Beklagte zu 1. die Berufungsbegründung vorgelegt und auf Anregung des vormals
zuständigen Berichterstatters hinsichtlich der Begründungsfrist zugleich die
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Die Berufungsbegründungsschrift ist
den Klägern am 6. Dezember 2004 mit einfacher Post übersandt worden.
22
Nachdem zum 1. Juli 2005 eine Rechtsänderung in Kraft getreten ist, wonach
Windkraftanlagen mit einer Gesamthöhe von mehr als 50 Metern nunmehr einer
immissionsschutzrechtlichen Genehmigung bedürfen, haben die Kläger nach Hinweis
des Senats auf die Übergangsvorschrift des § 67 Abs. 9 BImSchG die Klage am 25.
November 2005 geändert und sie auch gegen die Beklagte zu 2. gerichtet. Sie haben
daraufhin von dieser die Erteilung immissionsschutzrechtlicher Genehmigungen für die
Errichtung und den Betrieb der Windkraftanlagen 1 und 4 begehrt, hilfsweise die
Feststellung, dass die Beklagte zu 1. zur Erteilung der ursprünglich beantragten
Baugenehmigungen verpflichtet war.
23
Mit Beschluss vom 2. Februar 2006 hat das Gericht das Verfahren bis zur Entscheidung
der Beklagten zu 2. darüber, ob die begehrten immissionsschutzrechtlichen
Genehmigungen erteilt werden, gemäß § 94 VwGO ausgesetzt.
24
Unter dem 27. November 2007 haben die Kläger einen immissionsschutzrechtlichen
Genehmigungsantrag zur Fortführung des Bauantrages nebst den von der der
Beklagten zu 2. verlangten ergänzenden bzw. aktualisierten Unterlagen vorgelegt. Der
neue Genehmigungsantrag ist - entsprechend dem Stand der Technik - nunmehr auf
Anlagen des Typs Enercon E-70/E 4 mit einer Nennleistung von 2.300 kW, einer
Nabenhöhe von 98,20 m und einem Rotordurchmesser von 77 m bezogen. Als neue
Bauherrin ist in dem Antrag die SL X1. GmbH in H4. angegeben. Der Standort
für die geplante Windkraftanlage 4 ist um ca. 30 m nach Nordosten verschoben worden,
um für einen größtmöglichen Abstand zum Naturschutzgebiet "Feuchtgebiet bei N. -
Ost" zu sorgen.
25
Im Verlauf des immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahrens haben die Kläger
26
zwei Gutachten zur FFH-Verträglichkeitsprüfung des Gutachters Dr. M. aus Januar
und Mai 2009 sowie zwei Gutachten zur artenschutzrechtlichen Verträglichkeitsprüfung
nach § 42 BNatSchG (a.F.) für Fledermäuse und Vögel des Gutachters Dr. M. aus
Oktober 2008 und Mai 2009 vorgelegt. Darüber hinaus hat der Beklagten zu 2. ein
Vermerk des Gutachters Dr. N2. von der Biologischen Station im Kreis X. e.V. zur
"Ökologischen Bedeutung des Bereiches Poll/H1. sowie des Meerfeldes (Kreis
X. ), insbesondere im Bezug zur EU-Vogelschutzrichtlinie" vom 31. Januar 2005
vorgelegen. Die Beklagte zu 2. hat zu den genannten Gutachten Stellungnahmen des
Sachverständigen Dr. X2. vom Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz
(LANUV) NRW vom 3. April 2009, 9. Juli 2009 und 3. September 2009 eingeholt.
Mit Bescheid vom 13. November 2009 hat die Beklagte zu 2. der Firma SL X1.
GmbH antragsgemäß die immissionsschutzrechtliche Genehmigung für die Errichtung
und den Betrieb der Windkraftanlage 4 erteilt. Mit Bescheid gleichen Datums ist auch
die Errichtung und der Betrieb der Windkraftanlage 6 genehmigt worden. Als Auflage zur
Genehmigung ist der Firma SL X1. GmbH u.a. aufgegeben worden, zur Klärung
der verbleibenden Prognoseunsicherheiten im Rahmen eines Risikomanagements für
die Dauer von drei Jahren ein sog. Gänse-Monitoring durch Ganztagesbeobachtungen
im Umfeld der Windkraftanlage mit einer Kartierung der Flugbewegungen der
Wildgänse sowie durch die gründliche Suche nach Totfunden im Umfeld der
Windkraftanlage durchzuführen. Weitere Maßnahmen zur Abwendung negativer
Auswirkungen der Windkraftanlage auf die Wildgänse in Abhängigkeit von den
Ergebnissen des Monitorings hat sich die Höhere Landschaftsbehörde vorbehalten.
Wegen der Einzelheiten wird auf Nr. 72 der Nebenbestimmungen in Anlage 1 zum
Genehmigungsbescheid verwiesen. Den wasserrechtlichen Belangen ist durch die
Nebenbestimmungen 18 bis 40 Rechnung getragen worden.
27
Hinsichtlich der Windkraftanlage 4 haben die Beteiligten das Verfahren daraufhin in der
Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt.
28
Hinsichtlich der Windkraftanlage 1 hat die Beklagte zu 2. mit Schreiben vom 8. Februar
2010 unter Bezugnahme auf die Stellungnahmen des Sachverständigen Dr. X2. vom
LANUV NRW zu der von den Klägern vorgelegten FFH-Verträglichkeitsprüfung des
Gutachters Dr. M. mitgeteilt, dass eine Erteilung der begehrten
immissionsschutzrechtlichen Genehmigung aus Gründen des Vogelschutzes nicht in
Betracht komme, da der vorgesehene Standort der Windkraftanlage 1 nur etwa 300 m
vom Rand des Europäischen Vogelschutzgebiets "Unterer Niederrhein" entfernt liege.
29
Die Beklagte zu 2. beantragt,
30
unter Abänderung des angefochtenen Urteils des Verwaltungsgerichts
Düsseldorf die Klage abzuweisen,
31
hilfsweise,
32
für den Fall, dass die Klage nicht abgewiesen wird, eine Frist zur
Stellungnahme zu den mit Schriftsatz der Kläger vom 23. Juli 2010
vorgelegten Stellungnahmen von F. sowie des Ingenieurbüros T1. +
S. von 6 Wochen.
33
Nachdem die Kläger den gegen die Beklagte zu 1. gerichteten hilfsweisen
34
Fortsetzungsfeststellungsantrag am 21. Juli 2010 zurückgenommen habe, beantragen
sie,
das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts zu ändern und die Beklagte
zu 2. unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides der Beklagten zu 1. vom
8. Juni 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Landrätin des
Kreises X. vom 23. April 2002 zu verpflichten, der SL X1. GmbH,
vertreten durch den Geschäftsführer Klaus T2. M1. , W.--------straße
124, 45964 H4. , eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung für die
Errichtung und den Betrieb einer Windkraftanlage vom Typ Enercon E-70/E
4 in X. , Gemarkung C. , Flur 18, Flurstücke 250 und 251,
entsprechend dem aktualisierten Antrag vom 26. November 2007 zu
erteilen,
35
hilfsweise,
36
Beweis zu erheben über die Behauptung, dass nach aktuellen
wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgeschlossen werden kann, dass die
Errichtung und der Betrieb der streitgegenständlichen Windenergieanlage 1
37
1. zu einem Verlust von Äsungsflächen,
38
2. zu einer Beeinträchtigung von Flugwegen zwischen Funktionszentren,
39
3. zu einer relevanten Erhöhung des Tötungsrisikos geschützter nordischer
Gänsearten im Vogelschutzgebiet "Unterer Niederrhein" führt,
40
durch Einholung eines Sachverständigengutachtens.
41
Die Kläger haben zur Frage einer möglichen Beeinträchtigung des Europäischen
Vogelschutzgebiets "Unterer Niederrhein" eine Stellungnahme von ecoda vom 20. Juli
2010 sowie eine Darstellung zu Auswirkungen der Windenergienutzung auf nordische
Gänse des Ingenieurbüros für Umweltplanung T1. + S. vom 23. Juli 2010
vorgelegt.
42
In der mündlichen Verhandlung am 27. Juli 2010 hat der Senat durch die Befragung des
Sachverständigen Dr. X2. vom LANUV NRW über die möglichen Auswirkungen der
streitgegenständlichen Windkraftanlage 1 auf das Europäische Vogelschutzgebiet
"Unterer Niederrhein" Beweis erhoben und den Gutachter Dr. M. sowie Herrn Dipl.-
Ing. S. ergänzend angehört. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf
das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.
43
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte des vorliegenden Verfahrens und des die Windkraftanlage 6 betreffenden
Verfahrens 8 A 4096/08 sowie die in diesen Verfahren jeweils beigezogenen
Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
44
Entscheidungsgründe:
45
Soweit das Verfahren hinsichtlich der Windkraftanlage 4 nach Erteilung des
immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsbescheides vom 13. November 2009 für
46
die Errichtung und den Betrieb einer Windkraftanlage in 46487 X. , Gemarkung C.
, Flur 18, Flurstücke 110, 170, 192 und 193, in der Hauptsache übereinstimmend für
erledigt erklärt worden ist, ist es entsprechend §§ 125 Abs. 1 Satz 1, 92 Abs. 3 Satz 1
VwGO einzustellen. Zur Klarstellung ist das angefochtene Urteil des
Verwaltungsgerichts insoweit für wirkungslos zu erklären (§ 173 VwGO i.V.m. § 269
Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO).
Soweit die Kläger den gegen die Beklagte zu 1. gerichteten hilfsweisen
Fortsetzungsfeststellungsantrag betreffend die Windkraftanlage 1 zurückgenommen
haben, ist das Verfahren gemäß §§ 125 Abs. 1 Satz 1, 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO ebenfalls
einzustellen.
47
Hinsichtlich des danach noch anhängigen Klageantrags auf Erteilung einer
immissionsschutzrechtlichen Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb einer
Windkraftanlage in 46487 X. , Gemarkung C. , Flur 18, Flurstücke 250 und 251
(WEA 1), hat die Berufung der Beklagten zu 2., die infolge der Klageänderung
vollumfänglich in die Rechts- und Verfahrensposition der Beklagten zu 1. eingetreten ist,
Erfolg.
48
A. Die Berufung der Beklagten zu 2. und die allein zum Zweck der Klageänderung
konkludent eingelegte Anschlussberufung der Kläger sind zulässig.
49
I. Die Berufung der Beklagten zu 2. ist nicht wegen Versäumung der
Berufungsbegründungsfrist nach § 124a Abs. 3 Satz 1 VwGO unzulässig.
50
Zwar ist die Berufungsbegründung erst am 2. Dezember 2004 und damit nach Ablauf
der Zwei-Monats-Frist des § 124a Abs. 3 Satz 1 VwGO eingegangen, die mit der
Zustellung des erstinstanzlichen Urteils an die Beklagte zu 1. am 30. August 2004 zu
laufen begonnen hatte. Jedoch ist der Beklagten zu 2. insoweit Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand nach § 60 Abs. 1 VwGO zu gewähren, da sie (bzw. die Beklagte zu 1. als
ihre Rechtsvorgängerin) ohne Verschulden an der Einhaltung der
Berufungsbegründungsfrist gehindert war. Der Prozessbevollmächtigte der Beklagten
zu 1. durfte aufgrund des Schreibens der Geschäftsstelle des vormals zuständigen 22.
Senats vom 5. Oktober 2004 davon ausgehen, dass die Frist entsprechend § 124a Abs.
3 Satz 3 VwGO verlängert worden war. Dass er in dem vorliegenden Verfahren - anders
als im Parallelverfahren 8 A 4096/04 - offenbar versehentlich keinen
Verlängerungsantrag gestellt hatte, ist insoweit unerheblich; denn in der
Rechtsprechung wird auch eine ohne Antrag verfügte Fristverlängerung jedenfalls dann
als wirksam erachtet, wenn sie - wie hier - vor Ablauf der Frist erfolgt ist.
51
Vgl. Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 124a Rn. 62 m.w.N.
52
Dass das Schreiben vom 5. Oktober 2004 auf einem Versehen der Geschäftsstelle und
nicht auf einer Verfügung des Senatsvorsitzenden beruhte, war für ihn nicht erkennbar.
53
II. Auch die allein zum Zweck der Klageänderung konkludent eingelegte
Anschlussberufung der Kläger ist nicht wegen Versäumung der Frist des § 127 Abs. 2
Satz 2 VwGO unzulässig.
54
Gemäß § 127 Abs. 2 Satz 2 VwGO ist die Anschlussberufung (nur) zulässig bis zum
Ablauf eines Monats nach der Zustellung der Berufungsbegründungsschrift. Der Lauf
55
der Frist setzt allerdings voraus, dass die Berufungsbegründungsschrift formgerecht
zugestellt worden ist. Mängel der Zustellung können gemäß § 56 Abs. 2 VwGO i.V.m. §
189 ZPO geheilt werden. Danach gilt ein Dokument, wenn sich seine formgerechte
Zustellung nicht nachweisen lässt oder es unter Verletzung zwingender
Zustellungsvorschriften zugegangen ist, in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem es der
Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden
konnte, tatsächlich zugegangen ist. Die Heilung einer unwirksamen Zustellung nach §
56 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 189 ZPO setzt jedoch voraus, dass das Gericht mit
Zustellungswillen gehandelt hat.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. September 1998 9 C 14.98 -, juris, Rn. 12;
Czybulka, in: Sodan/ Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 56 Rn. 84; Stöber, in:
Zöller, ZPO, 28. Aufl. 2010, § 189 Rn. 2; Wolst, in: Musielak, ZPO, 7. Aufl.
2009, § 189 Rn. 2.
56
Daran fehlt es hier. Entsprechend der Verfügung des vormals zuständigen
Berichterstatters vom 6. Dezember 2004 und des Abvermerks der vormals zuständigen
Senatsgeschäftsstelle vom gleichen Tag ist die Berufungsbegründungsschrift vom 2.
Dezember 2004 lediglich mit einfachem Schreiben und nicht mittels Zustellung an die
Prozessbevollmächtigten der Kläger zur Kenntnisnahme übersandt worden.
57
III. Dass die Kläger durch das hinsichtlich der noch streitgegenständlichen
Windkraftanlage 1 stattgebende verwaltungsgerichtliche Urteil nicht beschwert sind,
steht der Zulässigkeit der von ihnen eingelegten Anschlussberufung ebenfalls nicht
entgegen. Die Anschlussberufung setzt keine Beschwer des Anschlussberufungsführers
voraus. Entscheidend ist vielmehr, dass mit der Anschlussberufung mehr erstrebt wird
als die bloße Zurückweisung der Berufung.
58
BVerwG, Urteil vom 17. Januar 1962 - 6 C 164.59 -, DÖV 1962, 754; OVG
NRW, Urteile vom 15. März 2006 - 8 A 2672/03 -, BauR 2006, 1715 = juris,
Rn. 34, und vom 28. August 1997 15 A 3432/94 -, NWVBl. 1998, 110 = juris,
Rn. 5; Blanke, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 127 Rn. 4; M.
Redeker, in: Redeker/von Oertzen, VwGO, 14. Aufl. 2004, § 127 Rn. 3;
kritisch Meyer-Ladewig/Rudisile, in: Schoch/ Schmidt-Aßmann/Pietzner,
VwGO, Stand: November 2009, § 127 Rn. 6.
59
Das ist hier der Fall. Die Kläger streben über die Zurückweisung der Berufung hinaus
eine subjektive und objektive Klageänderung an, nämlich die Verpflichtung der
Beklagten zu 2. (anstelle der Beklagten zu 1.) zur Erteilung einer
immissionsschutzrechtlichen Genehmigung (anstelle einer Baugenehmigung). Eine
solche Klageänderung kann nach einem stattgebenden Urteil erster Instanz nur im
Wege der Anschlussberufung des obsiegenden Klägers erfolgen, weil das im
Berufungsverfahren verfolgte Klagebegehren von dem abweicht, was Gegenstand des
erstinstanzlichen Verfahrens war.
60
Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Januar 1962 - 6 C 164.59 -, DÖV 1962, 754;
OVG NRW, Urteile vom 15. März 2006 - 8 A 2672/03 -, BauR 2006, 1715 =
juris, Rn. 36, und vom 28. August 1997 15 A 3432/94 -, NWVBl. 1998, 110 =
juris, Rn. 7 f.
61
B. Die Berufung der Beklagten zu 2. ist begründet, die Anschlussberufung der Kläger
62
unbegründet.
I. Die Klage ist zulässig. Insbesondere ist sie im Berufungszulassungsverfahren
zulässigerweise geändert worden.
63
1. Die mit der Anschlussberufung vorgenommene Klageänderung mit dem Ziel der
Verpflichtung der Beklagten zu 2. zur Erteilung einer immissionsschutzrechtlichen
Genehmigung ist sachdienlich und deshalb gemäß § 91 Abs. 1 VwGO zulässig, ohne
dass es hierfür einer Einwilligung der Beklagten zu 2. bedürfte. Dies ergibt sich aus der
Übergangsvorschrift des § 67 Abs. 9 Satz 4 BImSchG in der ab dem 1. Juli 2005
geltenden Fassung des Änderungsgesetzes vom 25. Juni 2005 (BGBl. I S. 1865). Die
Übergangsvorschrift trägt dem Umstand Rechnung, dass für Windkraftanlagen mit einer
Gesamthöhe von mehr als 50 m seit dem 1. Juli 2005 eine immissionsschutzrechtliche
Genehmigung erforderlich ist, und soll Rechtsunsicherheiten in laufenden
verwaltungsgerichtlichen Verfahren, die (noch) auf die Erteilung von
Baugenehmigungen gerichtet sind, beseitigen.
64
Vgl. näher OVG NRW, Urteil vom 15. März 2006 - 8 A 2672/03 -, BauR
2006, 1715 = juris, Rn. 40.
65
2. Die Klageänderung ist auch insoweit zulässig, als neben der Verpflichtung der
Beklagten zu 2. zur Erteilung einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung die
Aufhebung der im baurechtlichen Zulassungsverfahren ergangenen ablehnenden
Bescheide der Beklagten zu 1. begehrt wird. Denn aufgrund der Umstellung der Klage
gemäß § 67 Abs. 9 Satz 4 BImSchG wird das Verfahren in dem Stadium, in dem es sich
befindet, nach Immissionsschutzrecht zu Ende geführt.
66
Vgl. BT-Drucks. 15/5443, S. 4; dazu auch OVG Rh.-Pf., Urteil vom 6. Juli
2005 - 8 A 11033/04 -, BauR 2005, 1758 = juris, Rn. 15.
67
Die Beklagte zu 2. als Immissionsschutzbehörde tritt insgesamt in das einheitliche,
bisher von der Beklagten zu 1. als Baubehörde geführte Verfahren ein.
68
Vgl. näher OVG NRW, Urteil vom 15. März 2006 - 8 A 2672/03 -, BauR
2006, 1715 = juris, Rn. 45.
69
3. Mit dem geänderten Klageantrag ist die Klage auch im Übrigen zulässig.
Insbesondere sind die Kläger trotz mehrfacher Bauherrenwechsel, zuletzt auf die SL
X1. GmbH, weiterhin prozessführungsbefugt.
70
Nach § 265 Abs. 1 ZPO, der über § 173 VwGO entsprechend auch im
Verwaltungsrechtsstreit anwendbar ist, schließt die Rechtshängigkeit das Recht der
einen oder der anderen Partei nicht aus, die im Streit befangene Sache zu veräußern
oder den geltend gemachten Anspruch abzutreten. Die Veräußerung oder Abtretung hat
auf den Prozess keinen Einfluss (§ 265 Abs. 2 Satz 1 ZPO).
71
Entsprechendes gilt für den der zivilrechtlichen Abtretung vergleichbaren Fall des
Bauherrenwechsels. Auch insoweit handelt es sich um einen Fall der gewillkürten
Rechtsnachfolge, der nichts an der Stellung der bisherigen Beteiligten ändert. Der
frühere Bauherr ist berechtigt, das Verfahren kraft der durch § 173 VwGO i.V.m. § 265
Abs. 1 ZPO gesetzlich angeordneten Prozessstandschaft für den Rechtsnachfolger
72
weiter zu betreiben. Allerdings hat er, um einer Klageabweisung vorzubeugen, seinen
Antrag auf Leistung an den Nachfolger umzustellen.
BVerwG, Urteil vom 30. Juni 2004 - 4 C 9.03 -, BVerwGE 121, 182 = juris,
Rn. 25.
73
Diesem Erfordernis haben die Kläger Rechnung getragen.
74
II. Die Klage ist aber unbegründet. Den Klägern steht der allein noch streitbefangene
Anspruch auf Erteilung einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung für die
Errichtung und den Betrieb einer Windenergieanlage des Typs Enercon E70/E 4 mit
einer Nennleistung von 2.300 kW, einer Nabenhöhe von 98,20 m und einem
Rotordurchmessen von 77 m in 46487 X. , Gemarkung C. , Flur 18, Flurstücke 250
und 251 (WEA 1), nicht zu (§ 113 Abs. 5 VwGO).
75
1. Allerdings ist - was von den Beteiligten auch nicht in Zweifel gezogen worden ist - die
Beklagte zu 2. trotz der Änderung der behördlichen Zuständigkeiten auf dem Gebiet des
Immissionsschutzrechts in Nordrhein-Westfalen durch die Zuständigkeitsverordnung
Umweltschutz (ZustVU) vom 11. Dezember 2007 (GV. NRW S. 662) gemäß der
Übergangsvorschrift des § 8 Abs. 2 i.V.m. § 6 Abs. 3 ZustVU für die Erteilung der
immissionsschutzrechtlichen Genehmigung weiterhin zuständig.
76
Vgl. dazu im Einzelnen OVG NRW, Urteil vom 28. August 2008 - 8 A
2138/06 -, NWVBl. 2009, 110 = juris, Rn. 62 ff.
77
2. Die Kläger können nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der
mündlichen Verhandlung die begehrte immissionsschutzrechtliche Genehmigung nicht
beanspruchen.
78
Rechtsgrundlage für die begehrte immissionsschutzrechtliche Genehmigung ist § 6 Abs.
1 i.V.m. § 5 BImSchG. Nach diesen Vorschriften ist die - hier nach § 4 Abs. 1 Satz 1
BImSchG i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 1 der 4. BImSchV i.V.m. Nr. 1.6 Spalte 2 des Anhangs
zur 4. BImSchV in der seit dem 1. Juli 2005 geltenden Fassung (BGBl. I S. 1687)
erforderliche - immissionsschutzrechtliche Genehmigung zu erteilen, wenn
sichergestellt ist, dass die sich aus § 5 BImSchG ergebenden Pflichten erfüllt werden
und andere öffentlich-rechtliche Vorschriften und Belange des Arbeitsschutzes der
Errichtung und dem Betrieb der Anlage nicht entgegenstehen. Zu den anderen
öffentlich-rechtlichen Vorschriften, die der Erteilung einer immissionsschutzrechtlichen
Genehmigung entgegenstehen können, gehören insbesondere die Vorschriften des
Bauplanungsrechts, aber auch die Regelungen des Natur- und Artenschutzrechts.
79
Vgl. ausführlich Scheidler, in: Feldhaus, Bundesimmissionsschutzrecht,
Kommentar, Stand: März 2010, Band 1 - Teil I, B 1(BImSchG), § 6 Rn. 62 ff.;
außerdem Dietlein, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Stand: 1. März
2010, § 6 BImSchG Rn. 30 ff., 46 f.; Jarass, BImSchG, 8. Aufl. 2010, § 6 Rn.
29 f., 32 ff.
80
Diese Genehmigungsvoraussetzungen sind hinsichtlich der noch
streitgegenständlichen Windkraftanlage (WEA 1) nicht erfüllt. Dem Vorhaben der Kläger
steht in naturschutzrechtlicher Hinsicht der Schutz des Europäischen
Vogelschutzgebiets "Unterer Niederrhein" gemäß § 34 BNatSchG in der zum 1. März
81
2010 in Kraft getretenen Neufassung durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts
des Naturschutzes und der Landschaftspflege vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2542) (im
Folgenden: BNatSchG n.F.) entgegen.
Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 BNatSchG n.F. sind Projekte (mit Ausnahme von Vorhaben
im Geltungsbereich eines qualifizierten oder in Aufstellung befindlichen
Bebauungsplans), wenn sie einzeln oder im Zusammenwirken mit anderen Projekten
oder Plänen geeignet sind, ein Natura 2000-Gebiet erheblich zu beeinträchtigen, vor
ihrer Zulassung oder Durchführung auf ihre Verträglichkeit mit den Erhaltungszielen
dieses Gebiets zu überprüfen (FFH-Verträglichkeitsprüfung). Die zur Prüfung der
Verträglichkeit erforderlichen Unterlagen hat der Projektträger vorzulegen (§ 34 Abs. 1
Satz 3 BNatSchG n.F.). Ergibt die Prüfung, dass das Projekt zu erheblichen
Beeinträchtigungen des Gebiets in seinen für die Erhaltungsziele oder den
Schutzzweck maßgeblichen Bestandteilen führen kann, ist es - vorbehaltlich einer nach
den Absätzen 3 bis 5 ausnahmsweise zulässigen Abweichung - unzulässig (§ 34 Abs. 2
BNatSchG n.F.).
82
a) Nach der hier maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten
mündlichen Verhandlung ist § 34 BNatSchG n.F. zugrundezulegen. Mit der
Neuregelung hat der Bund von seiner ihm im Zuge der Föderalismusreform auf dem
Gebiet des Naturschutzes eingeräumten konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz
Gebrauch gemacht (Art. 74 Abs. 1 Nr. 29 GG) und die bisherigen rahmenrechtlichen
Regelungen, zu denen u.a. § 34 BNatSchG a.F. gehörte, durch unmittelbar
anwendbares Bundesrecht ersetzt. Für die in Ausfüllung der bisherigen
bundesrechtlichen Rahmenregelungen erlassenen Regelungen der Länder bedeutet
dies, dass sie wegen fehlender Kompetenz insoweit nichtig sind, als die neue
bundesrechtliche Regelung - in positiver oder in negativer Hinsicht - erschöpfend ist.
Denn gemäß Art. 72 Abs. 1 GG steht den Ländern im Bereich der konkurrierenden
Gesetzgebung die Gesetzgebungsbefugnis nur zu, solange und soweit der Bund von
seiner Gesetzgebungskompetenz keinen Gebrauch gemacht hat.
83
Vgl. zu den Rechtsfolgen der Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 1 GG näher
Pieroth, in: Jarass/ Pieroth, GG, 10. Aufl. 2009, Art. 72 Rn. 11; Degenhart, in:
Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 72 Rn. 38; Stettner, in: Dreier, GG, 2. Aufl.,
Band 2, Supplementum 2007, Art. 72 Rn. 45; vgl. außerdem Berghoff/Steg,
NuR 2010, 17 ff.
84
Für die Zukunft können die Länder auf dem Gebiet des Naturschutzes allerdings im
Rahmen des Art. 72 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GG abweichende Regelungen treffen.
85
Die in Nordrhein-Westfalen bisher maßgeblichen landesrechtlichen Regelungen über
den Gebietsschutz in §§ 48 c Abs. 5, 48 d LG NRW, die die verfahrensrechtlichen und
materiell-rechtlichen Anforderungen an die Zulässigkeit von solchen Projekten und
Plänen regelten, die ein Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung oder ein
Europäisches Vogelschutzgebiet einzeln oder im Zusammenwirken mit anderen Plänen
oder Projekten erheblich beeinträchtigen können, sind durch die Neufassung des § 34
BNatSchG verdrängt worden. Eine Ausnahme besteht gemäß § 32 Abs. 4 BNatSchG
n.F. lediglich zugunsten bereits erfolgter landesrechtlicher Unterschutzstellungen von
Gebieten von gemeinschaftlicher Bedeutung und Europäischen Vogelschutzgebieten,
die ihre Gültigkeit behalten; einer - erneuten - Unterschutzstellung nach den Vorschriften
des Bundesnaturschutzgesetzes n.F. bedarf es nicht. Die Gebietsabgrenzungen sowie
86
die gebietsspezifischen Schutzzwecke des in Rede stehenden Europäischen
Vogelschutzgebiets "Unterer Niederrhein", das im Ministerialblatt vom 26. Januar 2005
(MBl. NRW S. 61) bekannt gemacht und hierdurch gemäß § 48 c Abs. 5 Satz 1 LG NRW
unter Schutz gestellt sowie durch Verordnung vom 28. April 2009 (GV. NRW S. 325)
erweitert worden ist, bestimmen sich daher weiterhin nach den vorgenommenen
landesrechtlichen Festsetzungen.
b) Ungeachtet dieser regelungstechnischen Auswirkungen der Neufassung des
Bundesnaturschutzgesetzes kann der Senat an seine bisherige, zur Auslegung und
Anwendung der §§ 48 c Abs. 5 Satz 4 Nr. 1, 48 d Abs. 4 LG NRW ergangene
Rechtsprechung,
87
vgl. OVG NRW, Urteile vom 30. Juli 2009 - 8 A 2357/08 -, juris, vom 7.
Januar 2009 - 8 A 1491/07 -, vom 13. Dezember 2007 - 8 A 2810/04 -, NuR
2008, 872, und vom 11. September 2007 - 8 A 2696/06 -, NuR 2008, 49,
88
anknüpfen, da die genannten landesrechtlichen Vorschriften inhaltlich im Wesentlichen
mit § 34 Abs. 2 BNatSchG n.F. übereinstimmen.
89
Ebenso wie die früheren landesrechtlichen Regelungen dient § 34 BNatSchG n.F. der
Umsetzung des in Art. 6 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai
1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und
Pflanzen (FFH-RL) (ABl. EG L 206, S. 7) zugunsten von Gebieten von
gemeinschaftlicher Bedeutung angeordneten Gebietsschutzes. Die Gebiete von
gemeinschaftlicher Bedeutung bilden zusammen mit den Europäischen
Vogelschutzgebieten gemäß Art. 3 Abs. 1 FFH-RL das Netz "Natura 2000" (vgl. auch §
7 Abs. 1 Nr. 8 BNatSchG n.F.). Die Europäischen Vogelschutzgebiete werden von den
Mitgliedstaaten aufgrund der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über
die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (Vogelschutzrichtlinie - VS-RL) (ABl. EG L
103, S. 1), die inzwischen durch die Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 neu kodifiziert worden ist (ABl. EG
L 20, S. 7), ausgewiesen und unterfallen ab dem Zeitpunkt ihrer Ausweisung gemäß Art.
7 FFH-RL dem Schutzregime der Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL.
90
Vgl. nur BVerwG, Urteil vom 1. April 2004 - 4 C 2.03 -, BVerwGE 120, 276 =
juris, Rn. 25.
91
Die Bewertung der Ergebnisse der nach § 34 Abs. 2 BNatSchG n.F. in Bezug auf eine
mögliche Beeinträchtigung dieser Gebiete vorzunehmenden FFH-
Verträglichkeitsuntersuchung durch die Genehmigungsbehörde unterliegt, soweit es um
die Beurteilung geht, ob das in Rede stehende Projekt zu erheblichen
Beeinträchtigungen des Gebiets in seinen für die Erhaltungsziele oder den
Schutzzweck maßgeblichen Bestandteilen führen kann, der vollen gerichtlichen
Nachprüfung.
92
BVerwG, Urteil vom 17. Januar 2007 - 9 A 20.05 -, BVerwGE 128, 1 = juris,
Rn. 38; OVG NRW, Urteile vom 13. Dezember 2007 - 8 A 2810/04 -, NuR
2008, 872 = juris, Rn. 104 f., und vom 11. September 2007 - 8 A 2696/06 -,
NuR 2008, 49 = juris, Rn. 52 f., jeweils m.w.N.
93
aa) Den Begriff des "Projekts" definiert das Bundesnaturschutzgesetz selbst nicht mehr,
94
nachdem eine frühere, in § 10 Abs. 1 Nr. 11 BNatSchG a.F. enthaltene Definition vom
Europäischen Gerichtshof als zu eng beanstandet worden war.
Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Januar 2006
95
- Rs. C 98/03 -, Slg. 2006, I-53, Rn. 41 ff.
96
Auch die FFH-Richtlinie und die Vogelschutz-Richtlinie erläutern den Begriff nicht. Nach
der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist deshalb der Projektbegriff des
Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die
Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten
(UVP-RL) (ABl. EG L 175, S. 40) maßgeblich. Danach sind die Errichtung von baulichen
oder sonstigen Anlagen sowie sonstige Eingriffe in Natur und Landschaft einschließlich
derjenigen zum Abbau von Bodenschätzen als Projekte im Sinne des Art. 6 Abs. 3 FFH-
RL und damit auch im Sinne des § 34 BNatSchG n.F. anzusehen.
97
EuGH, Urteile vom 14. Januar 2010 - Rs. C-226/08 -, Rn. 38, juris, und vom
7. September 2004 - Rs. C-127/02 -, Slg. 2004, I-7405, Rn. 23 ff.
98
bb) Mit dem zentralen Tatbestandsmerkmal der "erheblichen Beeinträchtigungen" knüpft
§ 34 Abs. 2 BNatSchG n.F. - wie bereits zuvor die landesrechtlichen Regelungen der §§
48 c Abs. 5 Satz 4 Nr. 1, 48 d Abs. 4 LG NRW - an den Wortlaut von Art. 6 Abs. 3 Satz 1
FFH-RL an. Pläne oder Projekte können im Sinne dieser gemeinschaftsrechtlichen
Norm das Gebiet erheblich beeinträchtigen, "wenn sie drohen, die für dieses Gebiet
festgelegten Erhaltungsziele zu gefährden".
99
EuGH, Urteil vom 7. September 2004 - Rs. C-127/02 -, Slg. 2004, I-7405,
Rn. 49.
100
Daraus folgt, dass Pläne oder Projekte nur dann zuzulassen sind, wenn die Gewissheit
besteht, dass diese sich nicht nachteilig auf das geschützte Gebiet als solches
auswirken. Grundsätzlich ist somit jede Beeinträchtigung von Erhaltungszielen (oder
Schutzzwecken) erheblich und muss als Beeinträchtigung des Gebiets als solchen
gewertet werden. Unerheblich dürften im Rahmen des Art. 6 Abs. 3 FFH-RL nur
Beeinträchtigungen sein, die kein Erhaltungsziel bzw. keinen Schutzzweck nachteilig
berühren. Der abweichende Vorschlag der EG-Kommission, die Erheblichkeitsschwelle
erst bei der "Vereitelung von Erhaltungszielen" oder der "Zerstörung essenzieller
Gebietsbestandteile" anzusiedeln, hat in der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs keine Resonanz gefunden.
101
Vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Januar 2007 9 A 20.05 -, BVerwGE 128, 1 =
juris Rn. 41, unter Bezugnahme auf die Schlussanträge der Generalanwältin
Kokott in der Rs. C-127/02, Slg. 2004, I-7405, Rn. 82 ff.
102
Ob ein Vorhaben nach dem so konkretisierten Prüfungsmaßstab zu "erheblichen
Beeinträchtigungen" führen kann, ist vorrangig eine naturschutzfachliche Fragestellung,
die anhand der Umstände des jeweiligen Einzelfalls beantwortet werden muss.
Prüfungsmaßstab sind nach § 34 Abs. 2 BNatSchG n.F. dabei allein die Auswirkungen
auf die für die Erhaltungsziele oder den Schutzzweck maßgeblichen
Gebietsbestandteile. Mit diesen Tatbestandsmerkmalen wird - im Einklang mit den
Vorgaben des Art. 6 Abs. 3 FFH-RL - die Verknüpfung zu dem konkreten Schutzgebiet
103
und seiner spezifischen Funktion im Rahmen des Netzes "Natura 2000" hergestellt.
BVerwG, Urteil vom 17. Januar 2007 - 9 A
104
20.05 -, BVerwGE 128, 1 = juris, Rn. 73.
105
Die Begriffsbestimmung der Erhaltungsziele ist § 7 Abs. 1 Nr. 9 BNatSchG n.F. zu
entnehmen. Danach gelten als Erhaltungsziele diejenigen Ziele, die im Hinblick auf die
Erhaltung oder Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustands eines
natürlichen Lebensraumtyps von gemeinschaftlichem Interesse oder einer in Anhang II
der FFH-RL oder in Art. 4 Abs. 2 oder Anhang I der VS-RL (die insoweit in der
Neukodifizierung durch die Richtlinie 2009/147/EG unverändert ist) aufgeführten Art für
ein Natura 2000-Gebiet festgelegt sind. Ein günstiger Erhaltungszustand muss trotz
Durchführung des Vorhabens stabil bleiben.
106
Vgl. BVerwG, Urteile vom 17. Januar 2007 - 9 A 20.05 -, BVerwGE 128, 1 =
juris, Rn. 43, und vom 12. März 2008 - 9 A 3.06 -, BVerwGE 130, 299 = juris,
Rn. 94.
107
Der Schutzzweck eines Natura 2000-Gebiets wird gemäß § 32 Abs. 3 Satz 1 BNatSchG
n.F. durch die Schutzerklärung entsprechend den jeweiligen Erhaltungszielen bestimmt.
Fehlt es an einem festgelegten Schutzzweck, sind die Erhaltungsziele bis auf weiteres
der Gebietsmeldung zu entnehmen.
108
BVerwG, Urteil vom 17. Januar 2007 - 9 A
109
20.05 -, BVerwGE 128, 1 = juris, Rn. 75.
110
Der Begriff des günstigen Erhaltungszustandes eines Lebensraumtyps bzw. einer Art
wird im Bundesnaturschutzgesetz nicht definiert. Insoweit ist auf die
Begriffsbestimmungen in Art. 1 Buchst. e) und i) FFH-RL zurückzugreifen.
111
BVerwG, Urteil vom 17. Januar 2007 - 9 A
112
20.05 -, BVerwGE 128, 1 = juris, Rn. 43.
113
Der Erhaltungszustand eines in einem FFH-Gebiet geschützten Lebensraumtyps im
Sinne des Anhangs I der FFH-RL wird gemäß Art. 1 Abs. 2 Buchst. e) 1. Anstrich FFH-
RL als günstig erachtet, wenn "sein natürliches Verbreitungsgebiet sowie die Flächen,
die er in diesem Gebiet einnimmt, beständig sind oder sich ausdehnen". Davon
ausgehend sind Vorhaben, die einen direkten Flächenverlust für einen in den
Schutzzweck der Gebietsausweisung einbezogenen Lebensraumtyp bewirken, in
besonderer Weise dazu geeignet, das Erhaltungsziel des Gebiets zu gefährden.
114
BVerwG, Urteil vom 17. Januar 2007 - 9 A 20.05 -, BVerwGE 128, 1 = juris,
Rn. 50; Halama, NVwZ 2001, 506, 510; Gellermann, NVwZ 2001, 500, 504.
115
Ob in Fällen eines direkten Flächenverlustes eine Bagatellschwelle, die den
Flächenverbrauch zu rechtfertigen vermag, anzuerkennen ist, hatte das
Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 17. Januar 2007,
116
- 9 A 20.05 -, BVerwGE 128, 1 = juris, Rn. 50 f.,
117
zunächst offen gelassen. Inzwischen hat es mit Urteil vom 12. März 2008,
118
- 9 A 3.06 -, BVerwGE 130, 299 = juris, Rn. 124,
119
entschieden, dass die Frage unter Beachtung des gemäß Art. 5 Abs. 3 EGV auch für
das Gemeinschaftsrecht geltenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, der eine
Beurteilung am Maßstab praktischer Vernunft gebiete, für solche Flächenverluste zu
bejahen ist, die lediglich Bagatellcharakter haben.
120
Eine Orientierungshilfe für die Beurteilung, ob ein direkter Flächenverlust noch
Bagatellcharakter hat, soll dabei der Endbericht zum Teil Fachkonventionen des im
Auftrag des Bundesamtes für Naturschutz durchgeführten Forschungsvorhabens
"Fachinformationssystem und Fachkonventionen zur Bestimmung der Erheblichkeit im
Rahmen der FFH-VP", Schlussstand Juni 2007 (im Folgenden FuE-Endbericht), bieten.
121
Vgl. näher BVerwG, Urteil vom 12. März 2008 9 A 3.06 -, BVerwGE 130,
299 = juris, Rn. 125. Der FuE-Endbericht ist im Internet abrufbar unter
www.tieroekologie.de/downloads/BfN-FuE_FFH-
FKV_Bericht_und_Anhang_Juni_%20 2007.pdf.
122
Beim günstigen Erhaltungszustand einer von den Erhaltungszielen bzw. dem
Schutzzweck eines Natura 2000-Gebiets umfassten Tier- oder Pflanzenart im Sinne des
Anhangs II der FFH-RL oder des Art. 4 Abs. 2 oder des Anhangs I der VS-RL geht es um
ihr Verbreitungsgebiet und ihre Populationsgröße; in beiden Bereichen soll langfristig
gesehen eine Qualitätseinbuße vermieden werden. Stressfaktoren, die von einem
Projekt ausgehen, dürfen die artspezifische Populationsdynamik keinesfalls so weit
stören, dass die Art nicht mehr "ein lebensfähiges Element des natürlichen
Lebensraumes, dem sie angehört, bildet und langfristig weiterhin bilden wird"
(1. Anstrich in Satz 2 von Art. 1 Buchst. i) FFH-RL). Die damit beschriebene Reaktions-
und Belastungsschwelle kann unter Berücksichtigung der konkreten Gegebenheiten
des Einzelfalls gewisse Einwirkungen zulassen. Diese berühren das Erhaltungsziel
nicht nachteilig, wenn es etwa um den Schutz von Tierarten geht, die sich nachweisbar
von den in Rede stehenden Beeinträchtigungen nicht stören lassen. Bei einer
entsprechenden Standortdynamik der betroffenen Tierart führt nicht jeder Verlust eines
lokalen Vorkommens oder Reviers zwangsläufig zu einer Verschlechterung des
Erhaltungszustands. Selbst eine Rückentwicklung der Population mag nicht als
Überschreitung der Reaktions- und Belastungsschwelle zu werten sein, solange sicher
davon ausgegangen werden kann, dass dies eine kurzzeitige Episode bleiben wird.
123
BVerwG, Urteil vom 17. Januar 2007 - 9 A
124
20.05 -, BVerwGE 128, 1 = juris, Rn. 45.
125
Soweit als weiteres Ziel genannt wird, dass das "natürliche Verbreitungsgebiet dieser
Art weder abnimmt noch in absehbarer Zeit vermutlich abnehmen wird" (2. Anstrich in
Satz 2 von Art. 1 Buchst. i) FFH-RL), ist auch nicht jeder Flächenverlust, den ein Natura
2000-Gebiet infolge eines Vorhabens erleidet, notwendig mit einer Abnahme des
Verbreitungsgebiets gleichzusetzen, weil der Gebietsschutz insoweit ein dynamisches
Konzept verfolgen dürfte. So ist es denkbar, dass die betroffene Art mit einer
126
Standortdynamik ausgestattet ist, die es ihr unter den gegebenen Umständen gestattet,
Flächenverluste selbst auszugleichen. Wenn auch der Erhaltung vorhandener
Habitatflächen regelmäßig Vorrang vor ihrer Verlagerung zukommt, kann in diesem Fall
durch vom Vorhabenträger geplante oder behördlich angeordnete Schutzmaßnahmen
oder im Wege der Kompensation durch die Schaffung geeigneter Ausweichhabitate der
günstige Erhaltungszustand der betroffenen Art gewährleistet werden.
BVerwG, Urteile vom 17. Januar 2007 - 9 A 20.05 -, BVerwGE 128, 1 = juris,
Rn. 45, und vom 16. März 2006 - 4 A 1075.04 -, BVerwGE 125, 116 = juris,
Rn. 573.
127
cc) Auch Projekte, die außerhalb eines Natura 2000-Gebiets realisiert werden sollen,
können nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung Anlass für eine
Verträglichkeitsprüfung nach § 34 Abs. 2 BNatSchG n.F. geben. Sie sind gleichfalls auf
ihre Vereinbarkeit mit den gebietsbezogenen Erhaltungszielen und Schutzzwecken zu
überprüfen, soweit sie geeignet sind, ein Natura 2000-Gebiet etwa durch Immissionen -
erheblich zu beeinträchtigen, also auf den geschützten Raum selbst einwirken und
Auswirkungen auf den Lebensraum in den Schutzgebieten - das "Gebiet als solches" -
haben.
128
BVerwG, Urteile vom 19. Mai 1998 - 4 A 9.97 -, BVerwGE 107, 1 = juris, Rn.
66, und vom 17. Januar 2007 - 9 A 20.05 -, BVerwGE 128, 1 = juris, Rn. 36;
OVG NRW, Urteile vom 30. Juli 2009 - 8 A 2357/08 -, juris, Rn. 118, und
vom 13. Dezember 2007 - 8 A 2810/04 -, NuR 2008, 872 = juris Rn. 74 (zur
Berücksichtigung der FFH-Verträglichkeit im Rahmen der Bauleitplanung);
Nds. OVG, Urteile vom 12. November 2008 12 LC 72/07 -, juris, Rn. 65, und
vom 24. März 2003 - 1 LB 3571/01 -, BRS 66 Nr. 14 = juris, Rn. 49; VGH
Bad.-Württ., Beschluss vom 29. November 2002 - 5 S 2312/02 -, NVwZ-RR
2003, 184 = juris, Rn. 12.
129
Dies ist die Konsequenz des raum- bzw. gebietsbezogenen Schutzkonzepts, wie es in
Art. 6 Abs. 3 Satz 2 FFH-RL zum Ausdruck kommt.
130
Im Regelfall beeinträchtigen Windenergieanlagen, die außerhalb eines Europäischen
Vogelschutzgebiets errichtet werden sollen, Gebietsbestandteile, die für dessen
Erhaltungsziele und Schutzzweck maßgebend sind, allerdings nicht mittels der von
ihnen ausgehenden Emissionen erheblich.
131
OVG NRW, Urteil vom 30. Juli 2009
132
- 8 A 2357/08 -, juris, Rn. 124.
133
Durch die Errichtung der Windenergieanlagen kann aber ein Funktionsverlust des
Schutzgebiets zu besorgen sein, etwa wenn sie die Gefahr einer möglichen
Verriegelung des Gebiets mit sich bringen,
134
vgl. OVG NRW, Urteil vom 11. September 2007 8 A 2696/06 -, NuR 2008,
49 = juris, Rn. 97 (hinsichtlich einer Beeinträchtigung innerhalb eines
Vogelschutzgebiets),
135
oder wenn sie eine Barrierewirkung dergestalt entfalten, dass die Vögel daran gehindert
136
werden, das Schutzgebiet zu erreichen oder zwischen Nahrungs- und Rastplätzen, die
sich jeweils in einem Schutzgebiet befinden, zu wechseln.
Vgl. Nds. OVG, Urteil vom 24. März 2003 1 LB 3571/01 -, BRS 66 Nr. 14 =
juris, Rn. 49.
137
Die bloße Erschwerung, das Schutzgebiet zu erreichen, kann demgegenüber nicht
genügen. Anderenfalls käme es zu einem überzogenen, der Abwägung mit anderen
geschützten Belangen kaum noch zugänglichen Gebietsschutz vor Projekten, die
ausschließlich mittelbare Auswirkungen auf den Bestand bzw. die Erhaltung der in den
Schutzgebieten geschützten Arten haben könnten.
138
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 30. Juli 2009
139
- 8 A 2357/08 -, juris, Rn. 128.
140
dd) Nach dem Wortlaut des § 34 Abs. 2 BNatSchG ist eine Verträglichkeit bereits dann
nicht gegeben, wenn das Projekt zu erheblichen Beeinträchtigungen des Gebiets in
seinen für die Erhaltungsziele oder den Schutzzweck maßgeblichen Bestandteilen
führen "kann". Der insoweit erforderliche Wahrscheinlichkeitsgrad ist dann erreicht,
wenn anhand objektiver Umstände eine derartige Beeinträchtigung nicht
ausgeschlossen werden kann.
141
Diese Anforderung des § 34 Abs. 2 BNatSchG steht mit Art. 6 Abs. 3 Satz 2 FFH-RL im
Einklang. Art. 6 Abs. 3 Satz 2 FFH-RL formuliert zwar, dass Projekte nur zugelassen
werden dürfen, wenn die zuständigen Behörden festgestellt haben, dass das Gebiet als
solches nicht beeinträchtigt wird, d.h. wenn sie Gewissheit darüber erlangt haben, dass
die Pläne oder Projekte sich nicht nachteilig auf das geschützte Gebiet als solches
auswirken.
142
Vgl. EuGH, Urteil vom 7. September 2004 Rs. C-127/02 -, Slg. 2004, I-7405,
Rn. 59.
143
In der Sache ergibt sich aus der abweichenden Formulierung jedoch kein Unterschied
zu den Anforderungen des § 34 Abs. 2 BNatSchG. Dies folgt aus dem Verständnis des
gemeinschaftsrechtlichen Vorsorgegrundsatzes, der in Art. 6 Abs. 3 FFH-RL
eingeschlossen ist.
144
Vgl. EuGH, Urteil vom 7. September 2004 Rs. C-127/02 -, Slg. 2004, I-7405,
Rn. 58 und 41; BVerwG, Urteil vom 17. Januar 2007 - 9 A 20.05 -, BVerwGE
128, 1 = juris, Rn. 58.
145
Die Vorschrift des Art. 6 Abs. 3 FFH-RL konkretisiert zusammen mit ihrem Abs. 2 das
Vorsorgeprinzip des Art. 174 Abs. 2 Satz 2 EGV für den Gebietsschutz im Rahmen von
"Natura 2000". Nach Art. 174 Abs. 2 EGV zielt die Umweltpolitik der Gemeinschaft auf
ein hohes Schutzniveau ab und beruht auf den Grundsätzen der Vorsorge und
Vorbeugung, auf dem Grundsatz, Umweltbeeinträchtigungen mit Vorrang an ihrem
Ursprung zu bekämpfen, sowie auf dem Verursacherprinzip.
146
BVerwG, Urteil vom 17. Januar 2007 9 A 20.05 -, BVerwGE 128, 1 = juris,
Rn. 58; OVG NRW, Urteil vom 13. Dezember 2007 - 8 A 2810/04 -, NuR
147
2008, 872 = juris, Rn. 123; EuGH, Urteil vom 5. Mai 1998 - Rs. C-157/96 -,
Slg. 1998, I-2211, Rn. 64.
Das gemeinschaftsrechtliche Vorsorgeprinzip verlangt nicht, die FFH-
Verträglichkeitsprüfung auf ein "Nullrisiko" auszurichten. Das wäre schon deswegen
unzulässig, weil dafür ein wissenschaftlicher Nachweis nie geführt werden könnte.
Verbleibt nach Abschluss einer FFH-Verträglichkeitsprüfung kein vernünftiger Zweifel,
dass nachteilige Auswirkungen auf das Schutzgebiet vermieden werden, ist das
Vorhaben zulässig. Rein theoretische Besorgnisse begründen von vornherein keine
Prüfungspflicht und scheiden ebenso als Grundlage für die Annahme erheblicher
Beeinträchtigungen aus, die dem Vorhaben entgegengehalten werden können.
148
BVerwG, Urteil vom 17. Januar 2007 - 9 A 20.05 -, BVerwGE 128, 1 = juris,
Rn. 60; EuGH, Urteil vom 7. September 2004 - Rs. C-127/02 -, Slg. 2004, I-
7405, Rn. 44.
149
Aus dem gemeinschaftsrechtlichen Vorsorgegrundsatz ergibt sich, dass bestehende
wissenschaftliche Unsicherheiten nach Möglichkeit auf ein Minimum reduziert werden
müssen. Dies macht die Ausschöpfung aller wissenschaftlichen Mittel und Quellen
erforderlich, bedeutet aber nicht, dass im Rahmen einer FFH-Verträglichkeitsprüfung
Forschungsaufträge zu vergeben sind, um Erkenntnislücken und methodische
Unsicherheiten der Wissenschaft zu beheben. Art. 6 Abs. 3 FFH-RL gebietet vielmehr
nur den Einsatz der besten verfügbaren wissenschaftlichen Mittel. Zur anerkannten
wissenschaftlichen Methodik gehört es in diesem Fall, die nicht innerhalb
angemessener Zeit zu schließenden Wissenslücken aufzuzeigen und ihre Relevanz für
die Befunde einzuschätzen.
150
BVerwG, Urteil vom 17. Januar 2007 - 9 A
151
20.05 -, BVerwGE 128, 1 = juris Rn. 66.
152
Daraus folgt ferner, dass für den Gang und das Ergebnis der Verträglichkeitsprüfung der
Sache nach eine Beweisregel des Inhalts gilt, dass die Behörde ein Vorhaben ohne
Rückgriff auf Art. 6 Abs. 4 FFH-RL nur dann zulassen darf, wenn sie zuvor Gewissheit
darüber erlangt hat, dass dieses sich nicht nachteilig auf das Gebiet als solches
auswirkt. Die zu fordernde Gewissheit liegt nur dann vor, wenn aus wissenschaftlicher
Sicht kein vernünftiger Zweifel daran besteht, dass solche Auswirkungen nicht auftreten
werden. In Ansehung des Vorsorgegrundsatzes ist dabei die objektive
Wahrscheinlichkeit oder die Gefahr erheblicher Beeinträchtigungen im Grundsatz nicht
anders einzustufen als die Gewissheit eines Schadens. Wenn bei einem Vorhaben
aufgrund der Vorprüfung nach Lage der Dinge ernsthaft die Besorgnis nachteiliger
Auswirkungen entstanden ist, kann dieser Verdacht nur durch eine schlüssige
naturschutzfachliche Argumentation ausgeräumt werden, mit der ein Gegenbeweis
geführt wird. Dieser Gegenbeweis misslingt zum einen, wenn die Risikoanalyse, -
prognose und -bewertung nicht den besten Stand der Wissenschaft berücksichtigt, zum
anderen aber auch dann, wenn die einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse
derzeit objektiv nicht ausreichen, jeden vernünftigen Zweifel auszuschließen, dass
erhebliche Beeinträchtigungen vermieden werden. Außerdem ist es zulässig, mit
Prognosewahrscheinlichkeiten und Schätzungen zu arbeiten; diese müssen kenntlich
gemacht und begründet werden. Ein Beispiel für eine gängige Methode dieser Art ist
auch der Analogieschluss, bei dem bei Einhaltung eines wissenschaftlichen Standards
153
bestehende Wissenslücken überbrückt werden. Zur Abschätzung der Auswirkungen des
Vorhabens auf die Erhaltungsziele des Gebiets können häufig sogenannte
Schlüsselindikatoren verwendet werden. Als Form der wissenschaftlichen Schätzung ist
ebenso eine Worst-Case-Betrachtung zulässig, die zweifelsfrei verbleibende negative
Auswirkungen des Vorhabens unterstellt; denn diese ist nichts anderes als eine in der
Wissenschaft anerkannte konservative Risikoabschätzung. Allerdings muss dadurch ein
Ergebnis erzielt werden, das hinsichtlich der untersuchten Fragestellung "auf der
sicheren Seite" liegt.
BVerwG, Urteil vom 17. Januar 2007 - 9 A 20.05 -, BVerwGE 128, 1 = juris,
Rn. 63 f.; EuGH, Urteil vom 7. September 2004 Rs. C127/02 -, Slg. 2004, I-
7405, Rn. 53 ff.
154
Derzeit nicht ausräumbare wissenschaftliche Unsicherheiten über
Wirkungszusammenhänge sind allerdings dann kein unüberwindbares
Zulassungshindernis, wenn ein vom Vorhabenträger geplantes oder behördlich
angeordnetes Schutzkonzept ein wirksames Risikomanagement entwickelt hat. Wenn
durch Schutz- und/oder Kompensationsmaßnahmen gewährleistet ist, dass ein
günstiger Erhaltungszustand der geschützten Lebensraumtypen und Arten stabil bleibt,
bewegen sich die nachteiligen Wirkungen des Vorhabens unterhalb der
Erheblichkeitsschwelle. Als wirksam können Schutz- und Kompensationsmaßnahmen
indessen nur angesehen werden, wenn sie erhebliche Beeinträchtigungen des
geschützten Gebiets nachweislich verhindern. Diesen Nachweis zu erbringen ist -
entsprechend der vorstehend dargelegten Beweisregel - Sache des Vorhabenträgers.
Sämtliche Risiken, die aus Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Maßnahmen oder
der Beurteilung ihrer langfristigen Wirksamkeit resultieren, gehen zu Lasten des
Vorhabenträgers.
155
BVerwG, Urteil vom 17. Januar 2007 - 9 A
156
20.05 -, BVerwGE 128, 1 = juris Rn. 54 ff.
157
Insbesondere für Kompensationsmaßnahmen wird der geforderte Nachweis vom
Vorhabenträger nur ausnahmsweise zu erbringen sein, da die genannten Maßnahmen
in der Regel erst deutlich verzögert wirken und ihr Erfolg selten mit einer jeden
vernünftigen Zweifel ausschließenden Sicherheit vorhergesagt werden kann.
158
BVerwG, Urteil vom 12. März 2008 - 9 A 3.06 -, BVerwGE 130, 299 = juris,
Rn. 94.
159
c) Ausgehend von diesen Maßstäben ist eine Verträglichkeit der streitbefangenen
Windkraftanlage 1 mit den Schutzzwecken des Europäischen Vogelschutzgebiets
"Unterer Niederrhein" nicht gegeben.
160
aa) Mit der Unterschutzstellung des Europäischen Vogelschutzgebiets "Unterer
Niederrhein" wurde ausweislich der Bekanntmachung (MBl. NRW 2005, S. 61) u.a. der
Schutzzweck "Erhaltung und Entwicklung der grünlandgeprägten Rheinaue sowie der
angrenzenden Niederungsflächen mit ihren naturnahen Gewässern als Durchzugs-,
Rast- und Überwinterungsgebiet insbesondere für Bläss- und Saatgans, Nonnengans"
verfolgt. Die Bekanntmachung stimmt insoweit mit den Angaben im
Standarddatenbogen überein, der der Gebietsmeldung im Jahr 2000 zugrundelag. Dort
161
wurden als Wert gebende Vogelarten in dem Gebiet u.a. die Weißwangengans (Branta
leucopsis), auch Nonnengans genannt, die zu den nach Anhang I der VS-RL besonders
geschützten Arten gehört, sowie die Blässgans (Anser albifrons) und die Saatgans
(Anser fabalis) als regelmäßig auftretende Zugvogelarten im Sinne des Art. 4 Abs. 2 VS-
RL, die hinsichtlich ihrer Vermehrungs-, Mauser- und Überwinterungsgebiete sowie
ihrer Rastplätze in den Wanderungsgebieten geschützt sind, aufgeführt. Die
Populationsgrößen dieser Gänsearten in dem Gebiet wurden in dem
Standarddatenbogen für die Nonnengans mit >2.500, für die Saatgans mit >10.000 und
für die Blässgans mit >150.000 angegeben. Dies deckt sich mit den Angaben des
Gutachters Dr. M. in der FFH-Verträglichkeitsprüfung aus Januar 2009 sowie den
Ausführungen des Sachverständigen Dr. X2. in der mündlichen Verhandlung. Der
Erhaltungszustand von Nonnengans und Saatgans wurde im Standarddatenbogen in
einer Gesamtbeurteilung jeweils mit dem (mittleren) Wert "B", derjenige der Blässgans
mit dem (besten) Wert "A" bewertet.
bb) Dass Errichtung und Betrieb der streitgegenständlichen Windkraftanlage nicht zu
erheblichen Beeinträchtigungen des Europäischen Vogelschutzgebiets "Unterer
Niederrhein" in seiner Funktion als Durchzugs-, Rast- und Überwinterungsgebiet der
geschützten arktischen Gänsearten Blässgans, Saatgans und Nonnengans führen, kann
der Senat nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung nicht mit der erforderlichen
Sicherheit feststellen.
162
(1) Der Senat vermag nicht mit der erforderlichen Gewissheit auszuschließen, dass es
durch die streitige Windkraftanlage 1 im Zusammenwirken mit einer weiteren bereits
genehmigten Windkraftanlage der Klägerin in der Ginderichswardt (WEA 4) sowie einer
dritten genehmigten (WEA 6) und einer vierten bereits errichteten Windkraftanlage
(WEA 8) im benachbarten Meerfeld zu einer Barrierewirkung dergestalt kommt, dass
sich der Flugweg der Gänse bei Pendelflügen zwischen Schlaf-, Nahrungs- und
Komfortplätzen, die sich jeweils innerhalb des Vogelschutzgebiets befinden, aufgrund
von Ausweichbewegungen verlängert und es infolge des durch den Umweg erhöhten
Energiebedarfs der Gänse zu Nahrungsengpässen und letztlich zu einer erhöhten
Sterblichkeit kommt.
163
(a) Der Gutachter Dr. M. stimmt im Ausgangspunkt mit dem Sachverständigen Dr.
X2. und dem Gutachter Dr. N2. überein, dass sich über dem Vorhabengebiet
Ginderichswardt/Meerfeld ein regelmäßig und intensiv genutzter Flugraum der
arktischen Gänse am Unteren Niederrhein befindet. Gänselebensräume bestehen aus
einem komplizierten Muster von Schlaf-, Nahrungs- und Komfortplätzen und den diese
verbindenden Flugschneisen. Auch das Europäische Vogelschutzgebiet "Unterer
Niederrhein" zeichnet sich demgemäß durch eine enge Verzahnung der Schlafplätze
mit den dazu gehörigen Nahrungs- und Komfortplätzen und Flugschneisen der
arktischen Gänse aus. Nach den Ausführungen des Gutachters Dr. N2. liegen die
bevorzugten Nahrungsflächen dabei in einem Umkreis von bis zu 5,5 km zu den
Schlafplätzen; der Gutachter Dr. M. geht von einer überwiegenden Entfernung
zwischen Schlaf- und Nahrungsplätzen von 1 bis 3 km aus. Der Flugraum über dem
Gebiet Ginderichswardt stellt nach den übereinstimmenden Angaben der genannten
Gutachter insbesondere eine wichtige Verbindung zwischen den jeweils zum
Europäischen Vogelschutzgebiet "Unterer Niederrhein" gehörenden
Gänsefunktionsräumen Bislicher Insel und Orsoyer Rheinbogen dar.
164
Ebenfalls fachlich übereinstimmend gehen die genannten Gutachter davon aus, dass
165
Windkraftanlagen für die in Rede stehenden arktischen Gänsearten grundsätzlich ein
Flughindernis darstellen. Sie werden von ihnen - ebenso wie andere höhere bauliche
Anlagen oder größere geschlossene Bebauungen - in der Regel nicht überflogen,
sondern mit einigem Abstand umflogen, und zwar - auch insoweit besteht letztlich
Übereinstimmung - unabhängig davon, ob die Gänse sich auf dem Zug mit Flughöhen
bis zu 500 m oder auf Pendelflügen zwischen Schlaf- und Nahrungsplatz mit einer
Flughöhe von maximal 100 m befinden. Der Sachverständige Dr. X2. hat in der
mündlichen Verhandlung als mögliche Ursache dieses Verhaltens angeführt, dass die
Gänse insbesondere mit Feinden aus der Luft zu rechnen haben. Obwohl Gänse
grundsätzlich sehr lernfähig sind, stellen Windkraftanlagen ebenso wie
Hochspannungsleitungen daher ein dauerhaftes Problem für sie dar. Hiervon
ausgehend nehmen die genannten Gutachter übereinstimmend an, dass die Errichtung
der streitbefangenen Windkraftanlage im Zusammenwirken mit den drei weiteren bereits
genehmigten bzw. errichteten Windkraftanlagen voraussichtlich zu einer Änderung des
Flugverhaltens der Gänse führen wird. Sie gehen davon aus, dass die Gänse die
Windkraftanlagen schon in größerer Entfernung als Hindernis wahrnehmen, im Abstand
von mehreren hundert Metern zur Windkraftanlage mit einer Richtungsänderung
reagieren und ihr horizontal ausweichen werden.
Die von den Klägern vorgelegte Stellungnahme von F. stellt diese in mehreren
wissenschaftlichen Untersuchungen - insbesondere der Arbeitsgruppe um L. an
der Universität Osnabrück, auf die sich die Einschätzung des Sachverständigen Dr.
X2. maßgeblich stützt - gewonnene Erkenntnis nicht in Frage. In der Stellungnahme
von F. wird im Kern lediglich ausgeführt, dass von den vier in Rede stehenden
Windkraftanlagen keine "hohe" Barrierewirkung ausgehe und sie letztlich ein
"überwindbares" Hindernis darstellten. Dass es zu seitlichen Ausweichbewegungen der
Gänse kommt, wird jedoch letztlich nicht in Abrede gestellt. Unabhängig davon wäre die
Stellungnahme von F. auch aus methodischen Gründen nicht geeignet, die
wissenschaftlichen Untersuchungen, auf die sich der Sachverständige Dr. X2. sowie
die Gutachter Dr. N2. und Dr. M. beziehen, zu widerlegen. Denn sie beruht auf den
Beobachtungen von lediglich 13 Zähltagen im Zeitraum Januar bis April 2010.
Ornithologische Untersuchungen über den Einfluss von Windkraftanlagen auf das
Flugverhalten von Gänsen, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, setzen jedoch
- dies haben sowohl der Sachverständige Dr. X2. als auch der Gutachter Dr. M. in
der mündlichen Verhandlung nochmals betont - mehrjährige Vorher-Nachher-
Beobachtungen sowie eine sorgfältige Dokumentation voraus. Hinzu kommt, dass die
Stellungnahme von F. die Saatgans als eine der wertgebenden Arten des Europäischen
Vogelschutzgebiets "Unterer Niederrhein" schon deshalb nicht ausreichend erfassen
konnte, weil die Saatgänse sich - wie der Sachverständige Dr. X2. in der mündlichen
Verhandlung unwidersprochen ausgeführt hat - bevorzugt in den Herbstmonaten im
Vogelschutzgebiet aufhalten und im Januar bzw. Februar größtenteils bereits wieder
weggezogen sind.
166
Auch die von den Klägern eingereichte Stellungnahme des Ingenieurbüros für
Umweltplanung T1. + S. vom 23. Juli 2010 vermag die dargestellten
wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Meideverhalten von Gänsen gegenüber
Windkraftanlagen beim Fluggeschehen nicht zu widerlegen. Die darin aufgestellte
Behauptung des Herrn Dipl.-Ing. S. , dass Windenergieanlagen keinen erkennbaren
Einfluss auf die Raumnutzung (und damit auch die Flugbewegungen) ziehender und
zwischenrastender Vögel, insbesondere nordischer Gänse, hätten, wird - wie der
Sachverständige Dr. X2. in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar dargelegt
167
hat - nicht ansatzweise wissenschaftlich belegt. Sie beruht offenbar auf den vorläufigen
Auswertungen von Radarerfassungen ziehender Vögel im Windpark Wybelsumer
Polder aus den Jahren 2008/2009; die gefertigten Radarbilder hat Herr Dipl.-Ing. S.
in der mündlichen Verhandlung vorgelegt und erläutert. Diese Untersuchung hält in der
vorgelegten Form wissenschaftlichen Anforderungen nicht stand. Zum einen handelt es
sich lediglich um die Auswertung von Radarerfassungen aus zwei Jahren. Wie bereits
dargelegt, setzt eine wissenschaftlichen Anforderungen genügende ornithologische
Untersuchung jedoch mehrjährige Vorher-Nachher-Beobachtungen voraus, die zudem
sorgfältig dokumentiert werden müssen. Anderenfalls ist eine Überprüfung der
gewonnenen Erkenntnisse im Rahmen weiterer wissenschaftlicher Untersuchungen
bzw. eine fundierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den gewonnenen
Erkenntnissen nicht möglich. Hinzu kommt, dass die durchgeführte Radarerfassung
nicht zwischen den insgesamt etwa 100 beobachteten Vogelarten differenziert.
Verallgemeinerungsfähige wissenschaftliche Erkenntnisse, die über die erfassten
Einzelbeobachtungen im Windpark Wybelsumer Polder hinausgehen und für den
vorliegend zu beurteilenden Sachverhalt von Bedeutung sein könnten, vermag die
Stellungnahme des Ingenieurbüros T1. + S. daher nicht zu liefern.
Uneinigkeit besteht demnach zwischen dem Gutachter Dr. M. und dem
Sachverständigen Dr. X2. lediglich über den voraussichtlichen Umfang der
horizontalen Ausweichbewegungen. Der Sachverständige Dr. X2. verweist insoweit
auf wissenschaftliche Untersuchungen der Arbeitsgruppe um L. , bei denen
Änderungen der Flugrouten von bis zu 90° festgestellt worden sind. Demgegenüber
nimmt der Gutachter Dr. M. an, dass sich die Ausweichbewegungen der Gänse im
vorliegenden Fall wegen der Abstände der einzelnen Windkraftanlagen zueinander von
1 bis 1,2 km in Grenzen halten werden; er schätzt sie auf eine Größenordnung von 100
bis 500 m. Unabhängig davon, dass diese Einschätzung nicht in einer Weise
wissenschaftlich abgesichert ist, die die Ergebnisse der wissenschaftlichen
Untersuchungen der Arbeitsgruppe um L. in Zweifel ziehen könnte, kommt es auf
den genauen Umfang der horizontalen Ausweichbewegungen letztlich nicht
entscheidend an. Denn nach der nachvollziehbaren - Stellungnahme des
Sachverständigen Dr. X2. vom 9. Juli 2009 können bereits Ausweichbewegungen in
einer Größenordnung bis 500 m, wie sie auch der Gutachter Dr. M. für möglich hält,
ausreichen, um energetischen Stress bei den Gänsen hervorzurufen.
168
Der Sachverständige Dr. X2. hat in der mündlichen Verhandlung in Übereinstimmung
mit seiner schriftlichen Stellungnahme vom 9. Juli 2009 sowie in Übereinstimmung mit
den Ausführungen des Gutachters Dr. N2. im Vermerk der Biologischen Station im
Kreis X. e.V. vom 31. Januar 2005 erläutert, dass das Umfliegen der Windkraftanlagen
zu einer Verlängerung der Flugstrecken zwischen Schlaf-, Nahrungs- und
Komfortplätzen der Gänse führt. Eine Verlängerung der Flugstrecken zieht einen
erhöhten Energie- und damit einen erhöhten Nahrungsbedarf der Gänse nach sich, den
diese - da es Grenzen der täglichen Nahrungsaufnahme gibt - möglicherweise nicht
mehr befriedigen können. Dies wiederum kann zu Konditionsverlusten und einer
Schwächung der Gänse und damit - insbesondere in strengen Wintern - letztlich zu
einer erhöhten Wintermortalität führen. Besonders gefährdet sind dabei die jüngeren
und unerfahrenen Gänse, zumal für sie das zusätzliche Risiko besteht, dass die
Gänsefamilien beim Umfliegen der Windkraftanlagen auseinandergerissen und jüngere
Tiere von ihren Familien getrennt werden.
169
Dieser nachvollziehbar begründeten Besorgnis des Sachverständigen Dr. X2. sind
170
die Kläger nicht mit gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen entgegengetreten.
Eine Beeinträchtigung des Europäischen Vogelschutzgebiets "Unterer Niederrhein" in
seiner Funktion als Schlaf- und Nahrungshabitat der arktischen Gänse durch eine von
der Errichtung einer (weiteren) Windkraftanlage im außerhalb des Schutzgebiets
gelegenen - Vorhabengebiet Ginderichswardt ausgehende Barrierewirkung, die zu einer
Störung des Flugverhaltens der Gänse beim Pendeln zwischen - jeweils innerhalb des
Schutzgebiets befindlichen Schlaf-, Nahrungs- und Komfortflächen mit den näher
dargestellten negativen Auswirkungen auf die Populationsgröße führen kann, kann
nach dem derzeitigen Forschungsstand mithin nicht mit der erforderlichen Gewissheit
ausgeschlossen werden.
(b) Diese Beeinträchtigung ist nach Einschätzung des Senats auch als erheblich im
Sinne des § 34 Abs. 2 BNatSchG n.F. anzusehen. Denn es bestehen keine hinreichend
wissenschaftlich abgesicherten Anhaltspunkte dafür, dass sich das Risiko einer
erhöhten Sterblichkeit infolge von Nahrungsengpässen nur bei einigen wenigen
Einzelexemplaren der geschützten arktischen Gänsearten realisieren wird. Schutz- oder
Kompensationsmaßnahmen, die geeignet wären, diese Beeinträchtigung mit der
erforderlichen Gewissheit unter die Erheblichkeitsschwelle zu senken, sind ebenfalls
nicht ersichtlich. Insbesondere ein begleitendes Monitoring kommt insoweit nicht in
Betracht, da es selbst keinen Schutz gegen die von der Anlage ausgehenden Gefahren
bietet.
171
(2) Der Senat vermag daneben - ohne dass es hierauf entscheidungstragend noch
ankäme - auch nicht mit der erforderlichen Gewissheit auszuschließen, dass es durch
die Errichtung und den Betrieb der streitgegenständlichen Windkraftanlage 1 in einer
Entfernung von etwa 300 m zum Europäischen Vogelschutzgebiet "Unterer Niederrhein"
zu einer Beeinträchtigung des Gebiets in seiner Funktion als Nahrungshabitat der
arktischen Gänse kommt, indem die Gänse die Windkraftanlage in einem in das
Schutzgebiet hineinragenden Umkreis von bis zu 600 m vollständig oder teilweise
meiden.
172
(a) Der Sachverständige Dr. X2. und der Gutachter Dr. N2. haben in ihren
schriftlichen Stellungnahmen nachvollziehbar dargelegt, dass die arktischen
Gänsearten gegenüber Windkraftanlagen als empfindlich gelten und beim Rasten und
Äsen ein Meideverhalten gegenüber Windkraftanlagen an den Tag legen. Der
Sachverständige Dr. X2. hat in der mündlichen Verhandlung erläutert, dass er sich
hierbei insbesondere auf die Untersuchungen der Arbeitsgruppe um L. im
Rheiderland stütze. Auch der Gutachter Dr. M. geht im Grundsatz von einem
Meideverhalten der arktischen Gänse gegenüber Windkraftanlagen beim Äsen aus.
173
Die von den Klägern vorgelegten Stellungnahmen von F. sowie des Ingenieurbüros für
Umweltplanung T1. + S. sind nicht geeignet, die genannten wissenschaftlichen
Untersuchungen zu widerlegen. Dies ergibt sich bereits daraus, dass es sich bei beiden
Stellungnahmen - wie ausgeführt - nicht um wissenschaftlichen Anforderungen
genügende Untersuchungen handelt. Insbesondere die Stellungnahme des
Ingenieurbüros T1. + S. enthält keine wissenschaftlich abgesicherten und
dokumentierten Daten, die die aufgestellte Behauptung, Windkraftanlagen hätten keine
relevanten Auswirkungen auf die Raumnutzung durch nordische Gänse, belegen
könnten. Die der Stellungnahme beigefügte Karte zur Rastvogelkartierung bezieht sich
nur auf den Zeitraum 2009/2010. Dass bei der offenbar durchgeführten Untersuchung
auf Gänsekot im Windpark Neermoor eine Vorher-Nachher-Untersuchung durchgeführt
174
worden wäre, lässt sich der Stellungnahme ebenfalls nicht entnehmen. Ohne eine
mehrjährige Vorher-Nachher-Untersuchung können jedoch keine wissenschaftlich
belastbaren Ergebnisse gewonnen werden. Abgesehen davon legt die Stellungnahme
nicht dar, inwieweit aus der Gänsekot-Untersuchung Rückschlüsse auf das
Äsungsverhalten der Gänse gezogen werden können. Unklar bleibt zudem, ob die
Gänsekot-Untersuchung nur im Umfeld der Windkraftanlage 8 oder im Umfeld
sämtlicher Windkraftanlagen des Untersuchungsgebiets stattgefunden hat.
Soweit in der Stellungnahme von F. neben den Untersuchungen der Arbeitsgruppe um
L. weitere wissenschaftliche Untersuchungen referiert werden, gehen diese
sämtlich von einem Meideverhalten der arktischen Gänse beim Äsen aus. Uneinigkeit
besteht lediglich über den Umfang des Meideverhaltens.
175
Nach den Untersuchungen der Arbeitsgruppe um L. , auf die sich der
Sachverständige Dr. X2. und der Gutachter Dr. N2. stützen, meiden die arktischen
Gänse beim Äsen einen Bereich von 400 m um Windkraftanlagen erheblich bis
vollständig und den anschließenden Bereich bis 600 m noch zu 50 %. Der Gutachter Dr.
M. verweist auf eine Studie aus der Niederlausitz, wonach rastende arktische Gänse
einen Abstand von mindestens 350 bis 400 m zu Windkraftanlagen einhalten. Die in der
Stellungnahme von F. referierten weiteren wissenschaftlichen Untersuchungen gehen
von einem Meideradius zwischen 200 m und 600 m aus.
176
Soweit der Gutachter Dr. M. gleichwohl der Ansicht ist, die in den genannten
wissenschaftlichen Untersuchungen im Rheiderland und der Niederlausitz gewonnenen
Erkenntnisse seien auf das Verhalten der Gänse im Europäischen Vogelschutzgebiet
"Unterer Niederrhein" nicht übertragbar, und den hier auftretenden indirekten Verlust an
Nahrungsfläche um eine Windkraftanlage auf einen Radius von lediglich 100 m schätzt,
hat er dies nicht durch hinreichend gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse belegen
können. Der Gutachter Dr. M. zieht aus dem - unstreitigen - Umstand, dass die
Fluchtdistanz der Gänse gegenüber Menschen infolge der fehlenden Bejagung am
Niederrhein auf 30 bis 100 m gesunken ist, die Schlussfolgerung, dass
Windkraftanlagen ihre Störwirkung in vergleichbarem Umfang verlieren. Zum Beleg
beruft er sich auf die Datenerhebung der Landwirtschaftskammer Nordrhein-Westfalen,
Kreisstelle X. , zu den Gänsefraßschäden in den Windvorrangzonen Obermörmter
und Alpen/Veen. Danach hätten die Gänsefraßschäden um die Windkraftanlagen in
diesen Gebieten nur im ersten Jahr nach deren Errichtung abgenommen und seien
sodann wieder auf das ursprüngliche Niveau angestiegen. Auch Videoaufnahmen eines
ortsansässigen Landwirts aus den Jahren 2003 bis 2008 zeigten, dass große
Gänseschwärme sehr nahe an den Windkraftanlagen in der Zone Alpen/Veen rasteten.
Belegt werde die Annahme eines geringeren Meideverhaltens ferner durch
Gänsezählungen, die das Naturschutzzentrum im Kreis L. in den Jahren 1993 bis 2006
im Grietherbusch-Komplex, dem zweitwichtigsten Äsungsgebiet im Europäischen
Vogelschutzgebiet "Unterer Niederrhein", durchgeführt habe. Danach seien die um zwei
in den Jahren 1999 und 2000 errichtete Windkraftanlagen gelegenen Feldparzellen vor
und nach Errichtung der Windkraftanlagen von den Gänsen in ähnlichem Umfang
genutzt worden.
177
Der Sachverständige Dr. X2. tritt diesen Einschätzungen des Gutachters Dr. M. mit
nachvollziehbaren Argumenten entgegen. Er hält die Datenerhebungen der
Landwirtschaftskammer Nordrhein-Westfalen sowie des Naturschutzzentrums L.
aufgrund fehlender Abstandsanalysen nicht für geeignet, die wissenschaftlichen
178
Untersuchungen aus dem Rheiderland zu entkräften oder zu relativieren. Dies erscheint
dem Senat plausibel, da sich insbesondere aus den vorgelegten Zählkarten betreffend
den Grietherbusch-Komplex nicht ergibt, in welchem Abstand zu den Windkraftanlagen
sich die Gänse aufgehalten haben. Im Ergebnis räumt auch der Gutachter Dr. M. ein,
dass die bei der Gänsezählung betrachteten Flächen sehr groß abgegrenzt gewesen
und die gewonnenen Daten daher für eine detaillierte Analyse zu grob seien. Die
Videoaufzeichnungen des in der Nähe der Windvorrangzone Alpen /Veen ansässigen
Landwirts können nach Ansicht des Sachverständigen Dr. X2. die im Rheiderland
gewonnenen Erkenntnisse ebenfalls nicht widerlegen; denn auch bei nachgewiesenem
allgemeinem Meideverhalten sind immer Einzelbeobachtungen von Tieren möglich, die
nur ein geringes Meideverhalten gegenüber Windkraftanlagen zeigen. Dies ist für den
Senat ebenfalls nachvollziehbar.
Zwar hält der Sachverständige Dr. X2. es auch für plausibel, dass sich - wie vom
Gutachter Dr. M. angenommen - aufgrund der Jagdverschonung am Niederrhein
insgesamt eine höhere Vertrautheit der Gänse gegenüber lebensraumfremden
Strukturen, zu denen auch Windkraftanlagen zählen, entwickeln könne. Ob infolge der
Jagdverschonung das Meideverhalten gegenüber Windkraftanlagen beim Äsen auf
Dauer und saisonunabhängig maßgeblich reduziert werde, sei jedoch bislang nicht
wissenschaftlich untersucht. Zu berücksichtigen sei in diesem Zusammenhang, dass
sich das Meideverhalten der Gänse saisonal ändere. So seien die Gänse im Herbst, in
der Zeit nach ihrer Ankunft im Überwinterungsgebiet, deutlich scheuer und vorsichtiger
als zu späteren Zeiten ihres Aufenthaltes. Hinzu komme, dass der Untere Niederrhein
nicht nur "Langzeit-Aufenthaltsraum" überwinternder nordischer Wildgänse sei, sondern
eine wichtige Verteilerrolle im winterlichen Zuggeschehen der Wildgänse im gesamten
nordwestlichen Mitteleuropa erfülle. Neben Tieren, die länger am Unteren Niederrhein
blieben und sich an Fremdstrukturen adaptieren könnten, kämen daher auch immer
wieder neue Gänsegruppen, die in diesem Sinne noch nicht adaptiert seien. Schließlich
könne eine im Verlauf des Winters auftretende Nahrungsknappheit an störungsarmen
Nahrungsflächen ebenfalls zu einer Änderung des Meideverhaltens führen. Entgegen
der Auffassung des Gutachters Dr. M. könne eine Annäherung der Gänse an
Störungsquellen daher nicht einfach auf den Lernprozess der Gewöhnung zurückgeführt
werden.
179
Gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse, die es dem Senat erlauben würden, mit der
erforderlichen Gewissheit von einem Meideradius von weniger als 300 m auszugehen,
bei dem ein indirekter Verlust an Nahrungsfläche innerhalb des Vogelschutzgebiets mit
Blick auf den Abstand der streitigen Windkraftanlage zum Vogelschutzgebiet von etwa
300 m nicht droht, liegen nach alledem (bislang) nicht vor. Um auf der sicheren Seite zu
liegen, ist angesichts der divergierenden wissenschaftlichen Untersuchungen zum
Umfang des Meideverhaltens, von denen namentlich diejenigen der Arbeitsgruppe um
L. aus den Jahren 1999 bis 2002 nach Angaben des Sachverständigen Dr. X2.
nicht als überholt angesehen werden können, bei der Beurteilung, ob die Errichtung und
der Betrieb der streitbefangenen Windkraftanlage zu einer erheblichen Beeinträchtigung
des Europäischen Vogelschutzgebiets "Unterer Niederrhein" führt, daher im Rahmen
einer Worst-Case-Betrachtung von einer nahezu vollständigen Meidung im Umkreis bis
400 m sowie einer Meidung zu 50 % in einem weiteren Umkreis bis 600 m auszugehen.
Wie der Sachverständige Dr. X2. in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat,
betrifft dies - bezogen auf die streitbefangene Windkraftanlage - eine in das
Vogelschutzgebiet hineinragende Fläche von 18,8 ha.
180
(b) Diesen - nicht mit der erforderlichen Gewissheit auszuschließenden - indirekten
Verlust an Nahrungsfläche beurteilt der Senat im Hinblick auf den Erhalt und die
Verbreitung der geschützten Gänsearten auch als erheblich im Sinne des § 34 Abs. 2
BNatSchG n.F. Er stützt sich hierbei maßgeblich auf die naturschutzfachliche
Einschätzung des Sachverständigen Dr. X2. . Dieser hat in der mündlichen
Verhandlung ausgeführt, im Grundsatz sei jeder Flächenverlust innerhalb des
Europäischen Vogelschutzgebiets "Unterer Niederrhein" erheblich, da von den vielen
Nahrungsflächen, die die Gänse in Anspruch nehmen, nur die geeignetsten Flächen
überhaupt unter Schutz gestellt worden sind. Insbesondere in strengen Wintern, in
denen die Nahrungssuche für die Gänse deutlich schwieriger sei, müssten den Gänsen
alle geeigneten Flächen zur Verfügung stehen. Hinsichtlich des in Rede stehenden
Bereichs des Vogelschutzgebiets westlich der streitbefangenen Windkraftanlage 1 sei
zudem zu berücksichtigen, dass die betroffenen Flächen im Rahmen der Erweiterung
des Schutzgebiets gerade wegen ihrer besonderen Eignung und Nutzung als
Nahrungsflächen der Saatgans hinzugenommen worden seien.
181
Mit Blick auf diese nachvollziehbaren sachverständigen Ausführungen kommt der
Ansatz einer Bagatellschwelle, wie sie das Bundesverwaltungsgericht in Fällen eines
direkten Flächenverlusts von Lebensraumtypen annimmt, im vorliegenden Fall nach
Auffassung des Senats nicht in Betracht. Nach welchen Kriterien eine Bagatellgrenze
bei einem indirekten Verlust von Habitatflächen geschützter Arten überhaupt bemessen
werden könnte, kann daher offen bleiben. Hinsichtlich der in Rede stehenden arktischen
Gänsearten liefert der vom Bundesverwaltungsgericht als Orientierungshilfe
herangezogene FuE-Endbericht keine Anhaltspunkte. Zwar enthält der FuE-Endbericht
nicht nur Vorschläge zur Beurteilung der Erheblichkeit bei direktem Flächenentzug in
Lebensraumtypen nach Anhang I der FFH-RL, sondern auch bei direktem
Flächenentzug in Habitaten der in Natura 2000-Gebieten geschützten Tierarten. Jedoch
beziehen sich die insoweit angegebenen Orientierungswerte primär auf den
Lebensraum der Tiere während der Brutzeit und nicht auf Rastgebiete von Zugvögeln.
Hinzu kommt, dass sich der FuE-Endbericht zu den Gänsearten Blässgans und
Saatgans überhaupt nicht verhält, da sie in dem zugrundeliegenden
Forschungsvorhaben nicht untersucht worden sind. Unabhängig davon erscheint
fraglich, ob das im FuE-Endbericht - allerdings nur als ergänzender Orientierungswert -
genannte 1 %-Kriterium in Bezug auf die Fläche des gesamten Europäischen
Vogelschutzgebiets "Unterer Niederrhein" von 25.809 ha oder - wozu der Senat neigt -
nur in Bezug auf einen Teilausschnitt des Gebiets - vorliegend die funktionelle
(Unter)Einheit etwa im Bereich zwischen Bislicher Insel und Orsoyer Rheinbogen -
angewendet werden könnte. Mit Blick auf die überzeugende naturschutzfachliche
Einschätzung des Sachverständigen Dr. X2. zur Beurteilung der Erheblichkeit im
vorliegenden Fall braucht der Senat die aufgeworfenen Fragen indessen nicht zu
beantworten.
182
Auf den Einwand der Kläger, aufgrund der Nähe zur Straße K 22 sei ohnehin nicht der
gesamte, in einem Radius von 600 m zur streitbefangenen Windkraftanlage 1 in das
Vogelschutzgebiet hineinragende Bereich als Nahrungsfläche der arktischen Gänse
geeignet, kommt es vor diesem Hintergrund ebenfalls nicht an.
183
Schutz- oder Kompensationsmaßnahmen, die geeignet wären, die in dem nicht
auszuschließenden indirekten Verlust an Nahrungsfläche liegende Beeinträchtigung
des Vogelschutzgebiets in seiner Funktion als Nahrungshabitat der arktischen Gänse
mit der erforderlichen Gewissheit unter die Erheblichkeitsschwelle zu senken, sind nicht
184
ersichtlich. Insbesondere fehlt es - nicht zuletzt deshalb, weil gerade die für die Gänse
geeignetsten Flächen in den Bereich des Vogelschutzgebiets einbezogen worden sind -
an möglichen Kompensationsflächen.
(c) Eine gewisse Stütze findet die Einschätzung des Senats, dass aufgrund der Nähe
des Standortes der geplanten Windkraftanlage 1 zum Europäischen Vogelschutzgebiet
"Unterer Niederrhein" ein als erheblich einzustufender indirekter Verlust an
Nahrungsfläche innerhalb des Schutzgebiets droht, schließlich in den wenngleich auf
die Planungsebene ausgerichteten und das Gericht nicht bindenden - Empfehlungen in
Windkrafterlassen und anderen auf fachkundigen Stellungnahmen beruhenden
Verwaltungsanweisungen zu Schutzabständen.
185
Vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 30. Juli 2009
186
- 8 A 2357/08 -, juris, Rn. 135.
187
Nach Nr. 8.1.4 des Gemeinsamen Runderlasses des Ministeriums für Bauen und
Verkehr - VI A 1 - 901.3/202 -, des Ministeriums für Umwelt und Naturschutz,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz - VII 8 - 30.04.04 - und des Ministeriums für
Wirtschaft, Mittelstand und Energie - IV A 3-00.19 - vom 21. Oktober 2005 (Grundsätze
für Planung und Genehmigung vom Windenergieanlagen - WKA-Erlass -) (MBl. NRW S.
1288) sollen die Abstände zwischen naturschutzrechtlich bedeutsamen Gebieten und
dem nächstgelegenen Punkt der Rotorflächen (Rotorblattspitze) der Windkraftanlage bei
FFH-Gebieten 200 m und bei Europäischen Vogelschutzgebieten 500 m betragen. Auch
die "Hinweise zur Berücksichtigung des Naturschutzes und der Landschaftspflege
sowie zur Durchführung der Umweltprüfung und Umweltverträglichkeitsprüfung bei
Standortplanung und Zulassung von Windenergieanlagen (Stand: Juli 2007)" des
Niedersächsischen Landkreistages empfehlen allgemein (vgl. Nr. 4.1) einen Abstand
von 500 m zu Gebieten des Europäischen ökologischen Netzes "Natura 2000", soweit
sie zum Schutz von Vogel- und Fledermausarten erforderlich sind. Die
"Tierökologischen Abstandskriterien für die Errichtung von Windenergieanlagen in
Brandenburg" vom 1. Juni 2003 befürworten darüber hinaus gehend für Europäische
Vogelschutzgebiete (vgl. Nr. 2.2) - und auch für FFH-Gebiete (vgl. Nr. 2.3) - einen
Schutzabstand von 1000 m ab der Grenze des jeweiligen Gebietes.
188
Diese empfohlenen Schutzabstände werden durch die streitgegenständliche
Windkraftanlage, deren Standort etwa 300 m vom Europäischen Vogelschutzgebiet
"Unterer Niederrhein" entfernt liegt, unterschritten.
189
(3) Nach dem vorstehend dargelegten Ergebnis der Beweisaufnahme bestand kein
Anlass, dem hilfsweise gestellten Beweisantrag der Kläger zu entsprechen.
190
Der Hilfsbeweisantrag zielt auf die Einholung eines weiteren ornithologischen
Sachverständigengutachtens zu der Frage, ob die Errichtung und der Betrieb der
streitgegenständlichen Windkraftanlage 1 zu einem Verlust von Äsungsflächen, zu einer
Beeinträchtigung von Flugwegen zwischen Funktionszentren oder zu einer relevanten
Erhöhung des Tötungsrisikos geschützter nordischer Gänsearten im Vogelschutzgebiet
"Unterer Niederrhein" führen. Der Einholung eines weiteren
Sachverständigengutachtens zu dieser Frage bedarf es indessen nicht, weil die im
Verfahren bereits gewonnenen Ermittlungsergebnisse eine hinreichende Grundlage für
die rechtliche Beurteilung des Falles bilden.
191
Der Sachverständige Dr. X2. hat in der mündlichen Verhandlung zu den
entscheidungserheblichen Fragen umfassend Stellung genommen. In diesem
mündlichen Gutachten,
192
zum Begriff des Gutachtens vgl. Zimmermann, in: Münchener Kommentar
zur Zivilprozessordnung, Band 1, 3. Aufl. 2008, § 402 Rn. 2 und § 411 Rn. 3,
193
hat er sich seine zuvor im Rahmen des immissionsschutzrechtlichen
Genehmigungsverfahrens bereits abgegebene fachliche Stellungnahme in seiner
Eigenschaft als gerichtlicher Sachverständiger zu Eigen gemacht und diese ergänzend
erläutert.
194
Die Entscheidung darüber, ob ein weiteres Gutachten eingeholt werden soll, steht im
Rahmen der freien Beweiswürdigung (§ 108 Abs. 1 VwGO) im pflichtgemäßen
Ermessen des Gerichts. Reicht ein bereits eingereichtes Gutachten aus, um das Gericht
in die Lage zu versetzen, die entscheidungserheblichen Fragen sachkundig beurteilen
zu können, ist die Einholung eines weiteren Gutachtens oder "Obergutachtens" weder
notwendig noch veranlasst.
195
Vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. Februar 1999 9 B 381.98 -, DVBl. 1999,
1206 = juris, Rn. 6, und Urteil vom 6. Februar 1985 8 C 15.84 -, BVerwGE
71, 38 = juris, Rn. 16.
196
In Anlehnung an § 244 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 StPO bedarf es der Einholung eines
weiteren Gutachtens hingegen dann, wenn die Sachkunde des früheren Gutachters
zweifelhaft ist, wenn sein Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen
ausgeht, wenn das Gutachten Widersprüche enthält oder wenn ein neuer
Sachverständiger über Forschungsmittel verfügt, die denen des früheren Gutachters
überlegen erscheinen. Entsprechendes gilt, wenn die Schlussfolgerungen des ersten
Gutachters schlüssig in Frage gestellt worden sind.
197
Vgl. Rixen, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 86 Rn. 107 m.w.N.
198
Anhaltspunkte dafür haben die Kläger nicht dargelegt. Sie sind auch sonst nicht
ersichtlich. Die Sachkunde des Gutachters Dr. X2. steht - ebenso wie die des von der
Klägerseite hinzugezogenen Gutachters Dr. M. - nicht in Frage. Es deutet auch nichts
darauf hin, dass das Gutachten des Dr. X2. auf unzutreffenden tatsächlichen
Annahmen beruht. Dem Vorbringen der Kläger sind keine Hinweise darauf zu
entnehmen, dass die Einholung eines weiteren Gutachtens geeignet sein könnte, die
von Dr. X2. nachvollziehbar aufgezeigten Zweifel an der Verträglichkeit des
streitbefangenen Vorhabens mit den Erhaltungszielen und Schutzzwecken des
Europäischen Vogelschutzgebiets "Unterer Niederrhein" auszuräumen. Es ist weder
dargelegt noch erkennbar, dass ein weiterer Sachverständiger wesentliche neue
Erkenntnisse beitragen oder unter Anwendung anderer oder neuerer Methoden zu
anderen Ergebnissen gelangen würde, zumal wissenschaftlich belastbare Erkenntnisse
ohnehin erst nach einer mehrjährigen Vorher-Nachher-Untersuchung vorliegen könnten.
199
dd) Anhaltspunkte dafür, dass das Vorhaben der Kläger nach § 34 Abs. 3 und 4
BNatSchG n.F. zugelassen werden könnte, sind weder geltend gemacht noch sonst
ersichtlich.
200
ee) Einer Berücksichtigung der vorstehend beschriebenen möglichen
Beeinträchtigungen des Europäischen Vogelschutzgebiets "Unterer Niederrhein" im
Sinne des § 34 Abs. 2 BNatSchG n.F. steht schließlich nicht entgegen, dass die
streitgegenständliche Windkraftanlage in einem Bereich errichtet werden soll, der in der
1. Ergänzung des Flächennutzungsplans der Stadt X. als Konzentrationszone für die
Windenergienutzung dargestellt ist. Die Ausweisung von Vorrangzonen für Vorhaben im
Sinne des § 35 Abs. 1 Nr. 2 bis 6 BauGB durch Darstellungen im Flächennutzungsplan
hat gemäß § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB zwar zur Folge, dass derartige Vorhaben
außerhalb solcher Vorrangzonen in der Regel bauplanungsrechtlich unzulässig sind.
Umgekehrt bedeutet die Ausweisung einer Vorrangzone jedoch nicht, dass die
entsprechenden Vorhaben dort ohne weitere Prüfung zugelassen werden müssten.
201
Vgl. Dürr, in: Brügelmann, BauGB, Stand: Januar 2010, § 35 Rn. 107a.
202
Die naturschutzrechtliche Regelung des § 34 Abs. 2 BNatSchG n.F. ist mithin als
entgegenstehende öffentlich-rechtliche Vorschrift im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 2
BImSchG zu beachten.
203
Ob die in Rede stehende Darstellung im Flächennutzungsplan der Stadt X. überhaupt
(noch) wirksam ist, bedarf vor diesem Hintergrund keiner Beurteilung.
204
ff) Über den von der Beklagten zu 2. hilfsweise begehrten Schriftsatznachlass (§ 173
VwGO i.V.m. § 283 Satz 1 ZPO) brauchte der Senat nach alledem nicht zu entscheiden,
da der auf Abänderung des erstinstanzlichen Urteils und Abweisung der noch
anhängigen Klage gerichtete Hauptantrag der Beklagten zu 2. Erfolg hat.
205
Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des erledigten Teils auf § 161 Abs. 2 Satz 1
VwGO, hinsichtlich des zurückgenommenen Teils auf § 155 Abs. 2 VwGO und im
Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO.
206
Hinsichtlich des übereinstimmend für erledigt erklärten Teils hat das Gericht gemäß §
161 Abs. 2 Satz 1 VwGO nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des
bisherigen Sach- und Streitstandes über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden.
Vorliegend entspricht es billigem Ermessen, die Kosten des Verfahrens beider
Rechtszüge den Klägern und der Beklagten zu 2. jeweils zur Hälfte aufzuerlegen,
soweit die Klage mit dem Hauptantrag nach der - zulässigen - Klageänderung in der
Berufungsinstanz auf die Verpflichtung der Beklagten zu 2. zur Erteilung einer
immissionsschutzrechtlichen Genehmigung für die Errichtung und den Betrieb der
Windkraftanlage 4 gerichtet war. Dabei berücksichtigt der Senat einerseits, dass die
Beklagte zu 2. die Kläger mit der Erteilung der immissionsschutzrechtlichen
Genehmigung vom 13. November 2009 im Kern klaglos gestellt hat. Gleichwohl hält er
eine Kostenbeteiligung der Kläger für angemessen, da bei der im Rahmen der zu
treffenden Kostenentscheidung nur noch möglichen summarischen Prüfung nicht
entschieden werden kann, ob die Windkraftanlage 4 auch ohne die von den Klägern im
immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren vorgenommene
Standortverschiebung um etwa 30 m nach Nordosten genehmigungsfähig gewesen
wäre. Dass die Beklagte zu 2. vor der in der Berufungsinstanz erklärten Klageänderung
nicht Verfahrensbeteiligte war, führt - entgegen ihrer Auffassung - zu keiner anderen
Beurteilung. Denn infolge der zum 1. Juli 2005 in Kraft getretenen Rechtsänderung,
wonach Windkraftanlagen mit einer Gesamthöhe von mehr als 50 Metern nunmehr einer
207
immissionsschutzrechtlichen Genehmigung bedürfen, ist die Beklagte zu 2.
entsprechend der Übergangsvorschrift des § 67 Abs. 9 BImSchG als Rechtsnachfolgerin
in die Rechts- und Verfahrensposition der Beklagten zu 1. eingetreten. Zwischen den
Beklagten zu 1. und 2. mag daher allenfalls ein interner Kostenausgleich in Betracht
kommen.
Soweit das Klagebegehren hinsichtlich der Windkraftanlage 4 in der Berufungsinstanz
hilfsweise auf ein Fortsetzungsfeststellungsbegehren gegenüber der Beklagten zu 1.
gerichtet war, entspricht es billigem Ermessen, die Kosten des Verfahrens den Klägern
aufzuerlegen. Denn mit diesem Hilfsantrag hätte die Klage keinen Erfolg gehabt, da ein
gegen einen anderen Beklagten als der Hauptantrag gerichteter Hilfsantrag unzulässig
ist.
208
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§
708 Nr. 10 und 711 ZPO.
209
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO liegen
nicht vor.
210