Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 24.11.2000
OVG NRW: evangelische kirche, auskunft, staatliche verfolgung, amnesty international, gesellschaft, eltern, anerkennung, gefahr, asylbewerber, religiöse gemeinschaft
Oberverwaltungsgericht NRW, 8 A 244/97.A
Datum:
24.11.2000
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
8. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
8 A 244/97.A
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 17 K 15631/94.A
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts
Düsseldorf vom 29. November 1996 wird zurückgewiesen.
Tatbestand:
1
Die 1980 in U. K. / Besiri (Provinz Batman) geborene Klägerin ist türkische
Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit und nach ihren Angaben yezidischer
Religionszugehörigkeit. Sie reiste am 31. August 1992 auf dem Luftweg nach
Deutschland ein und stellte mit Hilfe ihres - später zu ihrem Vormund bestellten - Onkels
I. T. im Oktober 1992 einen Asylantrag. Durch anwaltlichen Schriftsatz ließ sie
vortragen, alle Angehörigen ihrer Familie seien Yeziden; soweit sie sich in Deutschland
aufhielten, seien sie als Asylberechtigte anerkannt. Der nordrhein-westfälische
Innenminister Schnoor sei auf seiner Türkeireise im Hause ihrer Eltern eingekehrt und
habe über das Schicksal ihrer Familie berichtet.
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Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) forderte
die Klägerin erfolglos zur Vorlage einer Bescheinigung über die Zugehörigkeit zur
yezidischen Religion auf. Über ihre Verfahrensbevollmächtigten wurden der Klägerin
vier Ladungen zu einer persönlichen Anhörung übermittelt, doch erschien sie zu keinem
der Termine. Ihre Verfahrensbevollmächtigten begründeten dies mit terminlichen
Versehen bzw. geschäftlichen Reisen des Vormunds der Klägerin. Daraufhin lehnte das
Bundesamt den Antrag der Klägerin durch Bescheid vom 17. November 1994 -
abgesandt am 5. Dezember 1994 - ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51
Abs. 1 AuslG sowie Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG in der Person der
Klägerin nicht vorlägen und forderte sie zur Ausreise auf, verbunden mit einer
Abschiebungsandrohung in die Türkei. Zur Begründung hieß es, die Klägerin habe die
ihr mehrfach gebotenen Mitwirkungsmöglichkeiten nicht genutzt. Allein aus dem
Akteninhalt könne auf ihre Religionszugehörigkeit nicht geschlossen werden, da
insbesondere ihre Eltern sich noch in der Türkei aufhielten. Die
Verwandtschaftsverhältnisse zu den im Verfahren genannten Personen aus ihrem
Heimatdorf seien nicht geklärt oder nachgewiesen. Schließlich sei das Heimatdorf der
Klägerin kein nur von Yeziden, sondern auch von Moslems bewohntes Dorf, so dass
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auch ihre Herkunft kein sicheres Indiz abgebe.
Mit ihrer am 22. Dezember 1994 erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiter
verfolgt und erneut auf ihre Zugehörigkeit zu einer streng yezidischen Familie verwiesen
sowie auf die Bemühungen ihrer Eltern, die Türkei zu verlassen. In diesem
Zusammenhang hat sie u.a. ein Schreiben des Auswärtigen Amtes vom 27. Oktober
1994 vorgelegt, mit dem Visaanträge ihrer Eltern u.a. mit dem Argument abgelehnt
wurden, eine ausführliche Befragung ihres Vaters habe ergeben, dass dieser sich nicht
in einer singulären Notlage befinde. In der mündlichen Verhandlung vor dem
Verwaltungsgericht hat die Klägerin erklärt, fast alle Yeziden hätten die Heimat schon
verlassen; ihre Eltern hätten aber noch zu Hause zu tun und seien deshalb noch nicht
gekommen. Im Heimatdorf habe es keine Schule gegeben, und deshalb sei sie selbst
nach Deutschland gekommen. Speisetabus gebe es für sie nicht, doch müsse sie neun
Tage fasten, und zwar jeweils drei Tage mit Unterbrechungen.
4
Die Klägerin hat beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge vom 17. November 1994 zu verpflichten, sie als
Asylberechtigte anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51
Abs. 1 AuslG vorliegen und dass Abschiebungshindernisse gemäß § 53 AuslG
gegeben sind.
6
Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
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die Klage abzuweisen.
8
Durch Urteil vom 29. November 1996 - den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am
17. Dezember 1996 zugestellt - hat das Verwaltungsgericht die Klage mit der
Begründung abgewiesen, die Klägerin sei unverfolgt aus der Türkei ausgereist. Sie
müsse als Kurdin keine Verfolgung befürchten und sei auch bei einer Rückkehr nicht
gefährdet. Schließlich sei sie auch nicht als religiös aktive Yezidin einzustufen, so dass
auch unter diesem Gesichtspunkt eine Anerkennung als Asylberechtigte ausscheide.
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Der Senat hat auf Antrag vom 31. Dezember 1996 die Berufung gegen das Urteil des
Verwaltungsgerichts durch Beschluss vom 31. August 2000 zugelassen. Zur
Begründung der Berufung trägt die Klägerin vor: Das Urteil des Verwaltungsgerichts sei
fehlerhaft, weil es zu hohe Anforderungen an die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit
zur yezidischen Religion stelle. Bei Kindern und Jugendlichen dürften vertiefte
Kenntnisse der Religion nicht verlangt werden. Ausserdem sei es altersgemäß und
üblich, dass sich Jugendliche während einer bestimmten Lebensphase von den - auch
religiösen - Vorbildern der Eltern entfernten. Dies dürfe jedoch nicht als Anzeichen dafür
gewertet werden, sie hätten sich endgültig von ihrer Religion abgewandt. Nach der
Rechtsprechungspraxis sei es selbstverständlich, dass sogar Neugeborene als
asylberechtigt anerkannt werden könnten, obwohl diese natürlich erst recht keinerlei
Kenntnisse über ihre Religion vorweisen könnten.
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Die Klägerin beantragt,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 29. November 1996 abzuändern
und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für die
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Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 17. November 1994 zu verpflichten, sie als
Asylberechtigte anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51
Abs. 1 AuslG, hilfsweise Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen.
Die Beklagte und der Beteiligte haben sich im Berufungsverfahren nicht geäußert.
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Die Klägerin ist zu ihren Asylgründen in der mündlichen Verhandlung vom 24.
November 2000 gehört worden; auf die Niederschrift vom 24. November 2000 wird
verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die
Gerichtsakten dieses Verfahrens sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge
des Bundesamtes und der Ausländerbehörde Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Der Senat konnte zur Sache verhandeln und entscheiden, obwohl kein Vertreter der
Beklagten erschienen war, da diese mit der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen
worden war (§ 102 Abs. 2 VwGO).
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Die vom Senat zugelassene und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin ist
nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen; der
ablehnende Bescheid des Bundesamtes ist rechtmäßig (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5
VwGO). Die Klägerin kann weder die Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16 a
Abs. 1 GG (dazu 1.) noch die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG
(dazu 2.) verlangen; auch der auf die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach
§ 53 AuslG gerichtete Hilfsantrag ist unbegründet (dazu 3.). Schließlich ist auch die
Abschiebungsandrohung rechtlich nicht zu beanstanden (dazu 4.).
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1. Die Klägerin, die vor dem Inkrafttreten der Drittstaatenregelung in das Bundesgebiet
eingereist ist (Art. 16 a Abs. 2 GG, § 26 a AsylVfG), hat keinen Anspruch auf
Anerkennung als Asylberechtigte (Art. 16 a Abs. 1 GG). Zwar droht
glaubensgebundenen (praktizierenden) Yeziden in der Türkei politische Verfolgung
(dazu 1.1.), ohne dass ihnen ein Ausweichen innerhalb des Landes zumutbar ist (dazu
1.2.). Die Klägerin ist jedoch keine praktizierende Yezidin in diesem Sinne (dazu 1.3.).
Auch unter anderen Gesichtspunkten kann sie einen Asylanspruch nicht geltend
machen (dazu 1.4.).
18
1.1. Yeziden, die ihren Glauben praktizieren, droht derzeit (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG)
in der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mittelbar staatliche Verfolgung.
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Politisch Verfolgter ist, wer in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine
religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein
Anderssein prägen, gezielten Rechtsverletzungen ausgesetzt ist, die ihn ihrer Intensität
nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen.
20
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315 (333
ff.).
21
Wenn derartige Rechtsverletzungen sich nicht nur gegen Einzelpersonen richten,
sondern gegen eine durch gemeinsame Merkmale verbundene Gruppe von Menschen,
so kann dies zur Folge haben, dass jeder einzelne Gruppenzugehörige allein deshalb
der aktuellen Gefahr - und nicht nur der bloßen Möglichkeit - ausgesetzt ist, zum Ziel
22
und möglichen Opfer politischer Verfolgung zu werden, weil er zu der gefährdeten
Gruppe zählt. Die Gefahr politischer Verfolgung des Asylbewerbers ergibt sich in Fällen
dieser Art nicht aus gegen ihn selbst, sondern aus gegen Dritte gerichteten
Maßnahmen, wenn diese wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das
er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und
Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet. Besteht die Gefahr der
Gruppenverfolgung, ist mithin jedes Gruppenmitglied unabhängig davon als politisch
verfolgt anzusehen, ob sich Verfolgungsmaßnahmen bereits konkret in seiner Person
verwirklicht haben oder Derartiges unmittelbar bevorsteht. Nur wenn Tatsachen
vorliegen, aus denen sich ergibt, dass ein einzelner Gruppenzugehöriger von der
Gruppenverfolgung aufgrund besonderer Umstände ausgenommen ist, kann eine
Betroffenheit von einer Gruppenverfolgung entgegen der Regelvermutung
ausgeschlossen werden.
BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 - 2 BvR 902/85 u.a. -, BVerfGE 83, 216 (231);
BVerwG, Urteil vom 8. Februar 1989 - 9 C 33.87 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 105;
Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200.
23
Die Annahme einer Gruppenverfolgung ist allerdings nur dann gerechtfertigt, wenn die
gegen Gruppenzugehörige gerichteten Verfolgungsmaßnahmen im Verhältnis zur
zahlenmäßigen Größe der Gruppe eine derartige Häufigkeit und Dichte erreichen, dass
jeder Gruppenzugehörige jederzeit damit rechnen muss, auch in eigener Person zum
Opfer von Übergriffen zu werden, wenn also seine bisherige Verschonung als eher
zufällig anzusehen ist. Die Feststellung dieser Verfolgungsdichte erfordert es, die
Relation zwischen der Anzahl der feststellbaren Verfolgungsschläge und der Größe der
Gruppe in den Blick zu nehmen, ohne sich aber andererseits auf eine rein quantitative
Betrachtungsweise zu beschränken; es bedarf vielmehr einer wertenden Betrachtung.
Zu berücksichtigen ist auch, dass eine Gruppenverfolgung nicht notwendig auf das
gesamte Gebiet eines Staates bezogen sein muss. Wo ein "mehrgesichtiger Staat" nur
in Teilen seines Staatsgebiets die Verfolgung einer durch gemeinsame asylrelevante
Merkmale gekennzeichneten Gruppe praktiziert oder duldet (regionale
Gruppenverfolgung), besteht nur in der betroffenen Region für jedes Gruppenmitglied
die aktuelle Gefahr politischer Verfolgung, die allerdings in eine landesweite Verfolgung
jederzeit umschlagen kann.
24
BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 - 2 BvR 902/85 u.a. -, BVerfGE 83, 216;
BVerwG, Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 158.94 -, BVerwGE 96, 200 (204); Urteil vom 30.
April 1996 - 9 C 170.95 -, BVerwGE 101, 123 (125); Beschluss vom 11. November 1999
- 9 B 564.99 -; Beschluss vom 29. November 1996 - 9 B 293.96 -; zur Abgrenzung von
regionaler zu örtlich begrenzter Gruppenverfolgung Beschluss vom 23. August 1999 - 9
B 96.99 - und Urteil vom 9. September 1997 - 9 C 43.96 - BVerwGE 105, 204.
25
Schließlich setzt die Annahme politischer Verfolgung - unabhängig davon, ob es sich
um Verfolgung in der Form der Gruppenverfolgung handelt - nicht notwendig voraus,
dass die asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen vom Staat ausgehen. Auch
Übergriffe von Privatpersonen können in den Schutzbereich des Art. 16 a Abs. 1 GG
fallen und einen Asylanspruch begründen, wenn der Staat für deren Handeln wie für
eigenes verantwortlich ist. Wo der Staat von Dritten begangene Rechtsverletzungen
tatenlos hinnimmt oder nur verbal missbilligt, ohne effektiv zum Schutz der Betroffenen
einzuschreiten, obwohl ihm die hierfür erforderlichen Machtmittel zur Verfügung stehen,
sind ihm diese Rechtsverletzungen zuzurechnen (mittelbar staatliche Verfolgung).
26
BVerfG, Beschluss vom 1. Juli 1987 - 2 BvR 478/86 u.a. -, BVerfGE 76, 143; Beschluss
vom 23. Januar 1991 - 2 BvR 902/85 u.a. -, BVerfGE 83, 216; BVerwG, Urteile vom 23.
Juli 1991 - 9 C 154.90 -, BVerwGE 88, 367, 372, und vom 19. Mai 1992 - 9 C 21.91 -;
Beschluss vom 24. März 1995 - 9 B 747.94 -; Urteil vom 19. April 1994 - 9 C 462.93 -,
NVwZ 1994, 1121.
27
In Anwendung dieser Maßstäbe und unter Auswertung des zur Verfügung stehenden
Erkenntnismaterials geht der Senat davon aus, dass ihren Glauben praktizierende
Yeziden jedenfalls in ihren angestammten Siedlungsgebieten in der Türkei einer
mittelbar staatlichen Gruppenverfolgung wegen ihrer Religionszugehörigkeit ausgesetzt
sind. Diese Einschätzung beruht auf der Annahme, dass Yeziden mit erkennbarer
religiöser Bindung in der Südosttürkei wegen ihrer Religionszugehörigkeit in einem
Klima allgemeiner religiöser und gesellschaftlicher Verachtung leben und einer Vielzahl
von Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sind, die in Relation zu der Anzahl der noch in
ihren Siedlungsgebieten verbliebenen Yeziden für jedes Mitglied dieser
Bevölkerungsgruppe die Gefahr begründen, jederzeit zum Ziel und Opfer von religiös
motivierten Rechtsverletzungen werden zu können, ohne dass der türkische Staat bereit
wäre, die ihm zur Verfügung stehenden Machtmittel zum Schutz der Yeziden
einzusetzen.
28
Die Lage der Yeziden im Südosten der Türkei wird durch den auf sie von Seiten der
muslimischen Bevölkerungsmehrheit ausgeübten, an Jahrhunderte zurückreichende
Verhaltensweisen anknüpfenden extremen Vertreibungsdruck gekennzeichnet. Yeziden
waren seit jeher in ihren angestammten Siedlungsgebieten nur in fest gefügten und
weitgehend von der andersgläubigen Umgebung abgewandten Dorfgemeinschaften als
religiös geprägte Gruppe überlebensfähig. Eine Vielzahl von mit häufig unerbittlicher
Härte durchgeführten Übergriffen - von Eigentumsverletzungen, entschädigungsloser
Landwegnahme und Viehdiebstahl bis hin zur Entführung, Vergewaltigung oder
Zwangsverheiratung yezidischer Frauen sowie der Misshandlung und Tötung von
Yeziden - führte jedoch bis in die jüngste Gegenwart dazu, dass die yezidischen
Dorfgemeinschaften im Laufe weniger Jahrzehnte fast vollständig ausgelöscht wurden;
diese Entwicklung ist durch zahlreiche Sachverständige und Institutionen für den
Zeitraum bis in die Mitte der neunziger Jahre ausserordentlich gut dokumentiert.
29
Wießner, Auskunft an das VG Stade vom 22. Februar 1982; ähnlich schon Auswärtiges
Amt, Auskunft an VG Ansbach vom 13. September 1979; Roth, Gutachten vom 17.
Oktober 1982; Sternberg-Spohr, Gutachten vom 10. Februar 1988; Prieß, Reisebericht
Mai 1989; Wießner, Aussagen bei dem VG Bremen vom 14. Juni 1989, bei dem Bayer.
VGH vom 2. Mai 1991 und bei dem OVG NRW vom 10. Juli 1991; Referate Sternberg-
Spohr und Reese bei terre des hommes AG Weiden, Arbeitskreis Asyl, Seminar am 1.
Juli 1989; Schnoor, Reiseberichte für Mai 1989 vom 1. und 15. August 1989; Oehring,
Gutachten für VG Hannover vom 15. März 1990; Taylan an OVG Hamburg vom 5.
September 1993; Wießner an OVG Hamburg vom 6. September 1993; Gesellschaft für
bedrohte Völker an OVG Hamburg vom 9. Dezember 1993; Auswärtiges Amt, Auskunft
an OVG Hamburg vom 28. Dezember 1993; amnesty international, Bericht vom 17.
November 1994; Kaya, Gutachten für das VG Braunschweig vom 28. Mai 1995. Vgl.
auch Evangelische Kirche in Deutschland, Die Yeziden, eine Arbeitshilfe, 1992, S. 18,
wonach die traditionellen Besuchsreisen der Geistlichen unter Mitführung der
"Sindchaqs" (Darstellung des Melek Taus als Kultfigur) nicht mehr möglich sind, ebenso
schon Müller, Kulturhistorische Studien zur Genese pseudo-islamischer Sektengebilde
30
in Vorderasien, 1967, S. 191.
Der wesentliche Grund für die den Yeziden zugefügten Gewalttaten ist in der Haltung
der muslimischen Bevölkerungsmehrheit dem yezidischen Glauben gegenüber zu
sehen. Ohne dass den muslimischen Gläubigen Einzelheiten zum Inhalt der
yezidischen Religion - etwa der Anspruch der Yeziden, Monotheisten zu sein - bekannt
wären, unterliegen Yeziden schon deshalb dem Hass und der Verachtung, weil sie in
den Augen der Muslime durch ihre Verehrung des Melek Taus die Einzigartigkeit Gottes
leugnen und damit die Todsünde der "Hinzugesellung" begehen, die sie außerhalb des
islamischen Duldungsgebots stellt. Die etwa dem Christentum oder dem Judentum als
geduldeten Buchreligionen grundsätzlich eingeräumte Möglichkeit, den Glauben
öffentlich, wenn auch unter der Aufsicht des Islam, zu praktizieren, steht ihnen daher
nicht offen; vielmehr unterliegen sie dem Gesetz des Heiligen Krieges, das ihre Tötung
nach einmaligem erfolglosem Bekehrungsversuch zumindest billigt. Zahlreiche - oft
falsch verstandene - Besonderheiten des yezidischen Glaubens verstärken das von
islamischer Seite als gerechtfertigt eingestufte Bestreben, die Anhänger des
yezidischen Glaubens zu vertreiben oder zu vernichten. Dass die Vertreibung der
Yeziden zu einem wirtschaftlich-politischen Machtzuwachs bei den türkischen
Großgrundbesitzern geführt hat, ist vor diesem Hintergrund als eine von diesen
begrüßte und ausgenutzte Folge, nicht aber als Ursache der gegen die Yeziden
geführten Angriffe anzusehen.
31
Zur religiösen Motivation der Verfolgungsmaßnahmen Wießner, Gutachten für das VG
Stade vom 22. Februar 1982; ders., "... in das tötende Licht einer fremden Welt
gewandert", Geschichte und Religion der Yezidi, in: Schneider (Hrsg.), Die kurdischen
Yezidi. Ein Volk auf dem Weg in den Untergang, S. 49ff.; ders., Yezidi in ihrer türkischen
Heimatregion, Referat auf dem Kongress "Glaubensflüchtlinge aus der Türkei",
veranstaltet von der Gesellschaft für bedrohte Völker und den Diakonischen Werken der
Landeskirchen Hannover, Oldenburg und Westfalen, 10. November 1989, S. 44ff. (48).
Zur Einstufung des Yezidentums als monotheistisch etwa Baris, Gutachten vom 13.
Oktober 1998, S. 7; Evangelische Kirche in Deutschland, Die Yeziden, eine Arbeitshilfe,
1992, S. 7; Kizilhan, Die Yeziden, 1997 S. 17; Düchting, Stirbt der Engel Pfau?, 1992, S.
128.
32
Zwar waren die Yeziden in den letzten Jahrzehnten nicht das Ziel pogromartiger
Massenausschreitungen, doch dürfte der Grund hierfür eher in der Siedlungsstruktur
dieser Glaubensgemeinschaft - sie besiedelt bzw. besiedelte schwer zugängliche
ländliche Gebiete in einzelnen, meist kleineren Dörfern - zu finden sein als in der etwa
mangelnden Bereitschaft der Bevölkerungsmehrheit, dem Hass und der Verachtung
gegenüber den Yeziden auch durch kollektive Gewaltmaßnahmen Ausdruck zu
verleihen. Die Vielzahl, Häufigkeit und Dichte der von der muslimischen
Bevölkerungsmehrheit unternommenen Angriffe auf glaubensgeprägte Yeziden
begründet für jeden Angehörigen dieser Bevölkerungsgruppe angesichts ihrer geringen
zahlenmäßigen Stärke die reale Gefahr, jederzeit selbst zum Opfer vergleichbarer
Rechtsverletzungen werden zu können. Für die Jahre um 1982 schwankten
Schätzungen zur Anzahl der Yeziden - bezogen auf ihre traditionellen Siedlungsgebiete
in der Türkei - noch zwischen 2.000 und höchstens 8.000 bis 10.000 Personen.
Demgegenüber ergibt sich aus dem vorliegenden Erkenntnismaterial - auch wenn die
zahlenmäßige Erfassung der yezidischen Bevölkerung mit großen Unsicherheiten
belastet sein mag - für den entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen
Verhandlung vor dem Senat ein Rückgang auf allenfalls noch wenige Hundert
33
Personen. Die meisten, wenn nicht alle früher nur von Yeziden bewohnten Ortschaften
sind entweder vollständig von Yeziden verlassen, oder die (erkennbar
glaubensgebundenen) Yeziden bilden eine verschwindende, im Wesentlichen aus
einzelnen älteren Menschen bestehende Minderheit, die nach den Vorstellungen des
yezidischen Glaubens keine lebendige Gemeinde mehr bilden können.
Auswärtiges Amt, Auskunft an das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge vom 10. August 1978: weniger als 14.700; Benzing, Auskunft an den Hess.
VGH vom 19. Oktober 82: etwa 2000 (Schätzung von 1962); Roth, Gutachten vom 17.
Oktober 82: 1979 noch 37 Dörfer, 82 noch 3-4; Wießner, Auskunft an das VG Stade vom
22. Februar 1982, auch zur religiösen Wurzel der Lebens- und Siedlungsformen der
Yeziden; Auskunft an das VG Gießen vom 6. März 1992 ("keine lebensfähigen
Yezidendörfer mehr im Raum Besiri"); Auskunft an OVG Hamburg vom 6. September
1993; Auskunft an Hess. VGH vom 15. Juli 1996: "Das Yezidentum in der Osttürkei ist
praktisch tot"; EKD - Kirchenamt -, Die Yeziden, eine Arbeitshilfe (März 1992), S. 4:
einige Hundert gegenüber etwa 8.000 im Jahre 1987; Kehl-Bodrogi, Gutachten vom 7.
Dezember 1993; Düchting, Stirbt der Engel Pfau? Geschichte, Religion und Zukunft der
Yezidi-Kurden, November 1992, S. 106 bis 110; Denge Ezidiyan, Yeziden in ihrer
Heimat, http:// www.yezidi.org, 1998: auf 150 reduziert; Lerch in FAZ vom 1. Februar
2000 und Gesellschaft für bedrohte Völker, Kurdische Yeziden, Verfolgung in der
Heimat - neue Herausforderungen im Exil, 5. Aufl. Januar 2000: wenige Hundert, im
Wesentlichen alte Leute; differenzierend zwischen Südosttürkei (nur wenige, vor allem
alte Yeziden) und dem Rest des Landes (einige Tausend): Auswärtiges Amt,
Lagebericht Türkei vom 22. Juni 2000, S. 17.
34
Diese Entwicklung, die nachhaltig vor Augen führt, dass die von der muslimischen
Bevölkerungsmehrheit getragenen asylrelevanten Rechtsverletzungen gegen die
Yeziden ihr Ziel so gut wie vollständig erreicht haben, setzt sich bis in die unmittelbare
Gegenwart fort. Im Hinblick auf die extrem zurückgegangene Zahl der noch in ihrer
Heimat verbliebenen Yeziden ist allerdings festzustellen, dass der Nachweis konkreter
Vertreibungsmaßnahmen nicht mehr in demselben Umfang möglich ist wie für den
Zeitraum, in dem jene Maßnahmen noch gegen intakte yezidische Siedlungen gerichtet
waren, um deren Bevölkerung zu vertreiben.
35
Vgl. für die Zeit seit 1996: Denge Ezidiyan, Drei Kreuze im Pass bedeutet Yezide,
http://www.yezidi.org, 1996; Kizilhan (Hrsg.), Die Yeziden, 1997, S. 13ff., 56, 156ff. und
passim; Wießner, Auskunft an das VG Chemnitz vom 30. Juni 1997 ("Yeziden gelten bei
den Muslimen als Abschaum"); Baris, Gutachten vom 13. Oktober 1998, S. 12ff.;
Gesellschaft für bedrohte Völker, Kurdische Yeziden, Verfolgung in der Heimat - neue
Herausforderungen im Exil, 5. Aufl. Januar 2000.
36
Dennoch ist nach Einschätzung des Senats, die von der obergerichtlichen
Rechtsprechung aller mit Asylbegehren von Yeziden aus der Türkei befassten Gerichte
geteilt wird, auf der Grundlage einer wertenden Betrachtung der feststellbaren Übergriffe
weiter die Prognose gerechtfertigt, dass glaubensgebundene Yeziden bei einer
Rückkehr in ihre Siedlungsgebiete auch heute noch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit
damit rechnen müssen, jederzeit zum Opfer neuerlicher Übergriffe werden zu können.
37
OVG NRW, Beschluss vom 5. Juli 2000 - 8 A 387/97.A -; Beschluss vom 27. August
1998 - 25 A 2679/98.A -; Urteil vom 27. Januar 1993 - 25 A 10241/88 - (unter
Bezugnahme auf OVG NRW, Urteil vom 13. November 1991 - 18a A 10259/85 -, S. 24-
38
50); OVG Lüneburg, Urteil vom 29. Mai 1997 - 11 L 6286/91 -; Urteil vom 24. September
1998 - 11 L 6819/96 -; Urteil vom 16. Februar 1999 - 11 L 2563/96 -; Urteil vom 28.
Januar 1999 - 11 L 2261/98 - (insbes. LS 4: "Die fluchtbegründenden Umstände haben
sich weiter verschlechtert"); Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 16.
September 1996 - 12 UE 3033/95 -; Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom
13. April 1994 - Bf V 3/88 -; Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen,
Urteil vom 19. Oktober 1993 - 2 BA 35/91 -; Beschluss vom 11. September 1997 - 2 B
149/97 -; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 11. Oktober 1993 - 11 B
90.31837 -, DVBl 1994, S. 545.
Dies gilt schon deshalb, weil die Auflösung der rein yezidischen Dörfer, aber auch die
fast vollständige Gewichtsverschiebung in gemischt yezidisch-muslimischen
Ortschaften hin zu einer jetzt weit überwiegenden muslimischen Mehrheit dazu geführt
haben, dass die Yeziden in ihrer Heimat keinerlei Schutz mehr im Zusammenhalt
intakter Gemeinschaften finden können, wenn sie als Einzelpersonen oder in kleinen
Gruppen dort um ihr Überleben kämpfen müssten. Die Annahme fortbestehender
beachtlicher Verfolgungswahrscheinlichkeit ist - unabhängig von dem zuvor genannten
Gesichtspunkt - aber auch deshalb gerechtfertigt, weil die Bedingungen, unter denen es
zu der Vertreibung der Yeziden gekommen ist, sich nicht nur erhalten, sondern nach
Einschätzung des Senats sogar verschlechtert haben. Der Hass und die tiefe
Verachtung der Muslime gegenüber Yeziden bestehen fort und dürften mit einem
weiteren Erstarken islamistischer Tendenzen in der Türkei eher noch weiter zu- als
abnehmen. Außerdem finden sich diejenigen Teile der Bevölkerung, die von der
Vertreibung der Yeziden profitiert haben, nunmehr in der Situation, die hinzugewonnen
wirtschaftlichen und politischen Vorteile gegen jeden drohenden Anspruch auf
Rückgabe oder Wiedergutmachung verteidigen zu müssen,
39
so schon Auswärtiges Amt, Auskunft an OVG Hamburg vom 28. Dezember 1993 S. 4f.;
zur "Re-Islamisierung" der Türkei Steinbach, Die Türkei im 20.Jahrhundert. Schwieriger
Partner Europas, Lübbe Verlag 1996, S. 328ff.; Rumpf, Laizismus, Fundamentalismus
und Religionsfreiheit in der Türkei in Verfassung, Recht und Praxis, in: VRÜ 1999, 164ff.
40
Auch dies wird den Druck auf die wenigen noch in ihren traditionellen
Siedlungsgebieten lebenden und würde den Druck auf dorthin zurückkehrende Yeziden
weiter verstärken.
41
Die Verfolgung der Yeziden in der Südosttürkei stellt sich als mittelbar staatliche
Verfolgung dar. Zwar berichten einzelne Quellen auch von staatlich initiierten
Maßnahmen, die den Druck auf die betroffene Gruppe verstärken.
42
Etwa Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 18. August 1989 S. 4; Düchting, Stirbt
der Engel Pfau? Geschichte, Religion und Zukunft der Yezidi-Kurden, 1992, S. 224ff.;
Ates, ebenda, S. 276ff.
43
Insgesamt aber tragen die den Yeziden zugefügten Rechtsverletzungen das Gepräge
einer organisierten Vertreibung, die von der in ihrem Hass auf die Betroffenen einigen
Bevölkerungsmehrheit ausgeht und von einem schutzfähigen, aber nicht schutzbereiten
Staat geduldet wird.
44
Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 16. November 1993, S. 2f.; ähnlich
Ergänzung zum Lagebericht vom 22. August 1994; Roth, Gutachten zur Verfolgung der
45
Yeziden in der Türkei vom 17. Oktober 1982; Taylan, Auskunft an VG Hamburg vom 24.
Oktober 82; "Hirsch-Bericht" vom 26. April 1984, S. 17; Düchting und Ates, Stirbt der
Engel Pfau? 1992, S. 181ff., 271ff.; ebenso ausnahmslos die oben zitierte
Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte bzw. Verwaltungsgerichtshöfe.
Dass der türkische Staat derzeit in der Lage wäre, Übergriffe gegen die Yeziden auch in
entlegenen Teilen seines Staatsgebiets effektiv zu unterbinden, unterliegt dabei
angesichts der Wirkungen, die bei seinem Vorgehen gegen Kämpfer und
Sympathisanten der PKK oder anderer als separatistisch eingestufter Bewegungen,
aber auch gegen radikal islamistische Kräfte erzielt werden, keinem vernünftigen
Zweifel.
46
Dazu OVG NRW, Urteil vom 25. Januar 2000 - 8 A 1296/96.A -, Rz 45ff., 134ff. und
passim; anders noch für die Zeit vor der flächendeckenden Errichtung von
Polizeistützpunkten: Deutsches Orient-Institut, Auskunft vom 23. August 1979 an VG
Ansbach (zur Einrichtung von Polizeistützpunkten auch Auswärtiges Amt, Lagebericht
Türkei vom 15. November 1989, S. 7); vgl. demgegenüber schon Garrer, Reese,
Reisebericht vom 18. Februar 1988.
47
1.2. Den von mittelbar staatlicher Gruppenverfolgung bedrohten glaubensgebundenen
(praktizierenden) Yeziden ist ein Ausweichen innerhalb der Türkei nicht zumutbar.
48
Der Senat lässt offen, ob die den glaubensgebundenen Yeziden in der Türkei drohende
Gruppenverfolgung noch als regionale oder - im Hinblick darauf, dass sie nicht vom
türkischen Staat, sondern von der muslimischen Bevölkerungsmehrheit ausgeht - schon
als landesweite Gruppenverfolgung einzustufen ist, weil die Erkenntnisgrundlage zu
schmal ist, diese Frage zuverlässig zu beantworten. Der Asylanspruch praktizierender
Yeziden kann jedenfalls - geht man von einer nur regionalen Gruppenverfolgung aus -
nicht mit dem Argument verneint werden, es bestehe außerhalb ihrer traditionellen
Siedlungsgebiete - etwa in den Großstädten der westlichen Türkei - die Möglichkeit,
Schutz vor Verfolgung zu finden (inländische Fluchtalternative). Da die Feststellung,
dass eine solche inländische Fluchtalternative nicht besteht, aufgrund des vorliegenden
Erkenntnismaterials mit hoher Sicherheit getroffen werden kann, kann auch offen
bleiben, ob ein Asylbewerber die Türkei vorverfolgt - nach dem Einsetzen der
Gruppenverfolgung - oder unverfolgt - etwa bei einer Ausreise vor diesem Zeitpunkt -
verlassen hat. Denn selbst in dem letztgenannten Fall kann zum einen für den Zeitpunkt
der mündlichen Verhandlung das Fortbestehen der Gruppenverfolgungsgefahr (oben
1.1.) und das Fehlen einer inländischen Fluchtalternative mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit angenommen und zudem ausgeschlossen werden, dass bei Beginn
der Verfolgung eine inländische Fluchtalternative bestanden hat. Die Frage eines
Vergleichs der wirtschaftlichen Lebensbedingungen am Ort einer denkbaren
inländischen Fluchtalternative mit denjenigen am Herkunftsort des Asylbewerbers stellt
sich in diesem Zusammenhang nicht, weil die den Yeziden in den Städten der
westlichen Türkei drohende wirtschaftliche Existenznot jedenfalls verfolgungsbedingt
ist.
49
Dazu und zu dem zuvor angesprochenen Problem einer erst nach der Flucht des
Asylbewerbers einsetzenden regionalen Gruppenverfolgung: BVerwG, Urteil vom 9.
September 1997 - 9 C 43.96 -, BVerwGE 105, 204ff.
50
Wer von nur regionaler politischer Verfolgung betroffen ist, ist erst dann politisch
51
Verfolgter im Sinne von Art. 16 a Abs. 1 GG, wenn er dadurch landesweit in eine
ausweglose Lage versetzt wird. Das ist der Fall, wenn er in anderen Teilen seines
Heimatstaates eine zumutbare Zuflucht nicht finden kann. Eine derartige inländische
Fluchtalternative setzt voraus, dass der Asylsuchende in den in Betracht kommenden
Gebieten vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch
keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere
einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen
gleichkommen, sofern diese existentielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht
bestünde.
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315 (342
ff.); st. Rspr. des BVerwG; vgl. etwa Urteil vom 9. September 1997 - 9 C 43.96 -,
BVerwGE 105, 204 (207 f., 211 f.); Urteil vom 8. Dezember 1998 - 9 C 17.98 -, NVwZ
1999, 544 ff.
52
Eine derartige inländische Fluchtalternative steht glaubensgebundenen
(praktizierenden) Yeziden in der Türkei weder derzeit zur Verfügung noch ist angesichts
der Besonderheiten der religiös motivierten mittelbaren Gruppenverfolgung
anzunehmen, dass sie mit Einsetzen der Gruppenverfolgung in irgend einem Landesteil
der Türkei eröffnet war. Die Möglichkeit, unbehelligt und mit Aussicht auf zumindest
minimale wirtschaftliche Sicherheit außerhalb der yezidischen Siedlungsgebiete leben
zu können, besteht nur für solche Yeziden, die ihren Glauben vollständig verbergen und
im Alltag ein Leben wie ein Anhänger des muslimischen Glaubens führen.
53
Die Gründe für diese Annahmen, die von der obergerichtlichen Rechtsprechung
einhellig geteilt werden,
54
OVG Lüneburg, Urteil vom 16. Februar 1999 - 11 L 2563/96 -; Hamburgisches
Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 13. April 1994 - Bf V 3/88 -; Bayerischer
Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 11. Oktober 1993 - 11 B 90.31837 -, DVBl 1994, S.
545; OVG NRW, Urteil vom 27. Januar 1993 - 25 A 10241/88 -; Oberverwaltungsgericht
der Freien Hansestadt Bremen, Beschluss vom 11. September 1997 - 2 B 149/97 -
(inländische Fluchtalternative liegt ausnahmsweise vor, wenn ein Yezide sich fast zehn
Jahre lang dort unbehelligt aufgehalten hat),
55
sind vor allem in dem Umstand zu suchen, dass es glaubensgebundenen Yeziden auf
Dauer nicht möglich ist, ihre Religionszugehörigkeit ohne Verlust der religiösen Identität
so vollständig zu verbergen, dass sie in einer muslimisch geprägten Umgebung ihren
Glauben unerkannt zumindest im nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich ausüben
können. Denn die Religionsausübung findet in einer islamisch geprägten Gesellschaft
öffentlich, täglich, kollektiv und damit unter einer gewissen sozialen Kontrolle auch im
nachbarschaftlichen Bereich statt, so dass jeder, der sich gemeinsamen Gebeten am
Arbeitsplatz oder gemeinschaftlichen Moscheebesuchen nicht anschließt, unweigerlich
auffallen muss. Unter diesen Bedingungen und vor dem Hintergrund der von Hass und
Verachtung geprägten Haltung vieler Muslime gegenüber der yezidischen Religion ist
nicht vorstellbar, dass ein Yezide außerhalb des Schutzes, den ihm geschlossene
Yezidendörfer in den yezidischen Siedlungsgebieten bieten, leben kann, ohne
massiven, asylrelevanten Anfeindungen ausgesetzt zu sein. Er würde eine abhängige
Beschäftigung gar nicht erst finden oder mit Bekanntwerden seiner
Religionszugehörigkeit wieder verlieren, hätte als selbständig Tätiger nicht die
Möglichkeit, einen breiten Kundenkreis anzusprechen und würde sich auch bei bloß
56
passivem Verhalten im Hinblick auf die Erfordernisse des religösen Lebens nach
muslimischer Vorstellung dem Vorwurf aussetzen, den islamischen Glauben zu
ignorieren oder gar zu verachten. Die sich ihm gegenüber in einer solchen Situation
aufbauende negativ- aggressive Haltung seiner muslimischen Umgebung könnte
jederzeit in offene Feindseligkeit umschlagen und zu asylrelevanten Angriffen führen.
Berner, Aussage bei dem VG Stade am 1. September 82; Wießner, Auskunft an VG
Stade vom 22. Februar 82; Aussage bei dem VG Bremen am 11. Juni 1986; Benzing,
Auskunft an Hess. VGH vom 19. Oktober 82; Roth, Gutachten vom 17. Oktober 1982;
Sternberg-Spohr, Gutachten vom 10. Februar 1988, S. 81ff.; Deutsches Orient-Institut,
Auskunft an OVG Hamburg vom 3. September 1993; amnesty international, Auskunft an
VG Stuttgart vom 1. Oktober 1993 und Bericht vom 17. November 1994; Gesellschaft für
bedrohte Völker, Auskunft an OVG Hamburg vom 9. Dezember 1993; Evangelische
Kirche in Deutschland, Die Situation in der Türkei für die christlichen und yezidischen
Minderheiten, 28. April 1994; Wießner, Auskunft an VG Chemnitz vom 30. Juni 1997
(keine Friedhöfe in den westtürkischen Städten).
57
Das Fehlen einer inländischen Fluchtalternative lässt sich aufgrund dieser Erkenntnisse
sowohl für den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung als auch für jenen früheren
Zeitpunkt - unabhängig von seiner genauen Datierung - feststellen, zu dem das
Vorliegen einer Situation der Gruppenverfolgung erstmalig angenommen werden kann;
es wird auch nicht mehr bestritten. So ist die früher gelegentlich vorgetragene
Behauptung, eine große Anzahl (praktizierender) Yeziden lebe unbehelligt in Istanbul,
inzwischen als widerlegt anzusehen.
58
Vgl. zunächst: Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Bremen vom 18. April 1986, an VG
Koblenz vom 28. Oktober 1988, Deutsche Botschaft Ankara, Mitteilung vom 13. Juni
1989; sodann: Auswärtiges Amt, Auskunft an OVG Rheinland-Pfalz vom 23. August
1989, und schließlich: Schnoor, Rede bei einer Veranstaltung des Bielefelder
Flüchtlingsrats am 23. Oktober 1989; Geismar, Nach dem Glaubenskampf der
Gutachterkrieg, pogrom 151 (Januar / Februar 1990); S. 44f.; Auswärtiges Amt, Auskunft
an OVG NRW vom 20. März 1990; Auskunft an OVG Bremen vom 3. November 1992
(kein yezidischer Friedhof in Istanbul); Amir Muawiya ben Ismail al-Yazidi, Aussage vor
dem OVG Saarland vom 6. Januar 1992. Vgl. aber inzwischen wieder: Auswärtiges Amt,
Lagebericht Türkei vom 22. Juni 2000, S. 17 (einige Tausend Yeziden "dürften in
anderen Teilen der Türkei unbehelligt leben, teils offen als Yeziden").
59
Das Vorliegen einer inländischen Fluchtalternative lässt sich auch nicht mit der
Überlegung annehmen, es sei Yeziden nach ihrem eigenen religiösen
Selbstverständnis erlaubt, ihren Glauben weitgehend zu verbergen, so dass es ihnen
zuzumuten sei, öffentliches Gebet oder die öffentlich bemerkbare Durchführung
liturgischen Fastens oder religiöser Feierlichkeiten zu unterlassen und sich ihrer
muslimischen Umgebung weitgehend anzupassen. Zwar dürfen Yeziden ihre religiöse
Identität nach außen verbergen - "taqiye" -, und diese Möglichkeit ist in den
vergangenen Jahrhunderten häufig extensiv genutzt worden. Nach dem für den Senat
maßgeblichen derzeitigen Verständnis des Instituts der taqiye im yezidischen Glauben
wird diese Möglichkeit jedoch zunehmend enger ausgelegt, weil mit einem zu weit
gehenden Verbergen des eigenen Glaubens und der damit verbundenen vollständigen
Anpassung an die äußerlichen Verhaltensweisen des die Umgebung dominierenden
Glaubens die Gefahr verbunden ist, dass die den Gläubigen ohnehin nur eingeschränkt
vermittelten Glaubensinhalte vollständig verloren gehen könnten. Nach den historischen
60
Erfahrungen der Yeziden ist die mit dem Institut der taqiye gerechtfertigte äußere
Angleichung an die Gepflogenheiten islamischer Gläubiger nur der erste Schritt zu einer
vollständigen Konversion zum Islam, insbesondere wenn sie außerhalb der vormals
existierenden geschlossenen Siedlungsgebiete der Yeziden praktiziert wird. Deshalb
werden die Grenzen der taqiye inzwischen stärker betont: Danach ist es nicht zulässig,
die Grenze der Verleugnung des yezidischen Glaubens zu überschreiten, etwa durch
das Mitsprechen des islamischen Glaubensbekenntnisses, als dessen wesentlicher Teil
die 112. Sure des Koran gilt. Da jedoch das Zusammenleben eines seine
Glaubensidentität verbergenden Yeziden mit Muslimen früher oder später
unausweichlich dazu führt, gerade diesen Teil des Korans gemeinsam zu rezitieren,
müsste der Yezide eine Grenze überschreiten, die zu überschreiten ihm sein Glaube
verbietet; dies ist ihm rechtlich nicht zuzumuten.
Zum Institut der taqiye: Sternberg- Spohr, Gutachten zur Situation der Yeziden in der
Türkei vom 10. Februar 1988, S. 6 - 13; Müller, Kulturhistorische Studien zur Genese
pseudo-islamischer Sektengebilde in Vorderasien, 1967, S. 204; Evangelische Kirche in
Deutschland, Die Yeziden, eine Arbeitshilfe, März 1992, S. 10; Düchting, Ates, Stirbt der
Engel Pfau? 1992, S. 123ff.; Emir Muawiya ben Ismail al-Yazidi, Zarathustra zu uns
sprach, 1990, S. 14, 32ff. Die 112. Sure des Koran ist die nach der Eröffnungssure am
häufigsten zitierte Sure des Koran, vgl. Schimmel, Anm. 34 zu Sure 112, S. 595 in: Der
Koran, übersetzt von Max Henning, Reclam Verlag 1960; ebenso Henning, Einleitung S.
14 zu der erwähnten Ausgabe des Koran (112. Sure spielt "in Theologie und Mystik, in
Volksglauben ... sowie in der Polemik eine kaum zu überschätzende Rolle").
61
1.3. Von der Gefahr politischer Verfolgung sind nur glaubensgebundene (praktizierende)
Yeziden betroffen. Deshalb bedarf es in jedem Einzelfall der positiven Feststellung,
dass der Asylbewerber Yezide ist (dazu 1.3.1.) und seinen Glauben praktiziert (unten
1.3.2.). Für die Klägerin kann zwar die Feststellung getroffen werden, dass sie Yezidin
ist, nicht aber die weitere, dass sie ihren Glauben auch praktiziert (unten 1.3.3.).
62
1.3.1. Yezide ist nach den für den Senat maßgeblichen Regeln des yezidischen
Glaubens nur, wer diese Religionszugehörigkeit durch Abstammung von yezidischen
Eltern erworben und nicht durch unwiderrufliche Abwendung von diesem Glauben
verloren hat. Der wichtigste Fall einer unwiderruflichen Abwendung vom Yezidentum ist
die Heirat mit einem nicht der yezidischen Religion angehörenden Partner. Über diese
grundlegenden Aussagen besteht im Yezidentum nach wie vor fast vollständige
Einigkeit; sie wird mit dem Mythos der Herkunft der Yeziden als eines auserwählten
Volkes allein von Adam theologisch begründet und führt dazu, dass die Konversion
eines Nicht- Yeziden - auch eines früheren Yeziden, der seine Glaubenszugehörigkeit
aufgegeben hat - zum Yezidentum streng abgelehnt wird. Der Versuch des Amir
Muawiya ben Ismail al- Yazidi, die Konversion als zulässig anzusehen, um das
Überleben des yezidischen Volkes auch unter den Bedingungen der Diaspora zu
erleichtern, hat sich bisher nicht durchsetzen können.
63
Amir Muawiya ben Ismail al-Yazidi, Zarathustra zu uns sprach, deutsche Fassung
November 1990, S. 64; dazu Düchting, Ates, Stirbt der Engel Pfau? Geschichte,
Religion und Zukunft der Yezidi-Kurden, 1992, S. 148, 177ff.; ebenso Evangelische
Kirche in Deutschland, Die Yeziden, 1992 S. 19; Wießner, Auskünfte an VG Schleswig
vom 12. Februar 1992 und an OVG NRW vom 13. Dezember 1993; Kizilhan, Die
Yeziden, 1997, S. 72ff., 117 (Regel 5 der "Sad u Haq"); zur Kritik an der Person und
Praxis des Muawiya ben Isamail und seines Sohnes vgl. nur Wießner, Auskunft an VG
64
Kassel vom 23. Februar 1998; Auswärtiges Amt, Bericht vom 17. Januar 1995;
Unterstützerkreis für yezidische Flüchtlinge, Auskunft vom 27. Januar 1992; Prieß,
Auskunft an VG Schleswig vom 18. Januar 1992.
Die Feststellung, ob ein Asylbewerber Yezide ist, knüpft demnach an die Zugehörigkeit
beider Eltern zu dieser Religion an. Wichtigstes Indiz hierfür ist die Herkunft der Familie
- dies betrifft den Asylbewerber selbst, wenn er noch in der Türkei geboren ist, die
Generationen seiner Eltern bzw. Vorfahren, wenn er in Deutschland oder einem
anderen Exilland, beispielsweise Syrien, geboren ist - aus einem yezidisch besiedelten
Ort, weil die Yeziden in rein yezidischen Siedlungen lebten, um ihre Religionspraxis
Andersgläubigen nicht offenbaren zu müssen und weil die yezidische Religion in
hohem Maße auf ein Zusammenleben in engen gesellschaftlichen Verbänden
angewiesen ist. Welche Ortschaften als rein yezidisch einzustufen sind bzw. waren,
lässt sich in aller Regel anhand der Unterlagen ermitteln, die als Ergebnis von
Feldforschungen in den Siedlungsgebieten der Yeziden erstellt worden sind. Allerdings
dürfte der Umkehrschluss, dass Yezide nicht sein kann, wer nicht aus einem rein
yezidischen Ort stammt, schon deshalb nicht zulässig sein, weil es auch gemischt
yezidisch-muslimische Ortschaften gab bzw. gibt. Auch sind Fehler oder
Unvollständigkeiten in der Erfassung der rein yezidischen Dörfer nach Einschätzung
des Senats nicht gänzlich auszuschließen, und es muss berücksichtigt werden, dass
während der Zeit der starken Abwanderung von Yeziden die Ortschaften teilweise durch
nachrückende Muslime besiedelt wurden oder dass Yeziden zunächst in größeren -
nicht rein yezidischen - Ortschaften wie Viransehir Schutz suchten, bevor sie die Türkei
verließen.
65
Zu diesem Fragenkreis vor allem Wießner, Auskünfte an VG Kassel vom 12. Februar
1992; an VGH Kassel vom 15. Juli 1996; an VG Karlsruhe vom 30. Juni 1997;
Sternberg-Spohr, Bestandsaufnahme vom 16. März 1993 in der Fassung der
Aktualisierung vom 31. Oktober 1993; Andrews, Auskunft an VG Hannover vom 14.
September 1995 unter Hinweis auf weitere Literatur; Baris, Auskunft an VG Lüneburg
vom 13. Oktober 1998; Gesellschaft für bedrohte Völker (Prieß), Auskunft an Bundesamt
für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 27. Juli 1999.
66
Ein meist nur unzuverlässiges Indiz für die Zugehörigkeit zum yezidischen Glauben
stellen demgegenüber die von Geistlichen ausgestellten Bescheinigungen dar, die in
zahlreichen Asylverfahren vorgelegt werden. Die Kompetenz zur Ausstellung derartiger
Bescheinigungen ist innerhalb der yezidischen Glaubensgemeinschaft in Deutschland
stark umstritten. Die Auseinandersetzung darüber wird von gegenseitigen Vorwürfen
geprägt; derzeit kann eine von allen oder doch den meisten Yeziden akzeptierte und
von den Adressaten als zuverlässig eingestufte Person oder Institution zur Ausstellung
der Bescheinigungen nicht benannt werden. Deshalb kann der Nachweis der
yezidischen Abstammung allein mit Hilfe einer solchen Bescheinigung nicht geführt
werden; sie kann lediglich den Stellenwert eines - ggf. durch Vernehmung des
Ausstellers zu verifizierenden - Indizes haben.
67
Als zuverlässig werden in neuerer Zeit von einigen das Kulturforum der yezidischen
Glaubensgemeinschaft in Oldenburg und das Eziden-Zentrum im Ausland (Hannover)
angesehen; vgl. Gesellschaft für bedrohte Völker (Prieß), Auskunft an das OVG NRW
vom 26. Juni 2000; Wießner, Auskunft an VG Ansbach vom 12. Februar 1996
(vermutlich zum Kulturforum, als "Oldenburger Verein" bezeichnet); zu diesem
Problemkreis noch Religionszentrum der Yeziden / Zarathustra e.V., Bonn, Auskunft an
68
VG Wiesbaden vom 1. März 1991 und an VG Wiesbaden vom 28. Oktober 1991;
Auskunft vom 4. Januar 1992; Deniz, Aussage vor dem VG Minden am 1. Juli 1991;
Cengil und Deniz, Auskunft vom 11. November 1991; Cengil, Auskunft an VG Ansbach
vom 27. Februar 1992; Unterstützerkreis für yezidische Flüchtlinge Bremen, Auskunft an
VG Stade vom 20. November 1991 und Auskunft vom 27. Januar 1992; Prieß, Auskunft
an VG Schleswig vom 18. Januar 1992; Gesellschaft für bedrohte Völker, Auskunft an
VG Schleswig vom 6. Februar 1992; Wießner, Auskünfte an VG Schleswig und an VG
Kassel, jeweils vom 12. Februar 1992; Auskunft an OVG NRW vom 13. Dezember 1993;
an VG Kassel vom 5. Juli 1994; Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Frankfurt vom 2.
August 1994 und Bericht vom 17. Januar 1995; Gesprächsvermerk VG Oldenburg vom
5. September 1994; anders nur Kaya, Auskunft an VG Ansbach vom 17. März 1996;
zweifelhaft Grenzschutzdirektion Koblenz, Auskunft an Bundesamt vom 20. März 1996;
Jesidische Religionsgemeinschaft in Gießen, Auskunft an VG Gießen vom 28. März
1996; Union der Zarathustischen Yeziden in Emmerich und Umgebung, Auskunft vom
26. Juni 1998.
Ist die Abstammung eines Asylbewerbers von yezidischen Eltern zur Überzeugung des
Gerichts festgestellt, so muss - falls Anlass dazu besteht - ergänzend geprüft werden, ob
er sich vom yezidischen Glauben definitiv wieder abgewandt hat. Eindeutig lässt sich
dies nach den bereits zitierten Erkenntnisquellen allerdings nur annehmen, wenn er
durch Heirat mit einem nicht yezidischen Partner aus der Religionsgemeinschaft
ausgeschieden ist. Welche anderen Verhaltensweisen zu einem eindeutigen und
unwiderruflichen Ausschluss oder Austritt aus der Glaubensgemeinschaft führen, lässt
sich demgegenüber den dem Senat zur Verfügung stehenden Materialien nicht
entnehmen; in Frage käme etwa die Konversion zu einem anderen Glauben,
insbesondere dem Islam, ohne dass indes ohne weiteres die Maßstäbe dafür, wann aus
Sicht der Yeziden eine Konversion vorliegt und wann nur eine äußerliche Anpassung
mit der Rechtfertigung der "taqiye", mit letzter Klarheit feststünden. Die Frage bedarf
indes auch keiner weiteren Ermittlungen. Denn in sämtlichen Fällen, in denen das
Verhalten eines Yeziden Anlass zu der Frage bietet, ob er seine Religionsgemeinschaft
unwiderruflich verlassen hat, dürfte eine Asylanerkennung ausscheiden, weil nicht mehr
festgestellt werden kann, dass der Asylbewerber seine Religion (noch) praktiziert (dazu
1.3.2.). Es ist nicht Sache des Senats als eines staatlichen Gerichts, die von Mitgliedern
der Religionsgemeinschaft der Yeziden geäußerten Vorstellungen dazu, wann die
Grenze der unwiderruflichen Abwendung vom Glauben überschritten ist, in verbindliche
Regeln zu fassen; im Fall der Heirat mit einem nicht yezidischen Ehepartner sieht sich
der Senat als zu der Feststellung einer solchen Regel berechtigt, weil diese von allen
Vertretern der yezidischen Religion - mit der einzigen Ausnahme des Amir Muawiya ben
Ismail al-Yazidi - übereinstimmend als Inbegriff ihrer Exklusivität gewertet wird.
69
1.3.2. Von politischer Verfolgung bedroht sind (gebürtige) Yeziden nur dann, wenn sie
ihren Glauben praktizieren.
70
Die Feststellung einer Glaubenspraxis stößt jedoch auf die Schwierigkeit, dass der
yezidische Glaube zwar einerseits durch Orthopraxie und die Befolgung äußerlicher
Verhaltensweisen geprägt wird, dass aber andererseits feststeht, dass es keinen
einheitlichen Kanon von Glaubenssätzen und Verhaltensweisen gibt, der für alle
Yeziden gleichermaßen verbindlich und damit ein sicheres Anzeichen für das Vorliegen
einer religiösen Praxis wäre.
71
Wießner, Stellungnahme vom 18. Dezember 1988; Auskunft an OVG Bremen vom 17.
72
September 1993; Kreyenbroek, Yezidism, S. 17ff., 125, 136; Evangelische Kirche in
Deutschland, Die Yeziden, 1992, S. 3, 6; Düchting, Ates, Stirbt der Engel Pfau?, 1992,
S. 121ff.; Sternberg- Spohr, Gutachten vom 10. Februar 1988 S. 12f.
Die Gründe hierfür sind zunächst in dem Umstand zu sehen, dass die yezidische
Religion im Wesentlichen mündlich überliefert wird und schon deshalb eine größere
inhaltliche Variationsbreite entstanden ist als es bei einer Buchreligion möglich wäre.
73
Neben dem "Schwarzen Buch" und dem "Buch der Offenbarung" existiert zwar ein
Konglomerat von Texten ("Qewls"), die aber den Gläubigen in aller Regel nicht bekannt
sind und erst in jüngster Zeit erforscht werden: Kreyenbroek, Yezidism, Its Background,
Oberservances and Textual Tradition, 1995, S. IXff., 10ff. und S. 170-326; vgl. auch
Kizilhan, Die Yeziden S. 70f., 82ff., S. 140f. (Verbot der Schriftlichkeit bis vor 20 Jahren);
Evangelische Kirche in Deutschland, Die Yeziden, März 1992, S. 7; Düchting, Ates,
Stirbt der Engel Pfau?, 1992, S. 143.
74
Hinzu kommt, dass die strenge Einteilung der Gläubigen in Kasten von Laien und
Geistlichen - bei diesen wiederum in Kasten, deren Kenntnisstand hinsichtlich der
thelogischen Inhalte höchst unterschiedlich ist - dazu geführt hat, dass es in aller Regel
nur sehr wenige Personen in der Gesamtheit einer Generation gibt, die überhaupt
Zugang zu umfassenden Kenntnissen haben, und dass diese Kenntnisse zudem meist
nur an das erstgeborene Kind weitergegeben werden, weil nur dieses die erblichen
geistlichen Ämter übernehmen darf. Auch hat es stets zahlreiche Machtstreitigkeiten
innerhalb der yezidischen Gesellschaft gegeben mit der Folge, dass sich
unterschiedliche Sichtweisen über Inhalt und Bedeutung von Glaubensinhalten
herausgebildet haben. Schließlich hat die yezidische Gesellschaft in ihrer historischen
Entwicklung bis in die Gegenwart durchweg in starker örtlicher Zersplitterung und in
Anlehnung an verschiedene, sie schützende Stammes- oder Volksgruppen gelebt, so
dass es zur Ausbildung von unterschiedlichen örtlichen Glaubenspraktiken gekommen
ist.
75
Die Annahme, glaubensgebundener (praktizierender) Yezide könne nur sein, wer über
ein für alle Yeziden unterschiedslos und gleichermaßen gültiges Mindestwissen zu
gleichsam katalogartig abfragbaren Glaubensinhalten in nennenswertem Umfang
verfüge, lässt sich vor diesem Hintergrund nicht verifizieren.
76
Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland, Die Yeziden, 1992, S. 6, 10, 12, 23; Kizilhan,
Die Yeziden, 1997, S. 47, 58, 139f.; Düchting, Ates, Stirbt der Engel Pfau?, 1992, S. 125;
Kreyenbroek, Yezidism, S. 17ff., 69; Müller, Kulturhistorische Studien zur Genese
pseudo-islamischer Sektengebilde in Vorderasien, 1967, S. 167.
77
Allen glaubensgebundenen Yeziden gemeinsam ist nach den dem Senat vorliegenden
Erkenntnissen lediglich das Wissen um Melek Taus - allerdings nicht notwendig unter
dieser Bezeichnung - als für den yezidischen Glauben zentrales höheres Wesen sowie
das Bewusstsein, in einer hierarchisch strukturierten und von engen persönlichen und
funktionalen Verflechtungen zwischen Geistlichen verschiedener Kasten und Laien
geprägten Gesellschaft einen unverrückbaren Platz innezuhaben. Diese beiden
Elemente sind auch solchen Yeziden geläufig, die nur über wenige konkrete Kenntnisse
im Übrigen verfügen; sie bilden unabhängig von der Kenntnis von Glaubenssätzen die
Grundlage für das Yezidentum. Das Praktizieren des yezidischen Glaubens äußert sich
- weit mehr als in der Befolgung bestimmter, für alle Yeziden gleicher Rituale - vor allem
78
darin, engen Kontakt zu den jedem Yeziden aus religiösen Gründen zugeordneten
Personen - Sheikh, Pir und möglicherweise auch "Bruder bzw. Schwester der Anderen
Welt" - zu halten und auf diese Weise, durch Innehaben der jedem Gläubigen
zugewiesenen Stelle in der Hierarchie der yezidischen Gesellschaft, die Bindung an die
Religion zu äußern und zu halten. Wer über dieses Eingebundensein in eine religiöse
Gemeinschaft und seinen Platz in diesem System keine Auskunft erteilen kann,
begründet erhebliche, im Regelfall nicht überwindliche Zweifel an seiner Behauptung,
den yezidischen Glauben zu praktizieren.
Sternberg-Spohr, Gutachten 10. Februar 1988, S. 12f.; Kreyenbroek, Yezidism, S. 125,
135, 17ff.; Düchting, Ates, Stirbt der Engel Pfau?, S. 269, vgl. auch S. 111 und 125;
Wießner, Auskunft an VG Braunschweig vom 5. Dezember 1983; ders., "in das tötende
Licht einer fremden Welt gewandert", in: Schneider (Hrsg.), Die kurdischen Yezidi, 1984,
S. 31 (40ff.); vgl. auch OVG Lüneburg, Beschluss vom 10. Januar 1994 - 11 L 4444/93 -
und OVG NRW, Beschluss vom 2. Juli 1996 - 25 A 2348/96.A -: Wer den Namen des
Satans ausspricht, ist nicht praktizierender Yezide.
79
Welche weiteren konkreten Kenntnisse über yezidische Glaubensinhalte ein Yezide
haben muss, um als praktizierender Gläubiger angesehen werden zu können, lässt sich
demgegenüber nicht mit dem Anspruch allgemeiner Verbindlichkeit für alle Yeziden
bezeichnen. Zwar würde das gänzliche oder weit gehende Fehlen jeglicher weiter
gehender Kenntnisse Zweifel an der religiösen Bindung und Praxis des Asylbewerbers
begründen.
80
Vgl. Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 16. September 1996 - 12 UE
3033/95 - ESVGH 47, 78: Der Asylbewerber muss von sich aus umfassend und
substantiiert auch zur Frage der Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft vortragen.
81
Dennoch lässt sich aus einzelnen "falschen" Antworten nicht mit Verlässlichkeit die
Schlussfolgerung ableiten, der Asylbewerber habe den Nachweis seiner praktizierten
Religionszugehörigkeit verfehlt, weil ein für alle Yeziden verbindlicher Kanon von
Glaubensinhalten - über die beiden als allgemein gültig bezeichneten Elemente hinaus
- nicht formuliert werden kann.
82
So lässt sich beispielsweise den vorliegenden Erkenntnismitteln entnehmen, dass
innerhalb der yezidischen Glaubensgemeinschaft nicht einmal Einigkeit über die Rolle
des von vielen als Religionsstifter bezeichneten Sheikh Adi besteht, ebenso wenig über
die Bezeichnung der Engel - sei es als Gestalten der Mythologie oder als menschliche
Reinkarnationen mythischer Wesen -, über die Frage, ob die yezidische Religion auf
einer Seelenwanderungslehre beruhe oder (stattdessen oder zusätzlich) die Konzepte
von Hölle und Paradies kenne. Auch die Rolle des Zarathustra wie überhaupt der
Einfluss zahlreicher anderer religiöser Strömungen wird unterschiedlich gesehen, und
selbst das Konzept - bis hin zur genauen Bezeichnung - des Melek Taus ist
uneinheitlich, widersprüchlich und wird von vielen Laien - abgesehen von dem allen
Yeziden gemeinsamen Bewusstsein, dass Melek Taus die für ihre Religion zentrale
Figur ist - nicht verstanden.
83
Hierzu und zum Kastenwesen: Kreyenbroek, Yezidism S. 69ff., 147 und passim;
Evangelische Kirche, Die Yeziden, S. 7ff.; Kizilhan, Die Yeziden S. 17, 62ff., 94ff., 103ff.;
Düchting, Ates, Stirbt der Engel Pfau? S. 128ff. (insbesondere zu Melek Taus), 133ff.,
141ff., 154ff.; Emir Muawiya, Zarathustra zu uns sprach, S. 20; Müller, Kulturhistorische
84
Studien zur Genese pseudo-islamischer Sektengebilde in Vorderasien, 1967, S. 142ff.,
187ff.; zum Einfluss fremder Religionen ausführlich Düchting, Ates, a.a.O. S. 17-72 und
Kreyenbroek, a.a.O. S. VIIff. und passim, etwa 45, 52ff.
Erst recht variieren die - jeweils von Vertretern des yezidischen Glaubens geäußerten
und von der orientalistischen Forschung oder den Gerichten festgestellten - Aussagen
über die Gestaltung des religiösen Alltags in Familie und Gesellschaft, über religiöse
Feste, Gepflogenheiten und Tabus. So besteht keineswegs Einigkeit über die vielen
Yeziden in unterschiedlichen Spielarten geläufigen Speise- und Bekleidungstabus, über
Notwendigkeit, Begründung und äußeren Ablauf von Fastentagen oder über
Notwendigkeit, Häufigkeit und Inhalte des Gebets. Selbst die Frage, welcher Wochentag
als heilig oder Ruhetag einzustufen ist, wird unterschiedlich beantwortet (Mittwoch,
Samstag, Freitag).
85
Allgemein Düchting, Ates, Stirbt der Engel Pfau? S. 145, 169f.; Kreyenbroek, Yezidism
S. 145; zum Familienleben als religiöse Praxis: Evangelische Kirche, Die Yeziden, S.
20ff.; Kizilhan, Die Yeziden, S. 92, 103ff.; Müller, Kulturhistorische Studien zur Genese
pseudo-islamischer Sektengebilde in Vorderasien, 1967, S. 194f.; Düchting, Ates, Stirbt
der Engel Pfau?, S. 146ff., 177 und passim; zum Fasten und zu religiösen Festen:
Evangelische Kirche, Die Yeziden, S. 15ff.; Kizilhan, Die Yeziden, S. 17, 87, 91; Müller,
Kulturhistorische Studien, S. 175ff., 182f.; Düchting, Ates, Stirbt der Engel Pfau?, S. 134,
153; zu Tabus: Kreyenbroek, Yezidism S. 147ff. ("sich an so viele Tabus wie möglich zu
erinnern, kann geradezu zu einem Spiel für Yeziden werden, wenn sie Forschern über
ihren Glauben berichten"); Evangelische Kirche, Die Yeziden, S. 18f.; Müller,
Kulturhistorische Studien, S. 184f.; Düchting, Ates, Stirbt der Engel Pfau?, S. 170ff.; zu
Gebet und Ruhetag: Kreyenbroek, Yezidism, S. 69ff. (Gebet spielt eine untergeordnete
Rolle); Evangelische Kirche, Die Yeziden, S. 15; Müller, Kulturhistorische Studien S.
181, Düchting, Ates, Stirbt der Engel Pfau?, S. 152, 169; Emir Muawiya, Zarathustra zu
uns sprach, S. 63.
86
Eine Hilfe bieten auch die Kataloge der als wesentlich eingestuften Glaubensinhalte
nicht, die in den Jahren um 1870 bis 1880 in dem Bemühen aufgestellt wurden,
Sonderregeln für Yeziden bei der Ableistung des Militärdienstes zu schaffen, da sie von
der Entwicklung - die durch einen stetigen Rückgang des religiösen Wissens bei den
Gläubigen gekennzeichnet ist - überholt sind.
87
Abgedruckt bei Kreyenbroek, Yezidism S. 6f. und 8ff., sowie bei Kizilhan, Die Yeziden
S. 48f.; vgl. Wießner, Auskunft an VG Braunschweig vom 5. Dezember 1983.
88
Ob ein Asylbewerber den Nachweis seiner Glaubensgebundenheit als praktizierender
Yezide erbracht hat oder nicht, hängt vor diesem Hintergrund nicht davon ab, ob er
einzelne, mit den zur Verfügung stehenden Erkenntnissen über die yezidische Religion
nicht oder nicht vollständig übereinstimmende Angaben zu konkreten Glaubenssätzen
oder Verhaltensweisen gemacht hat, sofern er erkennen lässt, dass er über seine
Einordnung in die yezidische Gesellschaft und die Verehrung des weltbewahrenden
Engels Melek Taus informiert ist. Es muss vielmehr eine Gesamtbewertung seines
Vortrags und Verhaltens im Verfahren und in der mündlichen Verhandlung
vorgenommen werden; dabei kann auch die Art und Weise seiner Reaktion auf Fragen
nach religiösen Kenntnissen und nach der religiösen Erziehung von Bedeutung sein.
Ebenfalls in die Bewertung einzubeziehen sind die Stellung des Asylbewerbers im
Kastensystem der Yeziden, die seine Möglichkeiten, religiöse Kenntnisse zu erwerben,
89
maßgeblich bestimmt, sowie sein Alter und die Frage, ob er seine religiöse Prägung
noch in der Türkei oder schon in Deutschland erfahren hat. Hat er im maßgeblichen
Alter - als Jugendlicher oder junger Erwachsener - noch in der Türkei gelebt, ist zu
fragen, ob der Erwerb religiöser Kenntnisse (noch) unbehindert in einer geschützten
yezidischen Umgebung erfolgen konnte oder schon von dem auf die Yeziden
ausgeübten Vertreibungsdruck geprägt war und möglicherweise von dem Bemühen
seiner religiösen Unterweiser, zu seinem Schutz vom Institut der taqiye so weit wie
zulässig Gebrauch zu machen. Ist hingegen der Erwerb religiöser Kenntnisse
maßgeblich erst in Deutschland erfolgt, so wird einerseits zu berücksichtigen sein, dass
die traditionellen Zuordnungen von Laien und Geistlichen im Exil möglicherweise
gestört, entgegen der ursprünglich als unabänderlich angesehenen persönlichen
Verbindung verändert oder teilweise unterbrochen waren und dass die Vermittlung
insbesondere von nicht weiter erklärten Verhaltenstabus in einer rationalen, von
Skepsis gegenüber religiösen Geboten geprägten Umgebung auf besondere
Schwierigkeiten stoßen mag. Andererseits mag das Fehlen religiöser Verfolgung dazu
führen, eine Glaubensbindung umfassender zu vermitteln als dies unter den in der
Türkei herrschenden Bedingungen möglich ist.
Zum Maßstab bei jugendlichen Betroffenen OVG Lüneburg, Urteil vom 24. September
1998 - 11 L 6819/96 -; Urteil vom 29. Mai 1997 - 11 L 6286/91 -; VG Dresden, Urteil vom
23. Juli 1999 - A 4 K 30485/96 -; vgl. BVerwG, Urteil vom 17. August 1993 - 9 C 8.93 -,
DVBl 1994, 60.
90
1.3.3. Nach diesen Maßstäben steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die
Klägerin zwar Yezidin ist, dass sie ihren Glauben jedoch nicht praktiziert.
91
Die Familie der Klägerin stammt aus dem sowohl von Muslimen als auch von Yeziden
bewohnten Dorf Ugurca (kurdisch Korak, im Protokoll der mündlichen Verhandlung vor
dem Verwaltungsgericht als Quriq bezeichnet); zwischen 1980 und 1993 ging die
yezidische Bevölkerung von 37 auf fünf Familien zurück.
92
Sternberg-Spohr, Dokumentation vom 31. Oktober 1993 ("Bestandsaufnahme der
Restbevölkerung der Volksgruppen der kurdischen Ezdi und der christlichen Assyrer in
der Süd-Ost-Türkei im März 1993", aktualisierte Fassung Oktober 1993, S. 20. Nach
dem Bericht von Prieß über die Konsultationsreise in die yezidischen Siedlungsgebiete
vom 5. bis 13. Mai 1989 (Mai 1989, S. 11) lebten damals drei türkische Lehrer und ein
Maschinist als Muslime im Dorf.
93
Die in Deutschland lebenden Geschwister der Klägerin - sechs von insgesamt sieben
Geschwistern - sind wegen ihrer Zugehörigkeit zum yezidischen Glauben als
Asylberechtigte anerkannt. Der ältere Bruder Halil des Vaters der Klägerin hat dem
damaligen Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Dr. Schnoor, auf seiner
Reise durch die Kurdengebiete im Mai 1989 seinen Nüfus mit der Eintragung "yezidi"
gezeigt und über die Familie - unter anderem den Großvater der Klägerin - berichtet.
Auch eine andere aus Deutschland kommende Delegation - unter anderem das
Ehepaar Prieß - ist im Mai 1989 im Dorf Ugurca gewesen und hat sowohl mit dem Onkel
Halil der Klägerin als auch mit ihrem Vater über die Situation der Yeziden gesprochen.
94
Reiseprotokoll vom 15. August 1989 über die Reise von Innenminister Dr. Schnoor in
die Südost-Türkei vom 1. Mai bis 7. Mai, S. 32ff.; Prieß, Bericht über die
Konsultationsreise in die yezidischen Siedlungsgebiete vom 5. bis 13. Mai 1989 (Mai
95
1989), S. 11.
Aufgrund dieser Umstände und Erkenntnisse hat der Senat keine Zweifel daran, dass
die Klägerin einer yezidischen Familie entstammt.
96
Die Klägerin ist jedoch nach Einschätzung des Senats nicht glaubensgebunden; sie
praktiziert den yezidischen Glauben nicht. Maßgebliche Erkenntnisgrundlage sind
insoweit in erster Linie die Aussagen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor
dem Verwaltungsgericht - dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass sie zu jenem
Zeitpunkt erst wenig über 16 Jahre alt war - sowie vor allem vor dem Senat; dass die
Klägerin vier Ladungen zu einer Anhörung bei dem Bundesamt nicht befolgt hat, ist
ihrem damaligen Vormund zuzurechnen und lässt Rückschlüsse zu ihrem Nachteil nicht
zu.
97
In Anwendung der unter 1.3.2. formulierten Maßstäbe kann die Klägerin nicht als
praktizierende Yezidin eingstuft werden. Sie hat in der Anhörung vor dem Senat nur
bruchstückhafte Angaben zu ihrem Glauben machen können und dabei nicht einmal
ansatzweise erkennen lassen, dass sie sich der Notwendigkeit, innerhalb der religiös
geprägten yezidischen Gemeinschaft Kontakte mit ihr aus religiösen Gründen
zugeordneten Personen pflegen zu müssen, bewusst und ihrem Glauben innerlich
verpflichtet ist. Zwar hat sie - nachdem sie zunächst ausschließlich die Grossfamilie als
ihre maßgebliche Bezugsgruppe genannt hatte - angegeben, Kontakt zu einem Pir zu
haben, doch hatte sie offenbar keine konkrete Vorstellung von der Funktion eines Pir
oder eines Sheikh und deren Zuordnung zu jeweils mehreren Familien von Laien; einen
Wohnort des von ihr genannten Pir konnte sie nicht nennen. Im Gegenteil äußerte sie
zunächst die - trotz aller Uneinheitlichkeit der yezidischen Glaubenslehren - fehlerhafte
Ansicht, die Yeziden beteten Pir und Sheikh an. Auch das Konzept des Bruders bzw.
der Schwester "für die Andere Welt" war ihr auch auf mehrfache Nachfrage fremd.
Ebenso wenig war sie in der Lage, ihre eigene Kastenzugehörigkeit anzugeben und
konnte nicht einmal mit dem Begriff der Kaste irgendwelche Vorstellungen verbinden,
sondern bezog sich in ihrer Antwort auf einen kurdischen Volksstamm. Die Rolle des
Melek Taus in der yezidischen Religion war der Klägerin offenkundig gleichfalls nicht
geläufig. Zwar trug sie während des Diktats ihrer ursprünglichen - Melek Taus nicht
erwähnenden - Aussage den Namen dieser im Glauben der Yeziden zentralen Figur
nach und konnte angeben, dass Melek Taus der wichtigste Engel sei, der angebetet
werde. Das Aussageverhalten der Klägerin ließ jedoch gerade im Zusammenhang mit
den auf Melek Taus bezogenen Fragen und Antworten deutlich erkennen, dass sie sich
nur mühsam und bruchstückhaft an einzelne Wissenselemente erinnerte, die sie
wiederzugeben versuchte, dass sie aber damit nicht die Überzeugung verband, den
Kern einer für sie verbindlichen Glaubensüberzeugung zu erfassen und zu beschreiben.
Selbst wenn man berücksichtigt, dass die Klägerin in der Anhörung vor dem Senat
aufgeregt war und dies auch selbst äußerte, so ist der Senat gleichwohl davon
überzeugt, dass nicht diese innerliche Anspannung dazu führte, dass sie genauere und
überzeugende Angaben nicht machen konnte. Vielmehr verfügt sie nicht über ein tiefer
reichendes Wissen über den yezidischen Glauben - obwohl sie angesichts einer
immerhin elfjährigen Schulbildung intellektuell dazu in der Lage wäre - und konnte aus
diesem Grunde keine weiteren Einzelheiten zu den ihr gestellten Fragen nennen.
98
Dass die Klägerin einzelne Angaben zum yezidischen Glauben machen konnte - etwa
zur Notwendigkeit, Dauer und zum Beginn des Winterfastens, zu dem auf
Schweinefleisch bezogenen Speisetabu oder zu der Bevorzugung weißer Bekleidung -,
99
ändert an dieser Einschätzung nichts. Denn es handelt sich bei diesen Details um
Beobachtungen, die in einer yezidischen Umgebung fast zwangsläufig gemacht werden
und vor dem Hintergrund der Aussage der Klägerin im Übrigen nicht den Schluss
zulassen, dass die Klägerin sich als religiös geprägte, in ihrem Glauben verwurzelte
Persönlichkeit empfindet.
Diese Einschätzung wird auch durch den Umstand, dass sechs von den sieben
Geschwistern der Klägerin nach ihren Angaben wegen ihrer Religionszugehörigkeit als
Yeziden anerkannt sind, nicht erschüttert. Denn anders als bei der durch Geburt
vermittelten bloßen Religionszugehörigkeit kann es bei der Beurteilung der
Glaubenspraxis selbstverständlich zu abweichenden Ergebnissen für die einzelnen
Angehörigen einer Familie kommen. Selbst wenn man die religiös geprägte Erziehung
eines Kindes oder Jugendlichen als Indiz für eine ebensolche Erziehung seiner
Geschwister werten mag, gilt eine entsprechende Vermutung nicht für die
Glaubenspraxis eines Erwachsenen.
100
Vor diesem Hintergrund kann offen bleiben, ob der Klägerin bei einer Rückkehr in die
Türkei auch deshalb keine Verfolgung droht, weil sie schon unabhängig von der Frage
der mangelnden Glaubenspraxis nicht der Gruppenverfolgung ausgesetzt wäre. Dies
könnte sich daraus ergeben, dass die Eltern der Klägerin - ihre Einstufung als
glaubensgebundene (prak-tizierende) Yeziden einmal unterstellt - ihrerseits
möglicherweise nicht von Gruppenverfolgung bedroht sind, weil sie in Abweichung von
der mit der Feststellung der Gruppenverfolgung verbundenen Regelannahme einen
sicheren Aufenthalt in der Türkei gefunden haben. Für diese Annahme spricht bereits,
dass beide Eltern und auch der jüngste Bruder der Klägerin diese in Deutschland
besucht haben und anschließend wieder in die Türkei zurückgekehrt sind, vor allem
aber, dass ihr Vater als Bürgermeister eines gemischt muslimisch-yezidischen Dorfes
offenbar akzeptiert wird und dass ihr Onkel sich als Fabrikbesitzer eine gesicherte
Existenz aufgebaut hat. Sollten diese - überaus gewichtigen - Indizien hingegen darauf
hindeuten, dass die in der Türkei verbliebenen Verwandten der Klägerin sich vom
yezidischen Glauben abgewandt haben, so bliebe es bei der Feststellung, dass die
Klägerin als - ebenfalls - nicht praktizierende Yezidin bei einer Rückkehr aus diesem
Grunde nichts zu befürchten hat. Offen bleiben kann auch, ob ein Yezide, der sich erst
nach seiner Ausreise aus der Türkei dieser Religion zugewandt und sie zu praktizieren
begonnen hat, als asylberechtigt anzuerkennen wäre; lediglich für Kinder und
Jugendliche, die ihre religiöse Erziehung im Wesentlichen erst in Deutschland erfahren
haben, lässt sich festhalten, dass in einem solchen Fall eine vor der Ausreise entfaltete
Glaubenspraxis nicht verlangt werden kann. Offen bleiben kann schließlich, ob ein
Yezide, der sich von seinem Glauben - nicht unwiderruflich, sondern lediglich im
Hinblick auf die Glaubenspraxis - abgewandt hatte und diesen wieder zu praktizieren
beginnt, einen Anspruch auf Gewährung politischen Asyls erfolgreich geltend machen
könnte, da sich auch diese Frage für die Klägerin des vorliegenden Verfahrens nicht
stellt.
101
1.4. Die Klägerin hat auch unter anderen Gesichtspunkten keinen Anspruch auf
Anerkennung als Asylberechtigte. Sie hat weder über ihr persönlich vor der Ausreise
aus der Türkei zugefügte asylrelevante Rechtsverletzungen noch über exilpolitische
Aktivitäten berichtet, die einen Asylanspruch stützen könnten; den Akten sind derartige
Aspekte gleichfalls nicht zu entnehmen. Dasselbe gilt hinsichtlich ihrer in Deutschland
lebenden und als Asylberechtigte anerkannten Verwandten, so dass auch eine
Asylanerkennung unter dem Gesichtspunkt der Sippenhaft nicht in Betracht kommt.
102
Nach der in das Verfahren eingeführten Rechtsprechung des Senats
OVG NRW, Urteil vom 25. Januar 2000 - 8 A 1292/96.A -, Rz 32ff.
103
unterliegt sie auch als Kurdin nicht einer Gruppenverfolgung in der Türkei.
104
2. Die Klägerin hat aus den unter 1. dargestellten Gründen auch keinen Anspruch auf
Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG in ihrer Person.
105
3. Die Berufung bleibt auch mit dem zulässigen Hilfsantrag erfolglos.
Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG bestehen für die Klägerin nicht.
Insbesondere muss sie weder befürchten, in der Türkei der Folter oder unmenschlicher
oder erniedrigender Behandlung unterworfen zu werden noch droht ihr nach den
vorstehenden Ausführungen dort konventionswidrige Behandlung aufgrund religiöser
Verfolgung.
106
4. Die Abschiebungsandrohung in Ziffer 4. des Bescheides des Bundesamtes findet ihre
Rechtsgrundlage in § 34 i.V.m. § 38 AsylVfG.
107
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b Abs. 1 AsylVfG.
Der Ausspruch über ihre vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§
708 Nr. 10, 711 ZPO.
108
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO
nicht gegeben sind.
109