Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 15.09.2006

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Oberverwaltungsgericht NRW, 12 A 126/06
Datum:
15.09.2006
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
12 A 126/06
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Münster, 5 K 3782/04
Tenor:
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das
Gerichtskosten nicht erhoben werden.
G r ü n d e:
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Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist unbegründet, weil die
beabsichtigte Rechtsverfolgung aus den nachstehenden Gründen keine hinreichende
Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO, § 114 Satz 1 ZPO).
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet.
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Das Zulassungsvorbringen führt nicht zu ernstlichen Zweifeln i.S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 1
VwGO. Es vermag die - selbständig tragende - Annahme des Verwaltungsgerichts, der
Einbau einer für Rollstuhlfahrer besonders ausgestatteten Terrassentür sei nicht
erforderlich, um der verstorbenen Mutter der Klägern ein menschenwürdiges Leben
i.S.d. § 1 Abs. 2 Satz 1 BSHG zu ermöglichen, nicht in Frage zu stellen.
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Aus der Aufgabenstellung der Sozialhilfe nach § 1 Abs. 2 Satz 1 BSHG folgt, dass bei
der Hilfegewährung auf die jeweils herrschenden Lebensgewohnheiten und
Erfahrungen Rücksicht zu nehmen ist und die Hilfe es ihrem Empfänger ermöglichen
soll, in der Umgebung von Nichthilfeempfängern ähnlich wie diese zu leben. Dieser
Maßstab eignet sich allerdings nicht dazu, der Sozialhilfe die Gewährleistung eines
sozialen Mindeststandards und eine höchstmögliche Ausweitung der Hilfen
aufzugeben. Vielmehr vermag eine solche Betrachtungsweise sozialhilferechtlich nur
Geltung zu beanspruchen, soweit auch sie sich am Menschenwürdeschutz orientiert.
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Nur im Rahmen dessen, was zur Führung eines menschenwürdigen Lebens gehört,
muss die Sozialhilfe dem Hilfeempfänger Lebensgewohnheiten und Lebensumstände
der übrigen Bevölkerung und eine Gleichstellung mit ihr ermöglichen. Unzulässig wäre
danach eine Ausgestaltung der Hilfegewährung, die der Hilfeempfänger als
diskriminierend empfinden müsste, weil sie ihn gegenüber der übrigen Bevölkerung
herabsetzt. Dies wäre insbesondere dann der Fall, wenn die Ausgestaltung der
Hilfegewährung als allgemein unzumutbar gewertet würde. Was jedermann als
unzumutbar erscheint und was nach den allgemeinen Lebensgewohnheiten und
Lebensumständen deshalb gemieden zu werden pflegt, darf nach der Rechtssprechung
des Bundesverwaltungsgerichts auch einem Sozialhilfeempfänger nicht zugemutet
werden.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Juli 2000 - 5 C 43.99 -, BVerwGE 111, 328 ff., Urteil vom
18. Dezember 1997 - 5 C 7.95 -, BVerwGE 106, 99 ff., Urteil vom 9. Februar 1995 - 5 C
2.93 -, BVerwGE 97, 376 ff., Beschluss vom 18. November 1991 - 5 B 43.90 -, Buchholz
436.0 § 1 BSHG Nr. 9, Urteil vom 14. März 1991 - 5 C 70.86 -, Buchholz 436.0 § 4
BSHG Nr. 4.
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Das Verwaltungsgericht hat insoweit auf Seite 6, 3. Absatz des Urteilsabdrucks
ausgeführt, dass auch Wohnungen von Nichthilfebedürftigen, gerade bei unteren
Einkommensgruppen, nicht regelmäßig über Balkon oder Terrasse verfügten, so dass
unter dem Gesichtspunkt der Gewährleistung eines menschenwürdigen Lebens und der
Vermeidung der Ausgrenzung von Hilfebedürftigen diesen ebenfalls zugemutet werden
könne, auf die Nutzung eines Gartens oder einer Terrasse zu verzichten. Dass unter
Berücksichtigung der herrschenden Lebensgewohnheiten, insbesondere des
Verbraucherverhaltens unterer Einkommensgruppen,
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vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 1997
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- 5 C 7.95 -, a.a.O.,
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ein derartiger Verzicht die Menschwürde der verstorbenen Mutter der Kläger verletzt
oder diese sozial ausgegrenzt hätte, ist in der Zulassungsbegründung nicht dargelegt.
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Diesbezügliche Anhaltspunkte sind auch sonst nicht ersichtlich. Dabei ist in Rechnung
zu stellen, dass nach den - insoweit nicht in Frage gestellten - Feststellungen des
Verwaltungsgerichts die verstorbene Mutter der Kläger während der Woche sich
ohnehin in einer Tagespflegeeinrichtung aufhalten sollte, so dass sich hier die konkrete
Fragestellung darauf verengt, ob ein Hilfebedürftiger, der abends in der Woche und am
Wochenende nicht in seinem Rollstuhl auf der Terrasse sitzen kann,
menschenunwürdig behandelt und sozial ausgegrenzt wird. Auch hierzu ist im
Zulassungsantrag nichts aufgeführt.
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Hinzu kommt, dass, wie das Verwaltungsgericht - ebenfalls unbestritten - ausgeführt hat,
dass die verstorbene Mutter der Kläger in der Zeit, in der sie sich in der ihr zugedachten
Wohnung aufgehalten hätte, auf die Hilfe der Kläger, ihrer beiden Söhne, hätte
zurückgreifen können, die mit in das Haus bzw. sogar mit in die Wohnung ihrer
verstorbenen Mutter einziehen wollten und sich - wie die bisherigen Bemühungen
ausweisen - in besonderer Weise um das Wohl ihrer Mutter gesorgt haben.
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Dass die Kläger angesichts ihres großen Engagements nicht in der Lage gewesen
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wären, ihrer Mutter in der Zeit ihres Aufenthaltes in der Wohnung frische Luft zu
verschaffen, wird in der Zulassungsbegründung nicht substantiiert in Frage gestellt.
Abgesehen davon ist auch nichts dafür ersichtlich, dass, wären die Kläger im Einzelfall
verhindert gewesen, nicht auch ein Pflegedienst für die erforderliche Frischluftzufuhr
hätte sorgen können.
Der Einwand der Kläger, die Terrassentür gewährleiste die einzige Fluchtmöglichkeit in
einer Gefahrensituation, rechtfertigt keine andere Bewertung. So ist schon nicht
dargelegt, dass die verstorbene, schwerstbehinderte Mutter der Kläger, die, wie die
Kläger etwa im Verfahren 12 A 128/06 geltend machen, an einem zunehmenden Ausfall
motorischer Fähigkeiten litt und eine normale PC-Tastatur nicht mehr bedienen konnte,
in einem Notfall in der Lage gewesen wäre, selbständig ihren Rollstuhl zu erreichen,
diesen selbständig zielgerichtet zu steuern und darüber hinaus den elektrischen
Öffnungsmechanismus oder die Fernbedienung zur Öffnung der Terrassentür sicher zu
bedienen. Kann daher in Ermangelung einer substantiierten Darlegung nicht davon
ausgegangen werden, dass die verbliebenen motorischen Fähigkeiten der verstorbenen
Mutter der Kläger für die vorstehend beschriebene Selbsthilfe ausreichten, wäre die
Mutter der Kläger auch in Notfällen auf die - über entsprechende
Notrufe/Notrufschaltungen anzufordernde - Hilfe Dritter angewiesen gewesen. Dass im
Falle einer derartigen Hilfeleistung durch Dritte der Einbau einer behindertengerechten
Terrassentür notwendig gewesen wäre, wird nicht geltend gemacht und ist auch im
Übrigen nicht ersichtlich.
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Auf die übrigen - ebenfalls selbständig tragenden - Begründungen des
Verwaltungsgerichts kommt es danach nicht mehr an.
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Hinsichtlich der des weiteren erhobenen Abweichungsrüge (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO)
fehlt es schon an der hinreichend bestimmten Bezeichnung "der Entscheidungen des
Oberverwaltungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts", von denen das
angefochtene Urteil abweichen soll. Die erforderliche Bezeichnung mit Datum und
Aktenzeichen ist nicht erfolgt. Darüber hinaus sind auch keine abstrakten Rechtssätze
der vorgenannten Gerichte dargelegt, von denen das angefochtene Urteil hätte
abweichen können.
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In Bezug auf die erhobene Verfahrensrüge (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) fehlt es in jeder
Hinsicht an der insoweit erforderlichen Darlegung konkreter Verfahrensmängel, auf
denen die Entscheidung beruhen kann. Soweit geltend gemacht wird, es hätte eines
richterlichen Hinweises bedurft, wenn die Zahlung durch den Kläger nicht für glaubhaft
gehalten worden sei, betrifft dies die vom Verwaltungsgericht ohnehin offengelassene
Frage der Vererblichkeit von Sozialhilfeansprüchen, so dass die Entscheidung auf
einem diesbezüglichen Verfahrensfehler - für den hier allerdings nichts spricht - nicht
beruhen kann.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2, 1. Halbsatz VwGO.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Das angefochtene Urteil ist
rechtskräftig (§ 124 a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
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