Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 15.11.1999
OVG NRW: genfer flüchtlingskonvention, sozialhilfe, abkommen, innerstaatliches recht, völkerrechtskonforme auslegung, völkerrechtlicher vertrag, aufenthaltserlaubnis, zusatzprotokoll, fürsorge
Oberverwaltungsgericht NRW, 22 A 45/99
Datum:
15.11.1999
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
22. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
22 A 45/99
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 20 K 12976/96
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Der Beklagte wird unter Aufhebung seines Bescheides vom 25.
September 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.
November 1996 und der Klarstellung in der mündlichen Verhandlung vor
dem Verwaltungsgericht vom 30. Oktober 1998 verpflichtet, dem Kläger
laufende Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe für die Zeit
vom 1. November 1996 bis zum 17. Februar 1997 zu gewähren.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen, für
das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte
darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor
Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
1
Der 1957 geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger. Er reiste im September
1994 in das Bundesgebiet ein und beantragte seine Anerkennung als Asylberechtigter.
Nachdem das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge durch
Bescheid vom 21. Oktober 1994 festgestellt hatte, daß für den Kläger hinsichtlich der
Republik Irak ein Abschiebungshindernis nach § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes
(AuslG) besteht, erteilte der (Sachsen- Anhalt) dem Kläger am 27. Dezember 1994 eine
auf zwei Jahre befristete Aufenthaltsbefugnis.
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Im März 1995 verzog der Kläger nach . Vom 1. April 1995 an gewährte der Beklagte
3
dem Kläger laufende (zum Teil ergänzende) Hilfe zum Lebensunterhalt. Mit Bescheid
vom 25. September 1996 teilte der Beklagte dem Kläger mit, daß die
Sozialhilfegewährung mit Ablauf des 31. Oktober 1996 eingestellt werde. Zur
Begründung führte der Beklagte aus: Nach § 120 Abs. 5 Satz 2 des
Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) dürfe der für den tatsächlichen Aufenthaltsort
zuständige Sozialhilfeträger Ausländern, die zwar eine räumlich nicht beschränkte
Aufenthaltsbefugnis besäßen, sich aber außerhalb des Landes aufhielten, in dem die
Aufenthaltsbefugnis erteilt worden sei, nur die nach den Umständen unabweisbar
gebotene Hilfe leisten. Hierbei handele es sich in erster Linie um die Gewährung eines
Fahrgutscheins zurück in das Bundesland, in dem die Aufenthaltsbefugnis erteilt
worden sei.
Den vom Kläger hiergegen eingelegten Widerspruch, den er insbesondere damit
begründete, daß bei Anwendung des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG die durch das
Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer
Flüchtlingskonvention -GFK-, BGBl. 1953 II S. 560) gewährte Rechtsposition unzulässig
eingeschränkt werde, wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14. November
1996 als unbegründet zurück.
4
Der Kläger beantragte am 14. Oktober 1996 beim Verwaltungsgericht Düsseldorf - 20 L
3902/96 - den Erlaß einer einstweiligen Anordnung bezüglich der Weitergewährung der
Sozialhilfeleistungen über den Monat Oktober 1996 hinaus. Diesen Antrag lehnte das
Verwaltungsgericht mit Beschluß vom 24. Oktober 1996 ab; die hiergegen gerichtete
Beschwerde wies das erkennende Gericht mit Beschluß vom 10. Juni 1997 - 24 B
3003/96 - als unbegründet zurück. Im Rahmen des Eilverfahrens gab der Antragsteller
an, er habe seit dem 1. November 1996 eine nicht sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung, aus der er einen monatlichen Arbeitslohn von 520,-- DM beziehe.
5
Am 19. Dezember 1996 hat der Kläger Klage erhoben.
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Während des Klageverfahrens beantragte der Kläger am 10. Januar 1997 bei der
Ausländerbehörde des Beklagten die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung. Der
Beklagte erteilte ihm am 23. September 1997 eine weitere auf ein Jahr befristete
Aufenthaltsbefugnis. Zum 17. Februar 1997 nahm der Kläger ein
Beschäftigungsverhältnis in auf. Am 9. April 1998 verzog er nach .
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In der mündlichen Verhandlung vom 30. Oktober 1998 vor dem Verwaltungsgericht hat
der Beklagte klargestellt, daß durch die angefochtenen Bescheide die Ablehnung der
Hilfeleistung auf der Grundlage des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG für die Dauer des
Aufenthaltes erfolgt sei.
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Zur Begründung der Klage hat der Kläger unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme
des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) zur
Anwendbarkeit des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG auf Flüchtlinge im Sinne der Genfer
Flüchtlingskonvention von August 1996 im wesentlichen vorgetragen: Art. 23 GFK
genieße als speziellere Regelung gegenüber § 120 Abs. 5 BSHG Vorrang. Dies werde
auch durch die Vorschrift des § 120 Abs. 1 Satz 3 BSHG bestätigt, wonach
Rechtsvorschriften unberührt blieben, nach denen außer den in Satz 1 genannten
Leistungen auch sonstige Sozialhilfe zu gewähren sei. Art. 23 GFK bestimme, daß
Konventionsflüchtlinge in Sozialhilfeangelegenheiten Anspruch auf die gleiche
Behandlung hätten, wie sie deutschen Staatsangehörigen gewährt werde. Dies bedeute
9
eine Gleichbehandlung nicht nur nach Art und Umfang, sondern auch nach dem Ort der
Leistungsgewährung. Die durch Art. 23 und 26 GFK einem Flüchtling gewährte
Rechtsposition werde bei Anwendung des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG unzulässig
eingeschränkt, da weder allgemeine ausländerrechtliche Bestimmungen eine
Beschränkung des Aufenthalts vorsähen, noch deutsche Sozialhilfeempfänger einem
derart rigiden indirekten Umzugsverbot unterworfen seien. § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG
sei deshalb völkerrechtskonform dahingehend auszulegen, das er auf
Konventionsflüchtlinge keine Anwendung finde. Die Nichtanwendbarkeit von § 120 Abs.
5 Satz 2 BSHG ergebe sich außerdem aus Art. 1 des Europäischen
Fürsorgeabkommens (EFA) vom 11. Dezember 1953 in Verbindung mit Art. 1 und 2 des
Zusatzprotokolls zu diesem Abkommen.
Der Kläger hat beantragt,
10
den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 25. September 1996 in Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 14. November 1996 und der Klarstellung in der
mündlichen Verhandlung vom 30. Oktober 1998 zu verpflichten, ihm Hilfe zum
Lebensunterhalt nach den gesetzlichen Bestimmungen für die Zeit vom 1. November
1996 bis zum 17. Februar 1997 zu gewähren.
11
Der Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er hat darauf verwiesen, daß die auf der Grundlage des Gesetzes getroffene
Entscheidung durch die bisherige Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts und
des Verwaltungsgerichts Düsseldorf gestützt werde.
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Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch Urteil vom 30. Oktober 1998 im
wesentlichen aus folgenden Gründen abgewiesen: Weder Art. 23 und 26 GFK noch die
Bestimmung des § 120 Abs. 1 Satz 3 BSHG stünden der Anwendung von § 120 Abs. 5
Satz 2 BSHG entgegen. Das Bundesverfassungsgericht habe bestätigt, daß eine
Auslegung des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG, wonach dieser nicht hinter den
Bestimmungen des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge zurücktrete,
nicht willkürlich sei. Der Zweck dieser Vorschrift, die hohen und lang andauernden
Sozialhilfelasten auf die Bundesländer angemessen zu verteilen und mißbräuchlicher
Inanspruchnahme von Sozialhilfe entgegenzuwirken, rechtfertige eine solche
Auslegung. Auch das Europäische Fürsorgeabkommen in Verbindung mit Art. 1 und 2
des Zusatzprotokolls zu diesem Abkommen stehe der Anwendung des § 120 Abs. 5
Satz 2 BSHG nicht entgegen. Der Kläger unterfalle zwar als Flüchtling dem
Europäischen Fürsorgeabkommen, auch wenn er irakischer Staatsbürger sei. Eine
räumliche Beschränkung des Rechts auf Fürsorge für Flüchtlinge innerhalb eines
Vertragsstaates sei aber nach Sinn und Zweck des Abkommens unbedenklich.
Schließlich stehe § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG dem Anspruch des Klägers auch für die
Zeit ab dem 10. Januar 1997 entgegen. Allerdings habe der Kläger zu diesem Zeitpunkt
die Verlängerung seiner Aufenthaltsbefugnis bei dem Beklagten beantragt und dieser
habe dem Kläger in der Folgezeit entsprechende Bescheinigungen darüber erteilt. Dies
stehe jedoch der Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis, die erst am 23. September 1997
erfolgt sei, nicht gleich. Es komme deshalb nicht darauf an, ob die Verlängerung einer
Aufenthaltsbefugnis der Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis im Sinne des § 120 Abs. 5
Satz 2 BSHG gleichstehe. Abgesehen davon sei diese Frage entgegen einer vom
15
Bundesverfassungsgericht geäußerten Auffassung, der insoweit keine Bindungswirkung
zukomme, zu verneinen.
Zur Begründung der mit Beschluß vom 22. Juni 1999 zugelassenen Berufung
wiederholt und vertieft der Kläger sein Vorbringen im erstinstanzlichen Verfahren.
16
Der Kläger beantragt,
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das angefochtene Urteil zu ändern und nach dem erstinstanzlichen Klageantrag zu
erkennen.
18
Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
20
Er wiederholt zur Begründung im wesentlichen die Ausführungen des angefochtenen
Urteils.
21
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte, der Akte in dem Verfahren Verwaltungsgericht Düsseldorf 20 L 3902/96
und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
22
Entscheidungsgründe:
23
Die Berufung ist zulässig und begründet.
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Das Verwaltungsgericht hat zu Recht die Klage insgesamt als zulässig angesehen.
Insoweit wird auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung verwiesen.
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Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 25. September 1996 in
der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. November 1996 und der Klarstellung
in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht vom 30. Oktober 1998 ist
rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 der
Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -). Der Kläger hat einen Anspruch gegen den
Beklagten auf laufende Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe für die Zeit vom
1. November 1996 bis zum 17. Februar 1997.
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Dieser Anspruch ergibt sich aus §§ 11 Abs. 1, 12 Abs. 1 BSHG in Verbindung mit der
Regelsatzverordnung. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 BSHG ist Hilfe zum Lebensunterhalt
dem zu gewähren, der seinen notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht
ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem aus seinem Einkommen und
Vermögen, beschaffen kann. Es ist zwischen den Beteiligten unstreitig und steht auch
im übrigen außer Frage, daß der Kläger in dem hier fraglichen Zeitraum seinen
notwendigen Lebensunterhalt nicht vollständig aus eigenen Kräften und Mitteln, vor
allem nicht aus seinem Einkommen und Vermögen, beschaffen konnte.
27
Dem Sozialhilfeanspruch des Klägers steht nicht der in § 2 Abs. 1 BSHG normierte
Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe entgegen. Danach erhält Sozialhilfe nicht, wer
sich selbst helfen kann oder wer die erforderliche Hilfe von anderen, besonders von
Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält. Der Kläger kann nicht
darauf verwiesen werden, daß er seinerzeit die erforderliche Hilfe zweifellos von einem
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Sozialhilfeträger in Sachsen-Anhalt erhalten hätte, wenn er sich in dieses Bundesland
begeben hätte. Denn § 2 Abs. 1 BSHG sieht ausdrücklich vor, daß der Nachrang der
Sozialhilfe nur eingreift, wenn die erforderliche Hilfe (u.a.) von Trägern anderer
Sozialleistungen, also gerade nicht von Sozialhilfeträgern, erbracht wird.
Dem Sozialhilfeanspruch des Klägers stehen auch nicht die Vorschriften des § 120 Abs.
2 und Abs. 5 BSHG entgegen, obwohl diese Bestimmungen nach ihrem Wortlaut einen
Sozialhilfeanspruch des Klägers gegen den Beklagten ausschließen könnten.
29
In der Zeit vom 1. November 1996 bis zum 27. Dezember 1996 lagen die
Voraussetzungen des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG vor. Nach § 120 Abs. 5 Satz 1 darf der
für den tatsächlichen Aufenthaltsort zuständige Träger der Sozialhilfe Ausländern in den
Teilen der Bundesrepublik Deutschland, in denen sie sich einer ausländerrechtlichen
räumlichen Beschränkung zuwider aufhalten, nur die nach den Umständen
unabweisbar gebotene Hilfe leisten. Das gleiche gilt nach Satz 2 der Vorschrift für
Ausländer, die eine räumlich nicht beschränkte Aufenthaltsbefugnis besitzen, wenn sie
sich außerhalb des Landes aufhalten, in dem die Aufenthaltsbefugnis erteilt worden ist.
Der Kläger war bis zum 27. Dezember 1996 im Besitz einer räumlich nicht beschränkten
Aufenthaltsbefugnis, die vom im Bundesland Sachsen-Anhalt erteilt worden war; er hielt
sich aber nicht in diesem Bundesland, sondern im Gebiet des Beklagten in Nordrhein-
Westfalen auf.
30
Nach § 120 Abs. 2 BSHG erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 des
Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) keine Leistungen der Sozialhilfe. Es spricht
alles dafür, daß der Kläger in der Zeit vom 28. Dezember 1996 bis zum 17. Februar
1997 leistungsberechtigt nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylbLG in der Fassung des Gesetzes
vom 30. Juni 1993, BGBl. I S. 1074 gewesen ist. Hiernach waren leistungsberechtigt
nach diesem Gesetz Ausländer, die sich tatsächlich im Bundesgebiet aufhielten und die
vollziehbar ausreisepflichtig waren. Der Kläger dürfte in dem genannten Zeitraum
vollziehbar ausreisepflichtig gemäß § 42 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 des Ausländergesetzes in
der Fassung vom 9. Juli 1990, BGBl. I S. 1354 (AuslG) gewesen sein. Er verfügte über
keinen Aufenthaltstitel und den Antrag auf Erteilung bzw. Verlängerung der
Aufenthaltsgenehmigung hatte er erst nach Ablauf der bis zum 27. Dezember 1996
befristeten Aufenthaltsbefugnis gestellt, so daß die Fiktion des § 69 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2
AuslG nicht eingreifen dürfte.
31
Eine abschließende Entscheidung ist insoweit jedoch hier nicht erforderlich, da in dem
gesamten streitigen Zeitraum weder § 120 Abs. 2 BSHG noch § 120 Abs. 5 Satz 2
BSHG anwendbar ist.
32
Ihrer Anwendung steht Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) vom 11.
Dezember 1953 (BGBl. II 1956, S. 564) in Verbindung mit Art. 1 und 2 des
Zusatzprotokolls zu diesem Abkommen entgegen.
33
Nach Art. 1 EFA verpflichtet sich jeder Vertragschließende, den Staatsangehörigen der
anderen Vertragschließenden, die sich in irgendeinem Teil seines Gebietes, auf das
dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende
Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den
gleichen Bedingungen Leistungen der sozialen und der Gesundheitsfürsorge zu
gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebietes geltenden Gesetzgebung
vorgesehen sind. Dabei sind "Staatsangehörige" der Bundesrepublik Deutschland alle
34
Deutschen im Sinne des Grundgesetzes; das Gebiet, auf das das Abkommen in der
Bundesrepublik Deutschland Anwendung findet, ist der Geltungsbereich des
Grundgesetzes, also das gesamte Bundesgebiet (vgl. Art. 2 (a) (ii) EFA iVm der
entsprechenden Erklärung der Bundesrepublik Deutschland, Bekanntmachung über das
Inkrafttreten sowie über den Geltungsbereich... des Europäischen
Fürsorgeabkommens... vom 8. Januar 1958, BGBl. 1958 II S. 18, 56). Zu den Leistungen
der sozialen Fürsorge im Sinne von Art. 1 EFA gehören in Deutschland u.a. die im
Bundessozialhilfegesetz vorgesehenen Leistungen (vgl. Art. 2 (b) EFA iVm Anhang I idF
der Bekanntmachung vom 8. Mai 1991, BGBl. II, S. 686).
Der Kläger gehört zu dem durch die Bestimmungen des Europäischen
Fürsorgeabkommens geschützten Personenkreis.
35
Es ist unschädlich, daß er nicht Staatsangehöriger eines der Vertragsstaaten des
Europäischen Fürsorgeabkommens ist. Art. 2 des Zusatzprotokolls zum Europäischen
Fürsorgeabkommen bestimmt nämlich, daß die Vorschriften des Teils I (also auch Art. 1)
des Fürsorgeabkommens auf die Flüchtlinge unter den gleichen Voraussetzungen
Anwendung finden wie auf die Staatsangehörigen der Vertragschließenden. Nach Art. 1
des Zusatzprotokolls hat der Ausdruck "Flüchtling" im Sinne dieses Protokolls die
Bedeutung, die ihm in Art. 1 des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der
Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 gegeben wird.
36
Da dem Kläger ausweislich des unanfechtbaren Bescheides des Bundesamtes für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 21. Oktober 1994 die in § 51 Abs. 1 AuslG
bezeichneten Gefahren drohen, ist er gemäß § 3 AsylVfG Flüchtling im Sinne der Genfer
Flüchtlingskonvention.
37
Das Zusatzprotokoll ist nicht so zu verstehen, daß es sich nur auf Flüchtlinge im Sinne
von Art. 1 GFK bezieht, die in einem anderen als dem die Fürsorge gewährenden
Vertragsstaat als Flüchtling anerkannt worden sind, weil auch im übrigen zu dem vom
Europäischen Fürsorgeabkommen privilegierten Personenkreis nur die
Staatsangehörigen eines anderen Vertragsstaates gehörten und kein Grund dafür
ersichtlich sei, Flüchtlinge, die keinerlei Bezug zu einem anderen Vertragsstaat
aufweisen, in den Regelungsbereich des Fürsorgeabkommens einzubeziehen.
38
Vgl. Verwaltungsgericht (VG) Münster, Beschluß vom 16. April 1998 - 5 L 381/98 -.
39
Für eine solche (einschränkende) Auslegung des Begriffs "Flüchtling" findet sich im
Wortlaut des Zusatzprotokolls kein Anhalt. Sie hätte zudem zur Folge, daß sich
Flüchtlinge bemühen würden, vom Anerkennungsstaat in einen anderen Vertragsstaat
weiter zu wandern, um in den Genuß von Fürsorgeleistungen auf der Grundlage des
Europäischen Fürsorgeabkommens zu gelangen. Einer solchen Wanderungsbewegung
entgegenzuwirken, dürfte aber gerade maßgeblicher Zweck des Zusatzprotokolls
gewesen sein. Außerdem wäre eine solche Auslegung unter humanitären Aspekten,
denen das Zusatzprotokoll (auch) dienen dürfte, wenig sachgerecht.
40
In der Zeit vom 1. November 1996 bis zum 27. Dezember 1996 hielt sich der Kläger
auch, wie es Art. 1 EFA fordert, im Bereich des Beklagten erlaubt auf im Sinne von Art.
11 (a) Satz 1 EFA. Hiernach gilt der Aufenthalt eines Ausländers im Gebiet eines der
Vertragschließenden solange als erlaubt im Sinne des Abkommens, als der Beteiligte
im Besitz einer gültigen Aufenthaltserlaubnis oder einer anderen in den
41
Rechtsvorschriften des betreffenden Staates vorgesehenen Erlaubnis ist, aufgrund
welcher ihm der Aufenthalt in diesem Gebiet gestattet ist. Um welche Art von Erlaubnis
es sich dabei handeln kann, wird durch den Anhang III zum Abkommen bestimmt, der
nach Art. 19 EFA Bestandteil dieses Abkommens ist. In ihm sind die Urkunden
verzeichnet, die als Nachweis des Aufenthalts im Sinne des Art. 11 EFA anerkannt
werden. Mit den dort aufgeführten Urkunden sind die Erlaubnistatbestände
abschließend genannt, aufgrund derer der Aufenthalt des ausländischen
Staatsangehörigen erlaubt ist.
Vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 14. März 1985 - 5 C 145.83 -,
Fürsorgerechtliche Entscheidungen der Verwaltungs- und Sozialgerichte (FEVS) 34,
221, 226 = BVerwGE 71, 139.
42
In dem Anhang III zum EFA in der ab dem 1. Februar 1991 gültigen Fassung der
Bekanntmachung vom 8. Mai 1991 (BGBl. II S. 686) ist für die Bundesrepublik
Deutschland als Urkunde, die als Nachweis des Aufenthalts im Sinne des Art. 11 EFA
anerkannt wird, zunächst die "Aufenthaltsgenehmigung nach § 5 des
Ausländergesetzes vom 9. Juli 1990, auf besonderem Blatt erteilt oder im Ausweis
eingetragen" genannt. Nach § 5 Nr. 4 AuslG wird die Aufenthaltsgenehmigung (u.a.) als
Aufenthaltsbefugnis (§ 30 AuslG) erteilt. Der Kläger war bis zum 27. Dezember 1996 im
Besitz einer Aufenthaltsbefugnis. Unerheblich ist es, daß diese ihm nicht unmittelbar auf
der Grundlage des § 30 AuslG erteilt worden ist, sondern auf der Grundlage der
spezielleren Vorschrift des § 70 AsylVfG. § 70 AsylVfG in der seit dem 1. Juli 1992
geltenden Fassung entspricht nämlich im wesentlichen § 30 Abs. 5 Satz 1 AuslG in der
Fassung des Gesetzes vom 9. Juli 1990 und gehört deshalb zu den zum Nachweis des
erlaubten Aufenthaltes geeigneten Nachweisen.
43
In der Zeit vom 28. Dezember 1996 bis zum 9. Januar 1997 war der Aufenthalt des
Klägers im Bundesgebiet hingegen nicht erlaubt. In diesem Zeitraum war der Kläger
nicht im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung nach § 5 AuslG. Auch die anderen im
Anhang III zum Europäischen Fürsorgeabkommen genannten Tatbestände (
"Aufenthaltserlaubnis für Angehörige eines Mitgliedsstaates der EWG" und
"Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis, nachgewiesen durch eine entsprechende
Bescheinigung oder durch Eintragung im Ausweis: 'Ausländerbehördlich erfaßt'") waren
nicht erfüllt. Fraglich ist, ob der Aufenthalt des Klägers in der Folgezeit vom 10. Januar
1997 bis zum 17. Februar 1997 als erlaubt im Sinne des Europäischen
Fürsorgeabkommens anzusehen ist, weil der Kläger am 10. Januar 1997 einen Antrag
auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung gestellt hat. Auch wenn dies in dem
Anhang III nicht ausdrücklich ausgeführt ist, spricht einiges dafür, daß die Beantragung
einer Aufenthaltserlaubnis (oder allgemein einer Aufenthaltsgenehmigung) nur dann
dem Nachweis eines erlaubten Aufenthaltes dienen kann, wenn der Antrag die Fiktion
des § 69 Abs. 3 AuslG auslöst. Dies ist hier aber deshalb nicht der Fall, weil der Kläger
den Antrag auf Aufenthaltsgenehmigung nicht zu einem Zeitpunkt gestellt hat, zu dem er
sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielt. Die Voraussetzungen des § 69 Abs. 3 Satz 1
Nr. 2 AuslG waren deshalb nicht erfüllt.
44
Vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: August 1999, Rdnr. 36 zu § 69 AuslG m.w.N.
45
Doch unabhängig davon, ob der Aufenthalt des Klägers in dem Zeitraum vom 28.
Dezember 1996 bis zum 17. Februar 1997 erlaubt im Sinne des Europäischen
Fürsorgeabkommens war oder nicht, gehört der Kläger zu dem nach diesem Abkommen
46
berechtigten Personenkreis. Denn nach Art. 11 (a) Satz 2 EFA darf die Fürsorge nicht
deswegen versagt werden, weil die Verlängerung der Erlaubnis lediglich infolge einer
Nachlässigkeit des Beteiligten unterblieben ist. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Wie
sich aus dem engen zeitlichen Zusammenhang zwischen Ablauf der
Aufenthaltsbefugnis und erneutem Antrag auf Aufenthaltsgenehmigung ergibt, hat es der
Kläger lediglich aus Nachlässigkeit versäumt, rechtzeitig die Verlängerung seiner
Aufenthaltsbefugnis zu beantragen. Hätte der Kläger vor dem 28. Dezember 1996 den
Antrag gestellt, wäre sein Aufenthalt gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AuslG während des
gesamten Zeitraums als erlaubt im Sinne von Art. 11 (a) Satz 1 EFA in Verbindung mit
dem Anhang III anzusehen gewesen.
Unschädlich ist es, daß im Anhang III als Erlaubnistatbestand insoweit lediglich die
Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis erwähnt ist, während der Kläger allgemein eine
Aufenthaltsgenehmigung beantragt (und eine Aufenthaltsbefugnis erhalten) hat. In § 69
Abs. 3 AuslG werden alle Arten von Aufenthaltsgenehmigungen gleich behandelt. Die
Erlaubnisfiktion wird unabhängig davon ausgelöst, welcher Aufenthaltstitel konkret
beantragt wird. Es besteht deshalb kein Grund dafür, daß im Sinne des
Fürsorgeabkommens nur der Antrag auf Aufenthaltserlaubnis zum erlaubten Aufenthalt
führt. Die insoweit unzutreffende Formulierung in Anhang III geht darauf zurück, daß die
Fiktion des erlaubten Aufenthaltes während der Geltung des Ausländergesetzes vom
28. April 1965 (BGBl. I S. 353 - AuslG 1965 -) nur bei Beantragung einer
Aufenthaltserlaubnis eintrat (§ 21 Abs. 3 AuslG 1965); den heutigen Begriff der
Aufenthaltsgenehmigung kannte das Ausländergesetz 1965 noch nicht.
47
Gehört der Kläger nach alledem zu dem vom Europäischen Fürsorgeabkommen
geschützten Personenkreis, hat er den geltend gemachten Anspruch auf Hilfe zum
Lebensunterhalt. Denn Art. 1 EFA schließt für die in den Schutzbereich des Abkommens
fallenden Ausländer die Anwendung von § 120 Abs. 2 BSHG und § 120 Abs. 5 Satz 2
BSHG aus.
48
Dies läßt sich allerdings nicht bereits unmittelbar aus § 120 Abs. 1 Satz 3 BSHG
herleiten. Nach dieser Vorschrift bleiben Rechtsvorschriften, nach denen außer den in
Satz 1 genannten Leistungen auch sonstige Sozialhilfe zu gewähren ist oder gewährt
werden soll, unberührt. Die Bestimmungen des Europäischen Fürsorgeabkommens,
dem der Bundestag gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes mit Zustimmung
des Bundesrates zugestimmt hat (Gesetz vom 15. Mai 1956, BGBl. II S. 563), sind zwar
innerstaatlich anwendbares Bundesrecht, das unmittelbar Rechte und Pflichten des
Einzelnen begründet und deshalb zu den in § 120 Abs. 1 Satz 3 BSHG genannten
Rechtsvorschriften gehört.
49
Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. März 1985 - 5 C 145.83 -, FEVS 34, 221, 223 f. = BVerwGE
71, 139.
50
Der Vorbehalt in § 120 Abs. 1 Satz 3 BSHG bezieht sich aber nicht auf sämtliche in §
120 BSHG getroffenen Regelungen, sondern allein auf die Vorschrift des § 120 Abs. 1
Satz 1 BSHG. Dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut der Norm, die ausdrücklich auf
Satz 1 Bezug nimmt, und aus der systematischen Einbindung in Absatz 1 der Vorschrift.
51
Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschluß
vom 10. Juni 1997 - 24 B 3003/96 -; Deiseroth, Genfer Flüchtlingskonvention und
Sozialhilfe, DVBl. 1998, 116, 121; a.A. VG Köln, Beschluß vom 30. Mai 1996 - 21 L
52
1106/96 -, NVwZ Beilage 9/1996, 72.
Die oben zitierte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. März 1985 - 5
C 145.83 -, in der die Vorschrift des § 120 Abs. 1 Satz 3 BSHG auch auf § 120 Abs. 2
BSHG in der bis zum 31. Oktober 1993 geltenden Fassung bezogen wurde, ist nicht
einschlägig. § 120 Abs. 2 BSHG in der jetzt geltenden Fassung kann mit dem seinerzeit
geltenden § 120 Abs. 2 BSHG, der ausdrücklich als Sonderregelung zu § 120 Abs. 1
Satz 1 BSHG ausgestaltet war, nicht verglichen werden.
53
§ 120 Abs. 2 und 5 Satz 2 BSHG sind aber einschränkend dahingehend auszulegen,
daß sie keine Anwendung finden, wenn es um Ausländer geht, die in den Schutzbereich
des Europäischen Fürsorgeabkommens fallen. Anderenfalls wären diese Vorschriften
nicht miteinander vereinbar.
54
Art. 1 EFA wird nicht durch die später in Kraft getretenen Vorschriften des § 120 Abs. 2
BSHG idF des Gesetzes vom 30. Juni 1993 (BGBl. I S. 1074) oder des § 120 Abs. 4
Satz 2 BSHG idF des Gesetzes vom 9. Juli 1990 (BGBl. I S. 1354, jetzt § 120 Abs. 5
Satz 2 BSHG) als spätere Bundesgesetze verdrängt.
55
Zwar gilt auch im Verhältnis von völkerrechtlichem Vertragsrecht (im Range eines
Bundesgesetzes) und innerstaatlichem Gesetzesrecht grundsätzlich die Regel, daß
späteres Gesetzesrecht früheres Vertragsrecht innerstaatlich in seiner Geltungskraft
verdrängen kann. Innerstaatliches Recht ist jedoch nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) im Einklang mit den völkerrechtlichen
Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland auszulegen und anzuwenden, selbst
wenn es zeitlich später erlassen worden ist als ein geltender völkerrechtlicher Vertrag;
denn es ist nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet
hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen
oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen will.
56
Vgl. BVerfG, Beschluß vom 26. März 1987 - 2 BvR 589/97, 740/81 und 284/85 -,
BVerfGE 74, 358, 370; Deiseroth, aaO. S.122; VGH Kassel, Beschluß vom 12. Februar
1999 - 1 TG 404/99 -, NVwZ, Beilage I 6/1999, 53; anders OVG Hamburg, Beschluß
vom 30. März 1994 - Bs IV 56/94 -, FEVS 45, 209, 212, ohne Berücksichtigung des
letztgenannten Gesichtspunktes.
57
Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, daß der Gesetzgeber mit der Schaffung von § 120
Abs. 2 und 5 BSHG von den sich aus dem Europäischen Fürsorgeabkommen
ergebenden völkerrechtlichen Verpflichtungen abweichen oder die Verletzung solcher
Verpflichtungen ermöglichen wollte.
58
Hinsichtlich des § 120 Abs. 2 BSHG ergibt sich dies schon daraus, daß Personen, die
lediglich einen Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
haben, sich in aller Regel gerade nicht "erlaubt" im Sinne des Europäischen
Fürsorgeabkommens im Bundesgebiet aufhalten, und deshalb regelmäßig nicht in den
von diesem Abkommen geschützten Personenkreis fallen. Dementsprechend wird in der
Begründung des Gesetzesentwurfs zur Neuregelung der Leistungen an Asylbewerber
vom 2. März 1993 (Bundestagsdrucksache 12/4451 S. 5 f) die Frage der Vereinbarkeit
des § 120 Abs. 2 BSHG in der bis jetzt weiterhin geltenden Fassung mit dem
Europäischen Fürsorgeabkommen oder anderen völkerrechtlichen Verträgen nicht
thematisiert.
59
Die Entstehungsgeschichte des § 120 Abs. 5 BSHG läßt ebenfalls nicht erkennen, daß
mit dieser Norm von völkerrechtlichen Verpflichtungen abgewichen werden sollte.
Bereits in der Begründung des Gesetzesentwurfs zur Neuregelung des
Ausländergesetzes, der u.a. die Einfügung des § 120 Abs. 4 BSHG (jetzt § 120 Abs. 5
BSHG) enthielt, wird vielmehr im allgemeinen Teil ausdrücklich betont, daß die
ausländergesetzlichen Regelungen sicherstellen müssen, daß völkerrechtliche
Verpflichtungen, die die Modalitäten der Einreise und des Aufenthalts von Ausländern
regeln, uneingeschränkt eingehalten werden können (Bundestagsdrucksache 11/6321
S. 43). Der Begründung zu § 120 Abs. 4 BSHG läßt sich nur entnehmen, daß diese
Vorschrift einerseits der illegalen Binnenwanderung von Ausländern entgegenwirken
soll und andererseits bei der Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen ohne räumliche
Beschränkung eine Verlagerung von Sozialhilfelasten in andere Länder verhindert
werden soll (Bundestagsdrucksache 11/6321 S. 90). Auch nachdem auf Anregung des
Bundesrates die Vorschrift des § 30 Abs. 5 AuslG (jetzt § 70 des
Asylverfahrensgesetzes - AsylVfG -) in den Gesetzesentwurf eingefügt wurde, sah sich
der Gesetzgeber nicht veranlaßt, Ausführungen zur Vereinbarkeit von § 120 Abs. 4
BSHG mit völkerrechtlichen Bestimmungen zu machen (vgl. Bundestagsdrucksache
11/6541 S. 3, 11), obwohl aufgrund von § 30 Abs. 5 AuslG die Möglichkeit eröffnet
wurde, Flüchtlingen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention Aufenthaltsbefugnisse
zu erteilen. Damit konnten auch die durch völkerrechtliche Vereinbarungen geschützten
Flüchtlinge unter § 120 Abs. 4 BSHG fallen. Daß mit der Schaffung des § 120 Abs. 4
BSHG eine Abweichung von völkerrechtlichen Verpflichtungen einhergehen könnte, hat
der Gesetzgeber demnach offenbar nicht angenommen.
60
Vgl. im Hinblick auf das Europäische Fürsorgeabkommend: VGH Kassel, Beschluß vom
12. Februar 1999 - 1 TG 404/99 - aaO.; Bayerischer VGH, Beschluß vom 1. Juli 1997 -
12 CE 96.2856 -, FEVS 48, 74, 78; im Hinblick auf die Genfer Flüchtlingskonvention:
Deiseroth aaO.; VGH Baden-Württemberg, Beschluß vom 18. Dezember 1996 - 7 S
2948.96 -, NDV- RD 1997, 135; VG Berlin, Beschluß vom 24. November 1995 - 17 A
322.95 -, Informationsbrief Ausländerrecht 1996, 184, 185; OVG Berlin, Beschluß vom
25. Oktober 1996 - 6 S 347/96 -, NVwZ Beilage 7/1997, 54, 55.
61
Eine infolgedessen gebotene völkerrechtskonforme Auslegung der Absätze 2 und 5 des
§ 120 BSHG ergibt, daß diese Vorschriften nicht auf die Personen Anwendung finden,
die zu dem vom Europäischen Fürsorgeabkommen geschützten Personenkreis
gehören.
62
Mit Art. 1 EFA läßt es sich nicht vereinbaren, wenn den in den Schutzbereich fallenden
Ausländern im Vergleich zu deutschen Staatsangehörigen andersartige und im Umfang
geringere Hilfeleistungen gewährt werden. Dies wäre aber der Fall, wenn - wie in § 120
Abs. 2 BSHG vorgesehen - nur Hilfe nach dem Asylbewerberleistungsgesetz geleistet
würde. Dies bedeutet, daß der Kläger für den Zeitraum vom 28. Dezember 1996 bis zum
17. Februar 1997 nicht auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
verwiesen werden kann.
63
Auch § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG kann nicht auf den Kläger angewandt werden.
64
Die in Art. 1 EFA geforderte Gleichbehandlung zwischen Deutschen und den vom
Fürsorgeabkommen begünstigten Ausländern wäre nicht gewährleistet, wenn den
Ausländern zwar nach Art und Umfang dieselbe Hilfe wie deutschen Staatsangehörigen
65
geboten würde, im übrigen, insbesondere was den Ort der Hilfeleistung angeht, aber -
wie in § 120 Abs. 5 Satz 2 AuslG vorgesehen - Unterschiede gemacht würden. Der
Wortlaut des Art. 1 EFA läßt vielmehr nur den Schluß zu, daß die in den Schutzbereich
des Abkommens fallenden Personen, die sich in irgendeinem Teil des Bundesgebietes
erlaubt aufhalten, dieselben Ansprüche auf Sozialhilfeleistungen haben, die die in
diesem Teil des Bundesgebietes geltenden Gesetze den deutschen Staatsangehörigen
gewähren. Die Leistungen sind ausdrücklich "in gleicher Weise" und "unter den
gleichen Bedingungen" zu gewähren. Die Gewährung von Sozialhilfeleistungen darf
deshalb nicht davon abhängig gemacht werden, daß sich der Hilfesuchende in einen
bestimmten Teil des Bundesgebietes begibt, da das Bundessozialhilfegesetz für
Deutsche im gesamten Bundesgebiet einheitlich gilt.
Vgl. Bayerischer VGH, Beschluß vom 1. Juli 1997 - 12 CE 96.2856 -, aaO.; OVG
Lüneburg, Beschluß vom 28. Mai 1998 - 4 M 2534/98 -, FEVS 49, 118; a.A. OVG Berlin,
Beschluß vom 28. Januar 1998 - 6 S 162.97 -, FEVS 48, 454.
66
Dem kann nicht entgegengehalten werden, auch deutsche Staatsangehörige könnten
unter bestimmten Voraussetzungen nach dem Selbsthilfegebot aus § 2 Abs. 1 BSHG
gehalten sein, einen bestimmten Wohnsitz nicht aufzugeben bzw. wieder aufzusuchen,
an dem sie entweder den notwendigen Lebensunterhalt für sich und gegebenenfalls
ihre Angehörigen selbst beschaffen können oder zumindest eine Wohnung haben.
67
So noch OVG Lüneburg, Beschluß vom 9. Januar 1996 - 4 M 6156/95 -, FEVS 47, 18,
20 zum Verhältnis von § 120 Abs. 5 BSHG zu Art. 23, 26 GFK, nicht fortgeführt im
Beschluß vom 28. Mai 1998 - 4 M 2534/98 -, aaO.
68
Diese Überlegung betrifft allein den Nachranggrundsatz des § 2 Abs. 1 BSHG, der für
Deutsche und Ausländer gleichermaßen gilt. In der vorliegenden Konstellation ist er
nicht einschlägig, denn der Kläger konnte durch eine Rückkehr nach Sachsen-Anhalt
seinen Lebensunterhalt nicht ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen
sicherstellen.
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Die Anwendbarkeit des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG läßt sich auch nicht im Hinblick
darauf bejahen, daß nach § 3 a Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes über die Festlegung eines
vorläufigen Wohnortes für Spätaussiedler für diese, also in der Regel für Deutsche im
Sinne des Grundgesetzes, unter bestimmten Voraussetzungen Beschränkungen des
Sozialhilfeanspruchs vorgesehen sind, wenn sich die Hilfeempfänger nicht in einem
bestimmten Land oder Ort aufhalten. Nach § 3 a Abs. 2 des Gesetzes endet diese
Regelung nämlich zwei Jahre nach der Aufnahme des Spätaussiedlers im
Geltungsbereich des Gesetzes. Sie kann deshalb keine Auswirkung haben auf
Flüchtlinge, deren Anerkennung als Flüchtling bereits mehr als zwei Jahre zurückliegt,
wie dies beim Kläger der Fall ist. Zum anderen dürfte es auf diese Sonderregelung nicht
ankommen, da sich der Gleichbehandlungsanspruch nach der insoweit allein
maßgeblichen Anlage I zum Europäischen Fürsorgeabkommen auf das Gesetz über die
Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Spätaussiedler nicht erstreckt.
70
Vgl. OVG Lüneburg, Beschluß vom 28. Mai 1998 - 4 M 2534/98 -, aaO.
71
Schließlich kommt es nicht darauf an, ob Art. 23 GFK, nach dem die
vertragschließenden Staaten erklärt haben, den Flüchtlingen, die sich rechtmäßig in
ihrem Staatsgebiet aufhalten, auf dem Gebiet der öffentlichen Fürsorge und sonstigen
72
Hilfeleistungen die gleiche Behandlung wie ihren eigenen Staatsangehörigen zu
gewähren, einer Anwendung des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG auf Konventionsflüchtlinge
entgegensteht oder nicht.
Vgl. hierzu einerseits: OVG NRW, Beschluß vom 10. Juni 1997 - 24 B 3003/96 -; OVG
Lüneburg, Beschluß vom 9. Januar 1996 - 4 M 6156/95 -, aaO.; OVG Hamburg,
Beschluß vom 30. März 1994 - Bs IV 56/94 -, aaO.; OVG Berlin, Beschluß vom 25.
Oktober 1996 - 6 S 347/96 -, aaO.; andererseits: VGH Kassel, Beschluß vom 12.
Februar 1999 - 1 TG 404/99 -, aaO.; VGH Baden- Württemberg, Beschluß vom 18.
Dezember 1996 - 7 S 2948/96 -, aaO.; Deiseroth, aaO.
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Die Auslegung der Bestimmungen des Europäischen Fürsorgeabkommens hängt nicht
davon ab, wie Art. 23 GFK auszulegen ist. Aus dem Wortlaut des Zusatzprotokolls zum
Europäischen Fürsorgeabkommen läßt sich nicht herleiten, daß für Flüchtlinge nicht
mehr Rechte begründet werden sollen, als ihnen nach der Genfer Flüchtlingskonvention
zustehen, auch wenn die Bundesregierung seinerzeit offenbar davon ausging, daß
durch das Zusatzprotokoll Flüchtlingen gewährte Rechte mit denen in der Genfer
Flüchtlingskonvention begründeten Rechten deckungsgleich seien (vgl. Denkschrift
zum Europäischen Fürsorgeabkommen und dem Zusatzprotokoll
Bundestagsdrucksache 2/1882 S. 24). In dem Zusatzprotokoll haben sich die
Vertragsstaaten nicht dazu verpflichtet, die Bestimmungen der Genfer
Flüchtlingskonvention, auch wenn sie sie nicht unterzeichnet haben sollten,
anzuwenden, sondern dazu, Flüchtlingen im Sinne dieser Konvention die sich aus dem
Europäischen Fürsorgeabkommen ergebenden Rechte zu gewähren. Ansonsten hätte
es nahe gelegen, wenn sich im Zusatzprotokoll die Vertragsstaaten (lediglich)
verpflichtet hätten, Flüchtlingen die Fürsorgeleistungen zu gewähren, die in der Genfer
Flüchtlingskonvention vorgesehen sind. Sinn des Zusatzprotokolls war es nicht allein,
Flüchtlingen nur überhaupt eine soziale Absicherung zu geben, um etwa
Wanderbewegungen innerhalb der Vertragsstaaten zu verhindern. Flüchtlinge sollten
vielmehr in den vollen Genuß der Rechte kommen, die den Angehörigen der
Vertragsstaaten zustehen. Auch Flüchtlingen ist deshalb "in gleicher Weise" und "zu
den gleichen Bedingungen" Sozialhilfe zu gewähren wie Deutschen.
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a.A. OVG Berlin, Beschluß vom 28. Januar 1989 - 6 S 162.97 - aaO.
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Bei einer solchen einschränkenden Auslegung des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG läuft der
Regelungsbereich dieser Vorschrift nicht leer. Die Vorschrift kann vielmehr weiterhin
Anwendung finden auf den zahlenmäßig nicht unerheblichen Kreis der Personen, die
insbesondere aus humanitären Gründen Aufenthaltsbefugnisse erhalten, ohne zu dem
Kreis der politisch Verfolgten im Sinne von § 51 Abs. 1 AuslG zu gehören.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung
über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 VwGO, § 708 Nr. 10,
711 ZPO.
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Die Revision wird gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen der grundsätzlichen
Bedeutung der Rechtssache zugelassen, da die Frage, ob Art. 1 EFA der Anwendung
des § 120 Abs. 2 BSHG und des § 120 Abs. 5 Satz 2 BSHG entgegenstehen kann,
höchstrichterlich noch nicht geklärt ist.
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