Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 26.07.2006
OVG NRW: wiedereinsetzung in den vorigen stand, zustellung, behörde, unterzeichnung, empfang, datum, schriftstück, verschulden, vollstreckung, fristversäumnis
Oberverwaltungsgericht NRW, 15 A 3600/05
Datum:
26.07.2006
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
15. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
15 A 3600/05
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 15 K 4999/03
Tenor:
Die Berufung wird verworfen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die
Vollstreckungsschuldnerin darf die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden,
wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung in
gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird auch für das Berufungsverfahren auf 20.200, -- Euro
festgesetzt.
G r ü n d e :
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Die Berufung kann gemäß § 125 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Satz 2 VwGO durch Beschluss
verworfen werden, denn sie ist unzulässig. Hierzu sind die Beteiligten vorab gehört
worden. Die Beklagte hat die Frist zur Begründung der Berufung versäumt, und ihr
Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bleibt erfolglos.
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Hat - wie hier - das Oberverwaltungsgericht die Berufung zugelassen, so ist die
Berufung gemäß § 124 Abs. 6 Satz 1 VwGO innerhalb eines Monats nach Zustellung
des Zulassungsbeschlusses zu begründen. Der Beschluss des Senates vom 28. März
2006 über die Zulassung der Berufung ist der Beklagten gegen Empfangsbekenntnis
am 30. März 2006 zugestellt worden. Die Frist zur Begründung der Berufung, über die
die Beklagte durch die dem Zulassungsbeschluss beigefügte Rechtsmittelbelehrung
ordnungsgemäß belehrt worden ist, endete gemäß § 57 Abs. 2 VwGO, 222 Abs. 1 und 2
ZPO, §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB am Dienstag, dem 2. Mai 2006. Die
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Berufungsbegründung ist aber erst am 4. Mai 2006, also verspätet per Telefax beim
Oberverwaltungsgericht eingegangen.
Dass der Fristenlauf mit dem auf dem Empfangsbekenntnis vermerkten
Zustellungsdatum 30. März 2006 begonnen hat, wird nicht dadurch in Frage gestellt,
dass das Empfangsbekenntnis durch ROI T. unterschrieben worden ist. Bei der
Zustellung an juristische Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden gemäß § 174
Abs. 4 ZPO ist das Schriftstück an dem Tage zugestellt, an welchem der hierfür nach der
behördeninternen Aufgabenverteilung zuständige Bedienstete den Empfang mit Datum
und seiner Unterschrift bestätigt.
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BAG, Urteil vom 2. Dezember 1994 - 4 AZB 17/94 -, NJW 1995, 1916 m.w.N.
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Dass diese ROI T. behördenintern für die Abzeichnung des Empfangsbekenntnisses
nicht zuständig gewesen wäre, wird vom Beklagten weder vorgetragen, noch ist dies
sonst ersichtlich. Vielmehr hat der Beklagte ausdrücklich erklärt, ROI T. sei der für das
Rechtsgebiet zuständige Sachbearbeiter. Der Wirksamkeit der Zustellung steht auch
nicht entgegen, dass ROI T. nicht gemäß § 67 Abs. 1 VwGO postulationsfähig war.
Denn die Mitwirkung des zuständigen Behördenbediensteten bei einer Zustellung
gemäß § 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. 174 Abs. 4 ZPO unterliegt trotz der damit verbundenen
Erklärung, dass das Schriftstück als zugestellt angesehen wird,
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vgl. Stöber, in: Zöller, ZPO, 25. Auflage 2005, § 174 Rn. 6,
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jedenfalls nicht dem Vertretungszwang nach § 67 Abs. 1 VwGO, wobei offen bleiben
kann, ob § 57 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 174 Abs. 4 ZPO als speziellere Regelungen die
Anwendung der allgemeinen Vorschrift des § 67 Abs. 1 VwGO ausschließen oder ob es
an einer Prozesshandlung i.S.v. § 67 Abs. 1 VwGO fehlt.
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Vgl. BayVGH, Beschluss vom 2. Dezember 1999 - 12 B 98.964 -.
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Das gefundene Auslegungsergebnis wird durch folgende Überlegungen bestätigt:
Gemäß § 67 Abs. 3 Satz 3 VwGO sind Zustellungen oder Mitteilungen des Gerichts an
den Bevollmächtigten zu richten, wenn ein solcher bestellt ist. Daraus folgt, dass
Zustellungen - auch in dem Vertretungszwang unterliegenden Verfahren - unmittelbar
an die Beteiligten zu richten sind, wenn ein Bevollmächtigter nicht bestellt ist. Mit
diesem Befund wäre es unvereinbar, wenn die Wirksamkeit dieser Zustellungen - im
Falle des § 174 Abs. 4 ZPO bei einer Behörde, bei der kein nach § 67 Abs. 1 VwGO
Postulationsfähiger beschäftigt wäre - an der fehlenden Bestellung eines
Bevollmächtigten scheitern müsste.
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Die Darlegungen der Beklagten im Verfahren auf Zulassung der Berufung führen nicht
zur Entbehrlichkeit der Berufungsbegründung. Denn die in § 124 Abs. 6 Satz 1 VwGO
niedergelegte Pflicht zur Begründung der Berufung wird nur durch die - rechtzeitige -
Einreichung eines gesonderten Schriftsatzes nach Zulassung der Berufung erfüllt.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 8. März 2004 - 4 C 6.03 -, NVwZ-RR 2004, 541 m.w.N.
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Der von der Beklagten gestellte Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat
keinen Erfolg, denn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 VwGO sind nicht erfüllt. Aus
der Begründung des Wiedereinsetzungsantrags ergibt sich nicht, dass die Beklagte
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ohne Verschulden verhindert war, die Frist zur Begründung der Berufung einzuhalten.
Insoweit trägt die Beklagte im Wesentlichen vor: Der für das Rechtsgebiet zuständige
Sachbearbeiter ROI T. , der mit der Prozessführung vor den Verwaltungsgerichten nicht
befasst sei, habe den Zulassungsbeschluss im Rahmen der allgemeinen Postverteilung
am 30. März 2006 in Empfang genommen, das Empfangsbekenntnis unterschrieben
und an das Oberverwaltungsgericht zurückgesandt, den Beschluss mit dem
Arbeitsvermerk "Herrn I. z.K." versehen, ihn in eine der im internen Geschäftsbetrieb der
Bezirksregierung noch üblichen Laufmappen gelegt und dem Botendienst übergeben.
RD I. habe sich in der Zeit vom 27. bis 31. März 2006 auf einer Dienstreise befunden.
Der Botendienst habe den Beschluss sodann ordnungsgemäß an den für Posteingänge
des RD I. vorgesehenen Platz in dessen Büro gelegt. Unmittelbar auf der Mappe mit
dem Zulassungsbeschluss habe eine Mappe mit einer Fachzeitschrift gelegen, die
Zeitschrift sei mit einer kräftigen Büroklammer an der Unterseite der Laufmappe befestigt
gewesen. Als RD I. nach Rückkehr von der Dienstreise die Mappe mit der Zeitschrift
vom Stapel genommen und sie wegen der Vielzahl der zu bewältigenden Vorgänge in
das für Unterlagen zur gelegentlichen Lektüre bestimmte Fach gelegt habe, müsse sich
die Büroklammer mit der darunter liegenden Mappe (mit dem Zulassungsbeschluss)
verhakt haben. Durch diesen Umstand sei der Zulassungsbeschluss erst nach dem
Hinweis des Senats auf die versäumte Berufungsbegründungsfrist wieder aufgefunden
worden.
Die Beklagte hat damit keine Tatsachen vorgetragen, die die Versäumung der
Berufungsbegründungsfrist als unverschuldet erscheinen lassen. Verschulden i.S.v. §
60 Abs. 1 VwGO ist anzunehmen, wenn der Betroffene diejenige Sorgfalt außer Acht
lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß
wahrnehmenden Prozessführenden geboten und ihm nach den gesamten Umständen
des konkreten Falles zuzumuten ist. Dabei sind an eine Behörde zwar keine strengeren,
aber auch keine geringeren Anforderungen zu stellen als an einen Rechtsanwalt. Dies
gilt insbesondere auch für das Auftreten in der Berufungsinstanz, für die prinzipiell
Vertretungszwang besteht.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. November 2004 - 5 B 105/04 -, NJW 2005, 1001
m.w.N.
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Hiervon ausgehend ist nicht dargetan, dass die Beklagte die ihr obliegenden
Sorgfaltspflichten bei der Überwachung der Berufungsbegründungsfrist eingehalten hat.
Zur Fristenkontrolle ist insbesondere die Führung eines Fristenkalenders erforderlich, in
den die Fristeintragungen zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu erfolgen haben. Insoweit
ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in der Vergangenheit eine
Fristnotierung bereits vor Unterzeichnung und Rücksendung des
Empfangsbekenntnisses grundsätzlich für erforderlich gehalten worden.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. Dezember 2002 - 1 B 429/02 - , NVwZ 2003, 868
m.w.N. insbesondere aus der Rechtsprechung des BGH.
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Bescheinigt eine Behörde den Rechtsmittelfristen auslösenden Zugang einer
gerichtlichen Entscheidung ohne vorherige Notierung der Frist im Fristenkalender, so
erhöht sich das Risiko, dass die Fristeintragung unterbleibt und die Frist versäumt wird.
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Vgl. BGH, Beschluss vom 30. November 1994 - VII ZB 197/94 - .
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Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts,
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Beschlüsse vom 19. April 2006 - 10 B 83/05 -, vom 26. November 2004 - 5 B 33/04 - und
vom 29. November 2004, a.a.O.; vgl. auch BGH, Beschluss vom 13. Februar 2003 - V
ZR 422/02 - , NJW 2003, 1528,
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ist jedoch zweifelhaft, ob die denkbaren Möglichkeiten der Büroorganisation derart eng
einzuschränken sind. Vielmehr dürfte eine Fristnotierung unmittelbar nach
Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses ausreichend sein. Es spricht allerdings
vieles dafür, dass die Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses und eine sich
unmittelbar daran anschließende Fristeintragung im Allgemeinen durch dieselbe Person
zu erfolgen haben. Ein Bearbeiterwechsel zwischen Unterzeichnung des
Empfangsbekenntnisses und Fristeintragung erhöht nämlich in aller Regel das durch
die Fristenkontrolle gerade zu minimierende Risiko, dass die Fristeintragung unterbleibt.
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Vgl. die Sachverhalte, die den Beschlüssen des BVerwG vom 26. November 2004,
a.a.O., und vom 29. November 2004, a.a.O., zu Grunde liegen und auf die sich das
BVerwG im Beschluss vom 19. April 2006, a.a.O., bezieht.
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Eine hinreichende Fristenkontrolle bei der Beklagten ist im vorliegenden nicht
ersichtlich, zumal hierzu - trotz ausdrücklichen Hinweises der Klägerin auf die
Notwendigkeit einer Fristenkontrolle - von der Beklagten gar nichts vorgetragen ist.
Lediglich ergänzend weist der Senat deshalb auf Folgendes hin: Offenbar war eine
Eintragung des Ablaufs von Berufungsbegründungsfristen durch ROI T. nicht
vorgesehen und ist diese auch nicht erfolgt. Andernfalls wäre nämlich nicht verständlich,
wie es zu dem Fristversäumnis hätte kommen können. Nach Lage der Dinge spricht
vieles dafür, dass die Fristenkontrolle durch RD I. erfolgen oder jedenfalls von ihm
veranlasst werden sollte. Dass zur Gewährleistung einer Fristenüberwachung durch RD
I. gewählte Verfahren genügte jedoch - auch unabhängig von dem Bearbeiterwechsel -
nicht den Anforderungen an die insoweit zu erfüllenden Sorgfaltspflichten. Soll eine
fristauslösende Entscheidung durch den hausinternen Botendienst gemeinsam mit
anderen - nicht mit vergleichbaren Fristen verbundenen und deshalb weniger
bedeutsamen - Zuträgen an einen einheitlichen für Posteingänge vorgesehenen Platz
im Büro des für die Fristenkontrolle zuständigen Mitarbeiters gelegt werden, so trägt die
Behörde das Risiko dafür, dass der Vorgang, aus welchen Gründen auch immer, außer
Kontrolle gerät, bevor die Frist notiert ist. Dies gilt umso mehr dann, wenn im Falle der
Dienstabwesenheit des für die Fristenkontrolle zuständigen Mitarbeiters eine
umgehende Festhaltung der Frist durch einen Vertreter nicht sichergestellt ist.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO; die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO
nicht gegeben sind.
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Die Streitwertfestsetzung hat ihre Grundlage in §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 52 Abs. 3 GKG.
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