Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 06.09.1996

OVG NRW (kläger, kultur, 1995, sprache, selbständigkeit, kind, kommentar, volk, eltern, eintritt)

Oberverwaltungsgericht NRW, 2 A 3544/93
Datum:
06.09.1996
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
2. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 A 3544/93
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Minden, 1 K 3047/92
Tenor:
Der Antrag auf Gewährung von Prozeßkostenhilfe wird abgelehnt.
G r ü n d e :
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Der Antrag des Klägers auf Gewährung von Prozeßkostenhilfe für die Durchführung des
Berufungsverfahrens hat keinen Erfolg. Die Rechtsverfolgung bietet nicht die nach § 166
der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - iVm § 114 Satz 1 der Zivilprozeßordnung -
ZPO - erforderliche hinreichende Aussicht auf Erfolg. Zwar ist diese schon dann
gegeben, wenn mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit des Klageerfolges zu rechnen
ist. Diese ist in der Regel anzunehmen, wenn der Erfolg der Klage von der Klärung
schwieriger Sach- und Rechtsfragen abhängt.
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Vgl. Bundesverfassungsgerichts - BVerfG -, Beschluß vom 13. März 1990 - 2 BvR 94, 88
u. a. - NJW 1991, 413; Bundesgerichtshof - BGH -, Beschluß vom 27. Januar 1982 - IV b
ZB 925/80 -, NJW 1982, 1104; Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann,
Zivilprozeßordnung, Kommentar, 24. Aufl., § 114 Rdnr. 80 ff.; Kopp, VwGO, Kommentar,
10. Aufl., § 166 Rdnr. 8; Redeker/von Oertzen, VwGO, Kommentar, 11. Aufl., § 166 Rdnr.
3.
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Das ist hier aber nicht der Fall.
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Rechtsgrundlage für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Erteilung eines
Vertriebenenausweises ist zunächst § 100 Abs. 1 des Gesetzes über die
Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz - BVFG)
in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Juni 1993, BGBl I S. 829, geändert durch
das Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflege-
Versicherungsgesetz - PflegeVG) vom 26. Mai 1994, BGBl. I 1014. Danach finden für
Personen im Sinne der §§ 1 bis 3 die vor dem 1. Januar 1993 geltenden Vorschriften
nach Maßgabe der Abs. 2 bis 8 Anwendung. Nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG in der vor dem
1. Januar 1993 geltenden Fassung vom 3. September 1971 (BGBl I S. 1565, berichtigt
S. 1807) zuletzt geändert durch Art. 2 Ziffer 2 des Gesetzes vom 20. Dezember 1991
(BGBl I S. 2117) - BVFG a.F. - ist Vertriebener auch, wer als deutscher
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Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger nach Abschluß der allgemeinen
Vertreibungsmaßnahmen die zur Zeit unter fremder Verwaltung stehenden deutschen
Ostgebiete, Danzig, Estland, Lettland, Litauen, die Sowjetunion, Polen, die
Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien, Albanien oder China
verlassen hat oder verläßt, es sei denn, daß er, ohne aus diesen Gebieten vertrieben
und bis zum 31. März 1952 dorthin zurückgekehrt zu sein, nach dem 8. Mai 1945 einen
Wohnsitz in diesen Gebieten begründet hat (Aussiedler). Die Vorschrift findet auf nach
Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen geborene Personen
(Spätgeborene) wie den 1960 geborenen Kläger entsprechende Anwendung.
Vgl. Bundesverwaltungsgericht - BVerwG -, Urteil vom 10. November 1976 - 8 C 92.75 -,
BVerwGE 51, 298; BVerwG, Urteil vom 19. April 1994 - 9 C 20.93 -, DVBl. 1994, 935 ff. =
DÖV 1994, 1043 ff.
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Nach § 6 BVFG a.F. ist deutscher Volkszugehöriger, wer sich in seiner Heimat zum
deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale
wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird. Da der Kläger als
Spätgeborener zum Zeitpunkt des Beginns der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen
noch nicht geboren war, ist er nur dann deutscher Volkszugehöriger, wenn ihm bis zum
Eintritt seiner Selbständigkeit ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum, d.h. das
Bewußtsein, Angehöriger des deutschen Volkes zu sein und keinem anderen Volk
zuzugehören, prägend im Sinne eines durch Weitergabe hergestellten
Bekenntniszusammenhangs übermittelt worden ist.
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Vgl. BVerwG, Beschluß vom 22. Mai 1989 - 9 B 4.89 -, Buchholz, Sammel- und
Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (i.F. Buchholz)
412.3 § 6 BVFG Nr. 61. Dies kann zum einen durch ein konkretes aktives Einwirken
zumindest eines volksdeutschen Elternteils auf das Kind geschehen, das bei diesem
hinsichtlich seines Volkstums zu einem entscheidenden, bis zur Selbständigkeit
fortwirkenden Schlüsselerlebnis geführt hat. Es ist aber auch möglich, daß die
Ausgrenzung der eigenen Familie als Dauerschicksal mit- und nacherlebt wird, und das
Kind sich auch die Ursache dieses Schicksals, die deutsche Volkszugehörigkeit, zu
eigen gemacht hat.
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Vgl. BVerwG, Urteile vom 13. Juni 1995 - 9 C 293.94 - und - 9 C 392.94 -, DVBl 1995,
1302.
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Zum anderen kann aus Indizien, namentlich Merkmalen im Sinne des § 6 BVFG a.F.,
auf eine Überlieferung der Bekenntnislage geschlossen werden. Das setzt voraus, daß
die Eltern oder ein Elternteil sich im maßgebenden Zeitpunkt zum deutschen Volkstum
bekannt haben. Mit der hieraus resultierenden Bekenntnislage, nämlich dem
Bewußtsein, ausschließlich dem deutschen Volk als national geprägter
Kulturgemeinschaft anzugehören, muß sich der Spätgeborene bis zu seiner
Selbständigkeit identifizieren, so daß auch er sich als Angehöriger des deutschen
Volkes in dem bezeichneten Sinne ansieht und fühlt. Eine solche innere Einstellung
muß durch äußere Tatsachen belegt sein, die eine diesbezügliche
Überzeugungsbildung gestatten. Diese Tatsachen könne so beschaffen sein, daß sie
unmittelbar positiv ergeben, daß das spätgeborene Kind in die subjektive
Bekenntnislage der volksdeutschen Eltern oder des volksdeutschen Elternteils
hineingewachsen ist und sich mit deren Volkstumsbewußtsein identifiziert hat. Dies
steht einem ausdrücklich oder in Form schlüssigen Gesamtverhaltens abgelegten
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Bekenntnis durch frühgeborene bekenntnisfähige Personen mit der Folge gleich, daß
als objektive Bestätigung ein einzelnes der in § 6 BVFG a.F. angeführten Merkmale
ausreicht. Eine Beherrschung der deutschen Sprache ist dann nicht unbedingt
erforderlich. Ihr kommt - wenn sich eine Volkstumsüberlieferung nicht unmittelbar
feststellen läßt - lediglich bei der mittelbaren Herleitung des
Bekenntniszusammenhanges aus Indizien entscheidende Bedeutung zu.
BVerwG, Urteile vom 2. Dezember 1986 - 9 C 6.86 -, Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 47,
vom 15. Mai 1990 - 9 C 51.89 -, Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 64, vom 19. April 1994 - 9
C 20.93 -, DVBl 1994, 935, 937 f. sowie vom 13. Juni 1995 - 9 C 293.94 - und - 9 C
392.94 -, DVBl 1995, 1302. Das Vorliegen nur einer dieser Voraussetzungen hat der
Kläger nicht vorgetragen.
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Er selbst beruft sich lediglich darauf, daß ihm von seiner Mutter immer wieder eingeprägt
worden sei, daß er ein "Deutscher" und kein "Russe" sei und daß in der Familie die
deutschen Feiertage wie Weihnachten und Ostern nach deutschem Brauch gefeiert
worden seien. Daraus ergeben sich allenfalls Anhaltspunkte für die Weitergabe
deutscher Kultur und Erziehung. Den Ausführungen läßt sich aber nicht entnehmen, in
welchem Umfang durch das allein angeführte Feiern deutscher Feste dem Kläger
tatsächlich deutsche Kultur vermittelt worden ist. Vorallem ergibt sich daraus nicht, daß
die von seiner Mutter oder anderen Verwandten überlieferten Werte und Bestandteile
der deutschen Kultur die persönliche Entwicklung des Klägers bis zum Eintritt der
Selbständigkeit bzw. Bekenntnisfähigkeit nachhaltig in einer Weise geprägt haben, daß
sie von ihm übernommen und zur Grundlage seiner individuellen Lebensführung
gemacht worden sind.
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Vgl. zu den Anforderungen an die Übermittlung deutscher Kultur Urteil des Senats vom
28. Dezember 1995 - 2 A 4115/94 -.
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Da für die Vermittlung der deutschen Volkszugehörigkeit nicht allein die Kenntnis der
deutschen Sprache entscheidend ist, kommt es nicht darauf an, warum der Kläger diese
nicht beherrscht. Es kann unterstellt werden, daß der Kläger infolge angeborener
Schwerhörigkeit nur eine Sprache erlernen konnte. Denn diese Behinderung stand der
Vermittlung der deutschen Volkszugehörigkeit an den Kläger auf andere Weise nicht
entgegen.
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Dieser Beschluß ist unanfechtbar ( § 152 Abs. 1 VwGO ).
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