Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 30.10.2002

OVG NRW: serbien und montenegro, gefahr, ausländer, wahrscheinlichkeit, abschiebung, tod, auskunft, anerkennung, bundesamt, bevölkerung

Oberverwaltungsgericht NRW, 5 A 1485/01.A
Datum:
30.10.2002
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
5. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
5 A 1485/01.A
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Köln, 23 K 452/94.A
Tenor:
Der Antrag der Kläger auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und
Beiordnung von Rechtsanwalt Dr. G. aus wird abgelehnt.
Das angefochtene Urteil wird, soweit der Klage stattgegeben worden ist,
geändert.
Die Klage wird in vollem Umfang abgewiesen.
Unter Einbeziehung des unanfechtbar gewordenen Teils der
Kostenentscheidung des Urteils erster Instanz tragen die Kläger die
Kosten des Verfahrens beider Instanzen, für das Gerichtskosten nicht
erhoben werden.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
G r ü n d e :
1
I.
2
Die Kläger stammen aus Vranjska Banja in Serbien (Bundesrepublik Jugoslawien). Sie
gehören dem Volk der Roma an und sind moslemischen Glaubens. Im September 1992
reisten sie in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragten ihre Anerkennung
als Asylberechtigte. Zur Begründung gaben sie im Wesentlichen an, sie hätten
Jugoslawien verlassen, weil der Kläger zu 1. einen Einberufungsbescheid erhalten
habe und für einen Militäreinsatz der jugoslawischen Volksarmee im bosnischen
Kriegsgebiet vorgesehen gewesen sei.
3
Mit Bescheid vom 24. Januar 1994 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) den Antrag der Kläger auf Anerkennung als
4
Asylberechtigte ab und stellte fest, dass im Falle der Kläger weder die Voraussetzungen
des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes (AuslG) noch Abschiebungshindernisse nach §
53 AuslG gegeben seien. Ferner forderte es die Kläger zur Ausreise innerhalb eines
Monats nach Bekanntgabe des Bescheides auf und drohte ihnen für den Fall der
Nichtbefolgung die Abschiebung nach Rest- Jugoslawien an.
Die Kläger haben am 4. Februar 1994 Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen:
Der Kläger zu 1. sei zum Militärdienst in der jugoslawischen Volksarmee einberufen
worden und habe in Bosnien kämpfen sollen. Da er dies aus religiösen und
humanitären Gründen nicht habe verantworten können, sei er mit seiner Familie
geflohen. Bei einer Rückkehr müsse er damit rechnen, vor ein Kriegsgericht gestellt und
schwer bestraft zu werden.
5
Die Kläger haben sinngemäß beantragt,
6
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 24. Januar 1994 zu verpflichten, sie
als Asylberechtigte anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des §
51 Abs. 1 AuslG vorliegen,
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hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen.
8
Die Beklagte hat beantragt,
9
die Klage abzuweisen.
10
Mit dem angefochtenen Urteil hat das Verwaltungsgericht der Klage teilweise
stattgegeben und die Beklagte unter Aufhebung von Ziffer 3 des Bescheides vom 24.
Januar 1994 verpflichtet festzustellen, dass in der Person der Kläger die
Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 AuslG vorliegen; im Übrigen hat es die Klage
abgewiesen.
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Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt, für
Volkszugehörige der Roma bestehe derzeit in Serbien und Montenegro eine
Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 AuslG erfordernde extreme Gefahrenlage.
12
Auf Antrag des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten (Beteiligter) hat der Senat
mit Beschluss vom 6. Juni 2001 die Berufung zugelassen.
13
Der Beteiligte beantragt sinngemäß,
14
das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage insgesamt abzuweisen.
15
Die Kläger beantragen,
16
1. ihnen für die Durchführung des Berufungsverfahrens Prozesskostenhilfe zu gewähren
und Rechtsanwalt Dr. G. aus beizuordnen,
17
2. die Berufung zurückzuweisen.
18
Sie verteidigen das erstinstanzliche Urteil und vertreten die Auffassung, das
Verwaltungsgericht sei zu Recht vom Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach
19
§ 53 Abs. 6 AuslG ausgegangen.
Die Beklagte stellt keinen Antrag und nimmt zur Sache nicht Stellung.
20
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten
im Übrigen wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte, die beigezogenen
Verwaltungsvorgänge der Beklagten und des Oberkreisdirektors des Kreises sowie die
Erkenntnisse, die in dem den Beteiligten zugestellten Anhörungsschreiben des Gerichts
vom 9. Juli 2002 näher bezeichnet sind.
21
II.
22
1. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren ist
unbegründet. Es lässt sich nicht feststellen, dass die Kläger nach ihren persönlichen
und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil
oder nur in Raten aufbringen können (§§ 166 VwGO, 114 ZPO). Die Kläger haben es
entgegen den Regelungen der §§ 166 VwGO, 119 Abs. 1 Satz 1, 117 Abs. 2 Satz 1, 117
Abs. 4 ZPO trotz gerichtlicher Aufforderung vom 26. Juli 2002 versäumt, im
Berufungsverfahren eine aktuelle Erklärung zu ihren wirtschaftlichen und persönlichen
Verhältnissen vorzulegen. Eine Überprüfung der Bedürftigkeit der Kläger auf der
Grundlage der von ihnen im Jahre 1999 im erstinstanzlichen Verfahren abgegebenen
Erklärung kommt nicht in Betracht. Von dem Erfordernis, für jede Instanz gesondert eine
formgerechte Erklärung zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen
vorzulegen, kann ausnahmsweise nur dann abgesehen werden, wenn der Antragsteller
ausdrücklich auf die frühere Erklärung Bezug nimmt und zudem unmissverständlich
mitteilt, seither hätten sich keinerlei Veränderungen ergeben.
23
Vgl. BGH, Beschluss vom 27. November 1996 - XII ZB 84/96 -, FamRZ 1997, 546 f.
24
Hieran fehlt es im vorliegenden Fall.
25
2. Der Senat kann über die Berufung des Beteiligten gemäß § 130 a VwGO durch
Beschluss entscheiden, weil er sie einstimmig für begründet und eine mündliche
Verhandlung nicht für erforderlich hält. Den Beteiligten ist zuvor Gelegenheit zur
Stellungnahme gegeben worden.
26
Die Klage ist in dem noch anhängigen Umfang unbegründet. Die Kläger haben auch
keinen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs.
6 Satz 1 AuslG. Die Voraussetzungen für eine unmittelbare Anwendung des § 53 Abs. 6
Satz 1 AuslG sind nicht erfüllt; ebenso wenig liegen die Voraussetzungen für die
Gewährung von Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 53
Abs. 6 AuslG vor.
27
In unmittelbarer Anwendung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG kann von der Abschiebung
eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen
Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
Maßgebend ist allein das Bestehen einer konkreten individuellen Gefahr für die
genannten Rechtsgüter ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm
zuzurechnen ist.
28
BVerwG, Urteil vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 -, BVerwGE 105, 383 (386); Urteil
29
vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 (330).
Für das Vorliegen einer konkreten Gefahr im Sinne dieser Vorschrift genügt nicht die
bloße Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in Leib, Leben oder Freiheit zu werden. Vielmehr
ist der Begriff der Gefahr im Ansatz mit dem im asylrechtlichen Prognosemaßstab der
beachtlichen Wahrscheinlichkeit angelegten Gefahrenbegriff identisch, wobei allerdings
auf Grund der Tatbestandsmerkmale der "konkreten" Gefahr für "diesen" Ausländer als
zusätzliches Erfordernis eine einzelfallbezogene, individuell bestimmte und erhebliche
Gefahrensituation hinzutreten muss,
30
BVerwG, Beschluss vom 18. Juli 2001 - 1 B 71.01 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr.
46; Urteil vom 29. März 1996 - 9 C 116.95 -, NVwZ 1996, Beilage Nr. 8, S. 57 m.w.N.,
31
die überdies landesweit droht.
32
BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 (330).
33
Die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG
scheidet grundsätzlich aus, wenn sich der Ausländer auf Gefahren beruft, denen die
Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der er angehört, im Zielstaat der
Abschiebung allgemein ausgesetzt ist. Solche Gefahren sind wegen der Sperrwirkung
des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG regelmäßig nur bei Entscheidungen über einen
generellen Abschiebestopp nach § 54 AuslG zu berücksichtigen. Nach letztgenannter
Vorschrift kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären
Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland
anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten oder von in
sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen allgemein oder in bestimmte Staaten für
die Dauer von längstens sechs Monaten ausgesetzt wird (§ 54 Satz 1 AuslG). Für
längere Aussetzungen bedarf es des Einvernehmens des Bundesministeriums des
Innern (§ 54 Satz 2 AuslG). Mit dieser Regelung soll nach dem Willen des Gesetzgebers
erreicht werden, dass dann, wenn eine bestimmte Gefahr der ganzen Bevölkerung oder
einer bestimmten Bevölkerungsgruppe im Zielstaat droht, über deren Aufnahme nicht
durch Einzelfallentscheidung seitens des Bundesamtes oder der Ausländerbehörde,
sondern für die gesamte Gruppe der potenziell Betroffenen einheitlich durch eine
politische Leitentscheidung der obersten Landesbehörden, gegebenenfalls im
Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Innern, befunden wird. Allgemeine
Gefahren können daher auch dann kein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz
1 AuslG begründen, wenn sie den Ausländer konkret und in individualisierbarer Weise
betreffen. Trotz bestehender konkreter erheblicher Gefahr ist danach die Anwendbarkeit
des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG gesperrt, wenn dieselbe Gefahr zugleich einer Vielzahl
weiterer Personen im Zielstaat droht.
34
BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 5.01 -, NVwZ 2002, 101 f. m.w.N.
35
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dürfen das Bundesamt
für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und die Verwaltungsgerichte jedoch im
Einzelfall Ausländern, die zwar einer allgemein gefährdeten Gruppe im Sinne des § 53
Abs. 6 Satz 2 AuslG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 54 AuslG
nicht besteht, ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in
verfassungskonformer Handhabung des § 53 Abs. 6 AuslG zusprechen, wenn die
Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht
36
verletzen würde. Dies ist der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem
sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde.
BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 2.01 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 50, S.
79, 82 m.w.N.; Beschluss vom 26. Januar 1999 - 9 B 671.98 -, NVwZ 1999, 668; Urteil
vom 19. November 1996 - 1 C 6.95 -, NVwZ 1997, 685, 687.
37
Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG - als
Ausdruck eines menschenrechtlichen Mindeststandards -, jedem betroffenen Ausländer
trotz Fehlens einer Ermessensentscheidung nach § 53 Abs. 6 Satz 2, § 54 AuslG über
einen generellen Abschiebestopp einzelfallbezogenen Abschiebungsschutz nach § 53
Abs. 6 Satz 1 AuslG zu gewähren.
38
BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 2.01 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 50, S.
79, 82 m.w.N.
39
Ob eine die verfassungskonforme Anwendung des § 53 Abs. 6 AuslG gebietende
extreme Gefahrenlage vorliegt, ist mit Blick auf sämtliche einem Ausländer drohenden
Gefahren zu beurteilen. Dabei geht es nicht um eine mathematische oder statistische
Summierung der Einzelgefahren. Vielmehr ist jeweils eine einzelfallbezogene
umfassende Bewertung der aus der allgemeinen Gefahr für den Ausländer folgenden
Gesamtgefährdungslage vorzunehmen, um auf dieser Grundlage über das Vorliegen
einer nach Art, Ausmaß und Intensität extremen Gefahrenlage entscheiden zu können.
40
BVerwG, Beschluss vom 23. März 1999 - 9 B 866.98 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG
Nr. 17, S. 3, 4 f.; Urteil vom 19. November 1996 - 1 C 6.95 -, NVwZ 1997, 685, 687.
41
Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist gegenüber
dem im Asylrecht entwickelten Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit
ein strengerer Maßstab anzulegen. Die allgemeine Gefahr muss dem jeweiligen
Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Nur dann rechtfertigt sich die Annahme
eines aus den Grundrechten folgenden zwingenden Abschiebungshindernisses, das die
gesetzliche Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG überwinden kann.
42
BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 5.01 -, NVwZ 2002, 101, 103; Beschluss vom 26.
Januar 1999 - 9 B 617.98 -, NVwZ 1999, 668; Urteil vom 19. November 1996 - 1 C 6.95 -
, NVwZ 1997, 685, 687 f.
43
Gemessen an diesen Anforderungen steht den Klägern weder in unmittelbarer noch in
verfassungskonformer Anwendung des § 53 Abs. 6 AuslG Abschiebungsschutz zu.
44
Gründe, die einer Abschiebung in unmittelbarer Anwendung des § 53 Abs. 6 Satz 1
AuslG entgegenstehen könnten, haben die Kläger nicht geltend gemacht.
45
Auch ein Schutz vor Abschiebung in verfassungskonformer Anwendung des § 53 Abs. 6
AuslG kommt nicht in Betracht, da nach aktueller Erkenntnislage nicht davon
ausgegangen werden kann, dass die Kläger nach ihrer Rückkehr in die Bundesrepublik
Jugoslawien auf Grund der dort für Volkszugehörige der Roma herrschenden
allgemeinen Lebensbedingungen (§ 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG) in eine extreme
Gefahrenlage geraten, die sie mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit dem Tod
oder schwersten Verletzungen ausliefern würde.
46
Der Senat verneint in ständiger Rechtsprechung eine derartige extreme Gefahrenlage in
der Bundesrepublik Jugoslawien für dorthin zurückkehrende Volkszugehörige der Roma
und Angehörige anderer Minderheiten, gleich welcher Glaubenszugehörigkeit.
47
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 6. Februar 2001 - 5 A 2706/96.A -, m.w.N.; Beschluss
vom 20. Juni 2001 - 5 A 1875/01.A -; Beschluss vom 17. Oktober 2001 - 5 A 1608/01.A -;
Beschluss vom 6. Juni 2002 - 5 A 2198/02.A -; Beschluss vom 16. September 2002 - 5 A
3570/02.A -; vgl. auch Urteil vom 23. April 2002 - 14 A 4372/00.A -.
48
Diese Einschätzung wird durch die aktuelle Auskunftslage bestätigt: In den
tatsächlichen Verhältnissen in der Bundesrepublik Jugoslawien sind inzwischen
grundlegende Änderungen eingetreten, die die Annahme einer
abschiebungsschutzrelevanten Gefährdung ethnischer Minderheiten ausschließen.
Auch wenn nach über vierzig Jahren sozialistischer und zehn Jahren totalitärer
Herrschaft unter Slobodan Milosevic die Umstrukturierung von Staat und Gesellschaft
noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird, hat sich die neue politische Führung, die
nach dem Sturz Milosevics am 5. Oktober 2000 zunächst auf Bundesebene und nach
den serbischen Parlamentswahlen am 23. Dezember 2000 auch auf Republiksebene
die Macht übernommen hat, den Prinzipien von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit,
Marktwirtschaft, Pluralismus und dem Respekt der Menschenrechte verschrieben.
49
Vgl. AA, Lagebericht vom 6. Februar 2002, S. 5; AA, Lagebericht vom 8. Mai 2001, S. 4;
Die Zeit vom 21. Februar 2002, S. 27.
50
Die Bundesrepublik Jugoslawien bemüht sich überdies nachhaltig um eine
Verbesserung der Lage der Minderheiten im Lande. So hat die neue Bundesregierung
einen Sandzak-Moslem, Razim Ljajic, zum Minderheitenminister berufen; ein Ungar ist
stellvertretender Premierminister der neuen serbischen Regierung. Ferner ist ein neues
Minderheitengesetz angekündigt, das die Minderheitenrechte dem internationalen
Standard entsprechend gesetzlich fixieren soll. An seiner Erarbeitung waren die in
Jugoslawien ansässigen ethnischen Minderheiten aktiv beteiligt. Nach diesem
Gesetzentwurf soll u.a. das Volk der Roma den Status einer "nationalen Minderheit"
erhalten und in öffentlichen Ämtern proportional vertreten sein. Ferner soll ihm etwa das
Recht auf den Betrieb eigener Radio- und Fernsehstationen zugebilligt werden.
51
AA, Lagebericht vom 6. Februar 2002, S. 13.
52
Rassistisch motivierte Übergriffe durch minderheitenfeindliche Gruppierungen, wie z.B.
Skinheads, zu denen es in der Vergangenheit auch gegenüber Volkszugehörigen der
Roma gekommen ist,
53
vgl. dazu auch OVG NRW, Beschluss vom 6. Februar 2001 - 5 A 2706/96.A -, m.w.N.,
54
werden von staatlicher Seite aus verfolgt.
55
AA, Lagebericht vom 8. Mai 2001, S. 11.
56
Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die im Mai 2001 erfolgte Verurteilung
eines Angeklagten wegen Körperverletzung, bei der erstmalig ein Gericht in der
Bundesrepublik Jugoslawien den Angriff auf einen Volkszugehörigen der Roma
57
ausdrücklich als eine durch Rassenhass motivierte Tat kennzeichnete.
AA, Lagebericht vom 6. Februar 2002, S. 15.
58
Auch wenn bei internationalen Menschenrechtsorganisationen von
menschenverachtender Behandlung auf serbischen Polizeistationen und von
Übergriffen und Gewalttaten durch Skinheads oder andere Private die Rede ist,
59
vgl. GfbV, Stellungnahme vom 26. Oktober 2000 an OVG NRW,
60
ergibt ein Blick auf die Zahlenverhältnisse ein nur verschwindend geringes
Bedrohungspotenzial. Nach Berichten verschiedener Menschenrechtsorganisationen
leben zwischen 450.000 und 900.000 Roma in der Bundesrepublik Jugoslawien.
61
Vgl. Roma Rights, Newsletter of the European Roma Rights Center, 1998; GfbV,
Stellungnahme vom 26. Oktober 2000 an OVG NRW.
62
Dem steht eine Zahl von lediglich etwa 50 Fällen rassistisch motivierter Gewalttaten
gegenüber, die im Jahre 1999 von Menschenrechtsorganisationen untersucht wurden.
63
Vgl. GfbV, Stellungnahme vom 26. Oktober 2000 an OVG NRW.
64
Auch unter Berücksichtigung einer nicht unerheblichen Dunkelziffer und weiterer
dokumentierter Übergriffe,
65
vgl. GfbV, Stellungnahme vom 26. Oktober 2000 an OVG NRW,
66
verdeutlicht das vorliegende Zahlenmaterial, dass es sich bei den Übergriffen auf
Volkszugehörige der Roma lediglich um Einzelfälle handelt. Eine Gefahr für jeden in die
Bundesrepublik Jugoslawien zurückkehrenden Roma, mit der erforderlichen hohen
Wahrscheinlichkeit dem Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert zu werden,
lässt sich hieraus ersichtlich nicht ableiten.
67
Auch die allgemeinen Lebensbedingungen in der Bundesrepublik Jugoslawien
rechtfertigen eine derartige Annahme nicht. In diesem Zusammenhang darf allerdings
nicht verkannt werden, dass die wirtschaftliche Lage in der Bundesrepublik Jugoslawien
nach wie vor schlecht und die Arbeitslosigkeit im Lande hoch ist, obwohl sich die
Regierung um eine nachhaltige Besserung der Situation bemüht. Im August 2001 lag
das Durchschnittsnettoeinkommen in Serbien bei ca. 104,-- EUR und die
Durchschnittsrente bei ca. 92,-- EUR, während die durchschnittlichen Ausgaben für eine
vierköpfige Familie etwa 250,-- EUR ausmachten. Mit ca. 132,-- EUR fiel das
Durchschnittseinkommen in Montenegro zwar höher aus; Zahlen über den Warenkorb
liegen für Montenegro jedoch nicht vor. Obwohl ein Anstieg der Durchschnittslöhne zu
verzeichnen ist, mit dem allerdings auch Preiserhöhungen einhergehen, leben einer
Studie des Welternährungsprogramms zufolge immer noch ca. 12 % der Bevölkerung
der Bundesrepublik Jugoslawien unterhalb der international anerkannten Armutsgrenze
von einem US-Dollar pro Tag. Nach offiziellen Angaben liegt die Arbeitslosigkeit bei ca.
23 %, inoffiziellen Angaben zufolge wird sie auf 40 - 50 % geschätzt. Trotz dieser
schlechten wirtschaftlichen Ausgangslage ist gleichwohl die Grundversorgung mit
existenziellen Lebensmitteln gesichert.
68
AA, Lagebericht vom 6. Februar 2002, S. 20.
69
Vielen Jugoslawen gelingt es, ihre Existenz durch Schwarzarbeit zu sichern. Vor allen
Dingen Roma, die nur schwer Zugang zum offiziellen Arbeitsmarkt finden, verdingen
sich auf diese Weise häufig als ungelernte Arbeiter in Fabriken, arbeiten schwarz als
Wertstoffsammler und Straßenreiniger oder üben ähnliche einfache Arbeiten aus, die
ihnen das Existenzminimum gewährleisten,
70
AA, Lagebericht vom 6. Februar 2002, S. 13 f., 20; vgl. auch GfbV, Stellungnahme vom
26. Oktober 2000 an OVG NRW,
71
wobei die Aussicht, eine derartige Beschäftigung zu finden, auch für Rückkehrer als
realistisch einzuschätzen ist.
72
Vgl. AA, Auskunft vom 17. Mai 2001 an VG Köln.
73
Darüber hinaus hat jeder Bedürftige Zugang zu sozialer Fürsorge; Angehörige
ethnischer Minderheiten sind hiervon nicht ausgeschlossen. Sozialhilfe erhalten
Personen, die arbeitsunfähig sind und keine Mittel zum Unterhalt besitzen, ferner
Personen und Familien, die ihren Lebensunterhalt nicht durch ihre Arbeit, durch
Unterhaltspflichten von Verwandten oder auf sonstige Weise sicherstellen können. Die
Sozialhilfeleistungen sind zwar gering, reichen aber zur Befriedigung der
grundlegenden Lebensbedürfnisse aus.
74
Vgl. AA, Auskunft vom 13. November 2001 an VG Frankfurt a.M.
75
Überdies besteht die Möglichkeit, sich zwecks Unterstützung an eine der zahlreichen in
der Bundesrepublik Jugoslawien tätigen internationalen Hilfsorganisationen zu wenden,
76
vgl. AA, Auskunft vom 13. November 2001 an VG Frankfurt a.M.,
77
denen vor allen Dingen im ländlichen Raum nach wie vor eine wichtige Rolle bei der
Versorgung von Hilfsbedürftigen, insbesondere von alten Menschen, Kindern und
Flüchtlingen, zukommt.
78
Vgl. AA, Lagebericht vom 6. Februar 2002, S. 20; AA, Auskunft vom 13. November 2001
an VG Frankfurt a.M.
79
Auch die angespannte Wohnsituation rechtfertigt nicht die Annahme einer extremen
Gefahrenlage. Zurückkehrende Roma haben die Möglichkeit, zumindest in
Behelfssiedlungen Unterkunft zu finden. Hierbei handelt es sich häufig um illegal
errichtete, aber von den Behörden in aller Regel geduldete Ziegelhäuser-, Blech- und
Pappkartonsiedlungen am Stadtrand, in denen sich auch viele aus dem Kosovo
geflüchtete Roma niedergelassen haben.
80
AA, Lagebericht vom 6. Februar 2002, S. 13.
81
Trotz der primitiven Unterbringungssituation,
82
vgl. dazu auch GfbV, Stellungnahme vom 26. Oktober 2000 an OVG NRW,
83
liegen keine Berichte darüber vor, dass es in der Vergangenheit zu Todesfällen oder
schweren Gesundheitsgefahren infolge der dort herrschenden Lebensverhältnisse
gekommen wäre. Berücksichtigt man ferner die hohe Anzahl der freiwillig in ihr
Heimatland zurückgekehrten und der dort bereits seit längerem lebenden Roma, so
lässt sich nicht annehmen, jeder Angehörige dieser Volksgruppe werde bei einer
Rückkehr mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Tod oder schwersten Verletzungen
preisgegeben.
84
Gleiches gilt auch für die medizinische Versorgungslage in der Bundesrepublik
Jugoslawien. So gibt es dort nur sehr wenige Erkrankungen, die auf Grund fehlender
Ausrüstung nicht oder nur schlecht behandelt werden können.
85
AA, Lagebericht vom 6. Februar 2002, S. 21.
86
Es besteht ein gesetzlicher Krankenversicherungsschutz für alle Arbeitnehmer, der ihre
Familienangehörigen einschließt. Gemeldete anerkannte Arbeitslose und anerkannte
Sozialhilfeempfänger und ihre Familienangehörigen sind ebenfalls versichert, zahlen
aber keine Versicherungsbeiträge und werden daher kostenlos behandelt. Dies trifft
auch auf Angehörige der Volksgruppe der Roma zu.
87
AA, Lagebericht vom 6. Februar 2002, S. 21.
88
Obwohl auf Grund von Engpässen oft lange Wartezeiten bestehen, werden
lebensbedrohliche Erkrankungen im Regelfall sofort behandelt.
89
AA, Lagebericht vom 6. Februar 2002, S. 21 f.
90
Angesichts dieser Gesamtumstände ist keine extreme Gefährdungslage gegeben, bei
der für jeden Rückkehrer, der der Volksgruppe der Roma angehört, angenommen
werden muss, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach der Rückkehr in die
Bundesrepublik Jugoslawien dem Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert
würde.
91
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b Abs. 1 AsylVfG. Der
Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167
VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 und 713 ZPO.
92
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen der §§ 130a Satz 2, 125
Abs. 2 Satz 4, 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.
93