Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 24.03.2009
OVG NRW: beweisverfahren, firma, offenkundig, nichterfüllung, einbau, rückzahlung, beiladung, ermessen, ausnahme, anschluss
Oberverwaltungsgericht NRW, 15 E 31/09
Datum:
24.03.2009
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
15. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
15 E 31/09
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Düsseldorf, 17 I 4/08
Tenor:
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts wird aufgehoben.
Es ist ein schriftliches Sachverständigengutachten zu den in der
Antragsschrift vom 25. September 2008 unter I. und II. aufgeführten
Fragen einzuholen.
Die weiter erforderlichen Anordnungen und Maßnahmen werden dem
Verwaltungsgericht Düsseldorf übertragen.
Unter Abänderung des erstinstanzlichen Streitwertbeschlusses wird der
Streitwert für das Verfahren erster und zweiter Instanz auf jeweils
27.558,63 Euro festgesetzt.
G r ü n d e :
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Die Beschwerde ist gemäß § 146 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)
zulässig. Sie ist auch begründet.
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Die Antragstellerin hat Anspruch auf Anordnung eines selbstständigen
Beweisverfahrens gemäß § 98 VwGO i.V.m. § 485 Abs. 2 der Zivilprozessordnung
(ZPO). Der hierauf gerichtete Antrag der Antragstellerin genügt den in § 487 ZPO
bezeichneten formellen Anforderungen. Bedenken ergeben sich insoweit weder aus
dem Vorbringen des Antragsgegners noch den Ausführungen des Verwaltungsgerichts,
hierfür ist auch ansonsten nichts ersichtlich.
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Gemäß § 485 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO kann eine Partei die schriftliche Begutachtung
durch einen Sachverständigen beantragen, wenn ein Rechtsstreit noch nicht anhängig
ist und sie ein rechtliches Interesse u.a. daran hat, dass der Zustand einer Sache
festgestellt wird. Nach Satz 2 der Vorschrift ist ein rechtliches Interesse anzunehmen,
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wenn die Feststellung der Vermeidung eines Rechtsstreits dienen kann. Diese
Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
Zwischen den Beteiligten ist ein Rechtsstreit nicht anhängig, der sich auf den
(fehlenden) Einbau einer Frostschutzschicht aus Kiessand bei den in der Antragsschrift
bezeichneten Straßen und die sich hieraus ggf. ergebenden Ansprüche der
Antragstellerin gegen die Antragsgegnerin bezieht. Ferner begehrt die Antragstellerin
die Feststellung des Zustands einer Sache durch Einholung eines schriftlichen
Sachverständigengutachten.
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Die Antragstellerin hat auch das für einen erfolgreichen Antrag auf Durchführung des
selbstständigen Beweisverfahren nach § 485 Abs. 2 ZPO erforderliche rechtliche
Interesse. Die durch das Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz vom 17. Dezember 1990
(BGBl. I S. 2847) mit Wirkung vom 1. April 1991 neu gestalteten Bestimmungen über
das selbständige Beweisverfahren ermöglichen in § 485 Abs. 2 ZPO eine von einem
Beweissicherungsbedürfnis, wie es etwa § 485 Abs. 1 ZPO voraussetzt, unabhängige
Erhebung des Sachverständigenbeweises. Voraussetzung ist lediglich, dass der
Antragsteller ein rechtliches Interesse an der zu treffenden Feststellung hat; ein solches
ist insbesondere (aber nicht nur) dann anzunehmen, wenn die Feststellung der
Vermeidung eines Rechtsstreits dienen kann. Der Begriff des "rechtlichen Interesses" ist
weit zu fassen. Insbesondere ist es dem Gericht grundsätzlich verwehrt, bereits im
Rahmen des selbständigen Beweisverfahrens eine Schlüssigkeits- oder
Erheblichkeitsprüfung vorzunehmen. Dementsprechend kann ein rechtliches Interesse
etwa dann verneint werden, wenn ein Rechtsverhältnis, ein möglicher Prozessgegner
oder ein Anspruch nicht ersichtlich ist. Dabei kann es sich nur um völlig eindeutige Fälle
handeln, in denen evident ist, dass der behauptete Anspruch keineswegs bestehen
kann.
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Vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. Juli 2006 - III ZB 14/06 -, NJW-RR 2006, 1454, und vom
16. September 2004 - III ZB 33/04 -, NJW 2004, 3488.
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Im rechtlichen Ansatz zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass
zu den darzulegenden und gemäß § 487 Nr. 4 ZPO glaubhaft zu machenden Tatsachen
auch die Angabe des in der Hauptsache verfolgten materiell-rechtlichen Anspruchs
gehört und es deutlich werden muss, inwiefern das selbstständige Beweisverfahren die
Durchsetzung dieses Anspruchs vorbereiten oder fördern können sollte. Mit Blick auf die
vorstehend wiedergegebene Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs könnte dem
Verwaltungsgericht jedoch nicht in der Ansicht gefolgt werden, dass nach dem
vorgetragenen Sachverhalt "wenigstens nachvollziehbar" sein müsse, dass "dem
Antragsteller Ansprüche gegen den Antragsgegner zustehen könnten, falls die unter
Beweis gestellten Tatsachen vorliegen", wenn diese Ausführungen im Sinne einer
Schlüssigkeitsprüfung zu verstehen sein sollten. Erforderlich, aber auch ausreichend ist,
dass ein materiell- rechtlicher Anspruch nicht offensichtlich ausgeschlossen ist, für den
die beantragte Beweiserhebung erheblich ist. Das ist hier der Fall:
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Die Antragstellerin berühmt sich zweier Ansprüche, die ihr gegen die Antragsgegnerin
zustehenden sollen, wobei nach Lage der Dinge als Anspruchsgrundlage die
Regelungen des zwischen den Beteiligten geschlossenen Erschließungs- und
städtebaulichen Vertrages in Betracht kommen. Zum einen macht die Antragstellerin
geltend, einen Anspruch gegen die Antragsgegnerin zu haben, der darauf gerichtet ist,
dass diese ihrerseits im Falle der teilweisen Nichterfüllung des zwischen ihr und der
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bauausführenden Firma T. Baugesellschaft m.b.H. Co. KG aus N. geschlossenen
Vertrages einen Rückzahlungsanspruch gegen diese Gesellschaft geltend macht.
Dieser Anspruch ist nicht deshalb offensichtlich ausgeschlossen, weil der
Erschließungs- und städtebauliche Vertrag hierzu keine ausdrückliche Regelung
enthält. Vielmehr ist in Betracht zu ziehen, dass sich ein entsprechender Anspruch etwa
durch Auslegung der vertraglichen Bestimmungen ermitteln lässt. Einem etwaigen, sich
aus den zwischen den Beteiligten bestehenden vertraglichen Beziehungen ergebenden
Anspruch der Antragstellerin steht auch nicht zwingend entgegen, dass diese nach
Maßgabe des § 5 Abs. 1 und 2 des Vertrages für die mangelfreie Herstellung der
Erschließungsanlage einzustehen hat. Zum einen handelt es sich hierbei um völlig
andere Ansprüche und zum anderen ist nach dem Vortrag der Antragstellerin nicht
auszuschließen, dass die Erschließungsanlagen trotz Fehlens der vertraglich
vereinbarten Frostschutzschicht mangelfrei hergestellt worden sind. Schließlich ist der
von der Antragstellerin geltend gemachte Anspruch auch nicht deshalb offenkundig
ausgeschlossen, weil die Bauüberwachung nach dem Vortrag des Antragsgegners
durch ein von der Antragstellerin beauftragtes Ingenieurbüro erfolgte und dieses die
Tagesberichte der bauausführenden Firma, die u.a. auch den Einbau einer
Frostschutzschicht behandeln, ohne Beanstandungen abgezeichnet hat.
Des Weiteren macht die Antragstellerin geltend, dass sie die von der bauausführenden
Firma an die Antragsgegnerin im Hinblick auf die teilweise Nichterfüllung des
Werkvertrages künftig erfolgende teilweise Rückzahlung des Werklohns beanspruchen
könne. Auch dieser Anspruch ist nicht offenkundig ausgeschlossen. Vielmehr kommt in
Betracht, dass die Antragstellerin sich insoweit auf § 8 Abs. 1 des Erschließungs- und
städtebaulichen Vertrages berufen kann.
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Dass die beantragte Beweiserhebung für die geltend gemachten Ansprüche erheblich
ist, ist offenkundig und bedarf keiner Vertiefung.
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Die weiteren Anordnungen und Maßnahmen werden gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 572
Abs. 3 ZPO dem Verwaltungsgericht übertragen. Dies betrifft neben der Frage einer
etwaigen Beiladung der T. Baugesellschaft m.b.H. Co. KG aus N. gemäß § 65 Abs. 1
VwGO die Auswahl des Sachverständigen und die gebotene Festsetzung eines
Kostenvorschusses gemäß § 98 VwGO i.V.m. §§ 492 Abs. 1, 402, 379 ZPO. Schließlich
obliegt dem Verwaltungsgericht die Durchführung der Beweisaufnahme.
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Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht. Die Kosten des selbstständigen
Beweisverfahrens gehören zu den Kosten des anschließenden Hauptsacheverfahrens
und werden von der darin zu treffenden Kostenentscheidung mitumfasst. Im Übrigen gilt
§ 173 VwGO i.V.m. § 494a ZPO.
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Vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. Mai 2007 - IV ZB 26/06 -, NJW 2007, 3721, vom 18.
Dezember 2002 - VIII ZB 97/02 -, NJW 2003, 1322 und vom 12. Februar 2004 - V ZB
57/03 -, NJW-RR 2004, 1005; BAG, Beschluss vom 30. September 2008 - 3 AZB 47/08 -
, juris; zur Haftung des Antragstellers für die Gerichtskosten vgl. LG Flensburg,
Beschluss vom 8. Mai 2006 - 4 OH 6/04 -, JurBüro 2007, 39.
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Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 47 Abs. 1 und 2, 52 Abs. 1 des
Gerichtskostengesetzes (GKG). Danach ist der Streitwert nach der sich aus dem Antrag
des Antragstellers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu
bestimmen. Bei der Bestimmung des wirtschaftlichen Interesses des Antragstellers an
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einem selbständigen Beweisverfahren gemäß § 485 ZPO ist im Anschluss an die
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs,
vgl. Beschluss vom 16. September 2004 - III ZB 33/04 -, a.a.O.,
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grundsätzlich von dem Streit- bzw. Gegenstandswert des entsprechenden
Hauptsacheverfahrens auszugehen. In verwaltungsgerichtlichen Verfahren kann mit
Blick auf die unterschiedlichen Verfahrensstrukturen und die regelmäßig geringere
Bedeutung einzelner Beweisfragen nur dann Anlass zu einer Reduzierung des Werts
bestehen, wenn sich die genannten Umstände im konkreten Fall auf das in erster Linie
maßgebliche wirtschaftliche Interesse des Rechtsschutzsuchenden auswirken.
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Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Juli 2007 - 8 E 547/07 -, NVwZ-RR 2007, 826 m.
Nachw. zur abweichenden Streitwertpraxis anderer Obergerichte.
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Für eine derartige Ausnahme sind hier keine Anhaltspunkte ersichtlich, sodass vom
Wert des Hauptsacheverfahrens auszugehen ist. Aus dem in der Antragsschrift in Bezug
genommenen Leistungsverzeichnis sind für die einzubauende Frostschutzschicht
Beträge von 44.000,00 DM (Position 3.3.003) sowie 9.900,00 DM (Position 4.4.003),
zusammen also 53.900,00 DM angegeben. Das entspricht den festgesetzten 27.558,63
Euro.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 66 Abs. 3 Satz 3, 68 Abs. 1
Satz 5 GKG).
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