Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 01.12.2005

OVG NRW: folter, politische verfolgung, asylbewerber, misshandlung, demokratisierung, mitgliedschaft, auskunft, bedürfnis, wasser, todesstrafe

Oberverwaltungsgericht NRW, 8 A 4037/05.A
Datum:
01.12.2005
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
8. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
8 A 4037/05.A
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Arnsberg, 9 K 3971/04.A
Tenor:
1. Dem Kläger wird für das Antragsverfahren Prozesskostenhilfe
bewilligt und Rechtsanwältin H. aus C. beigeordnet.
2. Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das
Urteil des Verwaltungsgerichts Arnsberg vom 24. August 2005 wird
abgelehnt.
Die Beklagte trägt die Kosten des Antragsverfahrens, für das
Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Gründe:
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1. Die Bewilligung der Prozesskostenhilfe beruht auf § 166 VwGO i.V.m. §§ 114, 119
Abs. 1, 121 ZPO.
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2. Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
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Die Berufung ist nicht gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG wegen grundsätzlicher
Bedeutung der Rechtssache zuzulassen. Grundsätzliche Bedeutung hat eine
Rechtssache, wenn sie eine für die Entscheidung des Streitfalls im
Rechtsmittelverfahren erhebliche klärungsbedürftige Rechts- oder Tatsachenfrage von
allgemeiner Bedeutung aufwirft. Das ist hier nicht der Fall.
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a) Die Frage,
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"ob ein mit derartigen Merkmalen wie (der) vorliegende Kläger ausgestatteter
Asylbewerber, der nach der seit dem 01.06.2005 geänderten Rechtslage in der Türkei
keiner Strafverfolgung mehr unterliegt, bei einer Rückkehr nicht hinreichend sicher vor
Folter ist,"
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ist - soweit sie sich darauf bezieht, ob dem Kläger in der Türkei Strafverfolgung droht -
nur bezogen auf den konkreten Einzelfall zu beantworten und daher einer
grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich. Die damit verbundene Frage, ob ein
türkischer Staatsangehöriger, der - wie das Verwaltungsgericht hier angenommen und
die Beklagte nicht mit im Zulassungsverfahren beachtlichen Rügen in Frage gestellt hat
- vorverfolgt ausgereist ist, in der Türkei unter Zugrundelegung des herabgestuften
Wahrscheinlichkeitsmaßstabes vor Folter hinreichend sicher ist, stellt sich in dieser
Form nicht; maßgeblich ist vielmehr, ob ein vorverfolgt ausgereister Ausländer vor
erneuter politischer Verfolgung hinreichend sicher ist. Diese mit der Antragsschrift
sinngemäß aufgeworfene Frage bedarf keiner grundsätzlichen Klärung. In der
Rechtsprechung des Senats ist geklärt, dass es in der Türkei trotz der umfassenden
Reformbemühungen, insbesondere der "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter,
weiterhin zu Verfolgungsmaßnahmen asylerheblicher Art und Intensität kommt, die dem
türkischen Staat zurechenbar sind, weshalb auch gegenwärtig verfolgt ausgereiste
Kurden vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher sind.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A -, S. 21 ff. des Urteilsabdrucks.
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Das Zulassungsvorbringen zeigt keine Umstände auf, die einen neuerlichen
Klärungsbedarf begründen.
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Die türkische Reformpolitik der jüngeren Vergangenheit einschließlich des am 1. Juni
2005 in Kraft getretenen neuen Strafgesetzbuches hat der Senat in dem genannten
Urteil bereits eingehend gewürdigt (vgl. insbes. Seite 48 ff. des Urteilsabdrucks). Auch
wenn die Reformen, wie die Beklagte unter Hinweis auf Berichte des Auswärtigen
Amtes ausgeführt hat, staatliche Repressionen in asylrelevanter Intensität "theoretisch
unmöglich" machen sollten, bedeutet das gerade nicht, dass derartige Übergriffe
tatsächlich nicht mehr mit relevanter Häufigkeit vorkämen (Seite 51 ff. des
Urteilsabdrucks). Das hat der Senat unter umfassender Auswertung verschiedenster
Quellen ausführlich dargelegt. Die Ausführungen der Beklagten lassen weder die
Richtigkeit dieser Einschätzung zweifelhaft erscheinen noch zeigen sie neuere
tatsächliche Entwicklungen auf, die die Bewertung des Senats in Frage stellen würden.
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Die von der Beklagten angesprochenen Erkenntnisse dazu, dass in den vergangenen
Jahren keine Fälle bekannt geworden sind, in denen abgeschobene Personen gefoltert
oder misshandelt wurden wären, waren dem Senat zum Zeitpunkt seiner
Grundsatzentscheidung bekannt; er hat sie auch bereits unter dem Aspekt einer
möglichen Gefährdung nicht verfolgt ausgereister Asylbewerber bei einer Rückkehr in
die Türkei gewürdigt (vgl. Seite 103 ff. des Urteilsabdrucks). Die diesbezüglichen
Ausführungen der Beklagten berücksichtigen nicht, dass für die Verfolgungsprognose
unterschiedliche Maßstäbe je nach dem gelten, ob der Asylsuchende seinen
Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer
Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt in die Bundesrepublik Deutschland
gekommen ist. Im erstgenannten Fall ist Asyl schon dann zu gewähren, wenn der
Asylsuchende bei einer Rückkehr vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher sein
kann (sog. herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab). Hat der Asylsuchende sein
Heimatland jedoch unverfolgt verlassen, so kann sein Asylanerkennungsbegehren nach
Art. 16 a Abs. 1 GG nur Erfolg haben, wenn ihm aufgrund von beachtlichen
Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.
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BVerfG, Beschluss vom 2. Juli 1980 - 1 BvR 147/80 u.a. -, BVerfGE 54, 341 (360),
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Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502/86 u.a. -, BVerfGE 80, 315 (344 ff.); BVerwG,
Urteil vom 5. Juli 1994 - 9 C 1.94 -, NVwZ 1995, 391.
Das Zulassungsvorbringen zeigt nicht auf, dass neuere Auskünfte Grundlage für eine
veränderte Gefährdungsprognose sein könnten. Die von der Beklagten zitierten
Auskünfte von Serafettin Kaya und Kamil Taylan enthalten weder neue Erkenntnisse
noch sind sie als Beleg für die von der Beklagten vertretene Auffassung geeignet. Kaya
hat in seinem für das VG Sigmaringen erstatteten Gutachten vom 8. August 2005
entgegen der Darstellung der Beklagten keineswegs die Auffassung vertreten, dass
verfolgt ausgereiste Personen nunmehr bei Rückkehr in die Türkei vor Verfolgung
hinreichend sicher seien. Vielmehr hat er ausgeführt: Die Feststellung des Auswärtigen
Amtes, dass in den letzten drei Jahren kein einziger Fall bekannt geworden sei, in dem
ein aus der Bundesrepublik in die Türkei zurückgekehrter oder abgeschobener
abgelehnter Asylbewerber gefoltert oder misshandelt worden sei, sei zwar zutreffend;
unter den Zurückgekehrten oder Abgeschobenen habe sich aber keine Person
befunden, die Mitglied oder Kader der PKK oder einer anderen illegalen, bewaffneten
Organisation gewesen sei oder als solche verdächtigt worden sei (S. 7 des Gutachtens).
Die gesetzlichen Bestimmungen zur Verhinderung von Folter würden in der Praxis nicht
"wortgetreu und zur Gänze" umgesetzt; man könne nicht sagen, dass es keine Folter
mehr gebe. Denn die Gesetzesreformen seien wegen der Bemühungen um die EU-
Mitgliedschaft vorgenommen worden und nicht aus dem ernsthaften Bedürfnis des
Gesetzgebers und der Anwender der Gesetze nach Demokratisierung (S. 9 des
Gutachtens). Das ebenfalls für das VG Sigmaringen erstattete Gutachten Taylans vom
21. Juli 2005 besagt im Ergebnis nichts Gegenteiliges. Es bestätigt nur, dass es in den
letzten drei Jahren keine Misshandlung oder Folter von abgeschobenen oder freiwillig
zurückgekehrten Asylbewerbern gegeben hat. Darüber hinaus vermag diese Auskunft
eine hinreichende Verfolgungssicherheit auch deshalb nicht zu belegen, weil sie sich
ausschließlich auf Folter und Misshandlung bezieht; asylerhebliche Maßnahmen
unterhalb dieser Schwelle sind damit nicht erfasst. Hingegen hält Kaya in seinem
Gutachten insbesondere erniedrigende, beleidigende Verhaltensweisen und die
Verweigerung der Befriedigung elementarer Bedürfnisse (Wasser, Nahrung,
Toilettengang) für möglich. Derartige Maßnahmen können - je nach den Umständen -
asylerheblich sein.
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Auch mit dem Verweis auf neuere verwaltungsgerichtliche Urteile lässt sich ein erneuter
Klärungsbedarf nicht belegen. Das Zulassungsvorbringen zeigt nicht auf, dass den von
der Beklagten zitierten Urteilen Erkenntnisse zugrunde liegen, die der Senat bislang
nicht oder nicht richtig gewürdigt hätte. Das VG Stuttgart hat sich in seinem (der Klage
des Asylbewerbers hinsichtlich der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG
stattgebenden) Urteil vom 6. Juni 2005 - A 4 K 10512/05 -, AuAS 2005, 223, entgegen
der Darstellung der Beklagten ausdrücklich der Rechtsprechung des Senats
angeschlossen und ausgeführt, dass nach wie vor ein nicht gänzlich unbedeutendes
Restrisiko verblieben sei, das die Annahme einer hinreichenden Sicherheit nicht
rechtfertige. Das weitere von der Beklagten angeführte Urteil des VG Stuttgart vom 12.
Mai 2005 - A 8 K 10682/05 - enthält keine Aussage dazu, ob ein verfolgt ausgereister
Asylbewerber in der Türkei vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist; das VG
Stuttgart ging in dem betreffenden Fall von der Anwendbarkeit des § 60 Abs. 8 AufenthG
aus. Im Rahmen seiner auf Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2, 3 und 5
AufenthG bezogenen Ausführungen zu der türkischen Reformpolitik hat das VG Stuttgart
angenommen, dass es den türkischen Stellen in der Praxis nicht gelungen sei, Folter
und Misshandlung vollständig zu unterbinden; allerdings sei nicht ohne weiteres davon
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auszugehen, dass jeder Rückkehrer auch die Anwendung von Folter, Todesstrafe oder
unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung ernstlich befürchten
müsse. Diese Einschätzung der tatsächlichen Verhältnisse deckt sich mit der dem
Senatsurteil vom 19. April 2005 zugrunde liegenden Erkenntnislage. Für das von der
Beklagten zitierte Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vom 22. März 2005 - 10 E
3006/04.A - kam es auf die Gefährdungslage unter Berücksichtigung des herabgestuften
Wahrscheinlichkeitsmaßstabs nicht an, weil das Gericht angenommen hat, dass die
Klägerin jenes Verfahrens nicht vorverfolgt ausgereist sei. Tatsächliche Erkenntnisse,
die dem Senat bislang nicht bekannt waren, sind in diesem Urteil nicht gewürdigt
worden.
b) Die Frage,
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"ob die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen,
gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG - selbst bei unveränderter Verfolgungslage - nicht
auch dann zu widerrufen ist, wenn im Fall des Flüchtlings die Voraussetzungen des §
60 Abs. 8 S. 1 AufenthG (vormals § 51 Abs. 3 AuslG) verwirklicht sind,"
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ist in der Rechtsprechung des Senats,
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OVG NRW, Beschluss vom 4. Dezember 2003 - 8 A 3766/03.A -, NWVBl. 2004, 231,
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bereits geklärt. Das diesbezügliche Zulassungsvorbringen zielt der Sache nach darauf,
dass das angefochtene Urteil im Ergebnis fehlerhaft sei, weil das Verwaltungsgericht
die Anwendbarkeit des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG von Amts wegen hätte prüfen
müssen, auch wenn diese Vorschrift weder im Bescheid noch im Klageverfahren von
der Beklagten angesprochen wurde und deren tatbestandliche Voraussetzungen dem
Wortlaut nach, wie die Beklagte selbst einräumt, nicht vorliegen. Ein Zulassungsgrund
im Sinne des § 78 Abs. 3 AsylVfG ist damit nicht i.S.d. § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG
dargelegt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 83 b Abs. 1 AsylVfG.
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Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.
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