Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 21.03.2007

OVG NRW: sozialhilfe, nothilfe, vorrang, eltern, beschränkung, rechtssicherheit, zahl, unterhaltspflicht, sozialleistung, rückgriff

Oberverwaltungsgericht NRW, 12 A 3301/05
Datum:
21.03.2007
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
12. Senat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
12 A 3301/05
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Aachen, 2 K 2904/04
Tenor:
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Der Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens, für das
Gerichtskosten nicht erhoben werden.
G r ü n d e :
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet.
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Das Zulassungsvorbringen führt nicht zu ernstlichen Zweifeln i.S.v. § 124 Abs. 2 Nr. 1
VwGO. Es vermag die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Klägerin habe gegen
den Beklagten einen Anspruch auf rückwirkende Bewilligung von
Grundsicherungsleistungen für den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 31. Oktober 2003
ohne die Anrechnung des an ihre Mutter ausgezahlten Kindergeldes, nicht in Frage zu
stellen.
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Soweit der Beklagte vorträgt, eine analoge Anwendung von § 44 SGB X komme nicht in
Betracht, weil dies dem auch im Grundsicherungsrecht einschlägigen
sozialhilferechtlichen Strukturprinzip „Keine Sozialhilfe für die Vergangenheit"
widerspreche, greift dies nicht durch. Zur Begründung nimmt der beschließende Senat
gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO Bezug auf die zutreffenden Ausführungen des
Verwaltungsgerichts, die durch das Zulassungsvorbringen nicht erschüttert werden.
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Vgl. insoweit auch den in der angefochtenen Entscheidung in Bezug genommenen
Beschluss des BayVGH vom 13. April 2005 - 12 ZB 05.262 -,
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FEVS 56, 574.
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Das Strukturprinzip „Keine Sozialhilfe für die Vergangenheit" beruht auf der Annahme,
Sozialhilfe sei Nothilfe (zur Wahrung eines menschenwürdigen Lebens) und setze als
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Hilfe in gegenwärtiger Not auch einen gegenwärtigen Bedarf voraus.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Dezember 1983 - 5 C 65.82 -, FEVS 33, 133 ff.; Urteil vom
13. November 2003 - 5 C 26.02 -, FEVS 55, 320 ff. m.w.N.
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Die sozialhilferechtliche Notsituation impliziert zudem, dass der gegenwärtige Bedarf
nicht bereits anderweitig befriedigt worden ist, wie dies etwa in der Normierung des
Subsidiaritätsgrundsatzes in § 2 Abs. 1 BSHG und der gesetzlichen Vermutung der
Unterstützung durch Verwandte und Verschwägerte, die mit dem Hilfebedürftigen in
einer Haushaltsgemeinschaft leben (§ 16 BSHG), eindeutig zum Ausdruck kommt.
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Eine derartige subsidiäre Nothilfefunktion auf der letzten Stufe der sozialen Sicherung,
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vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1974 - V C 50.73 -, BVerwGE 47, 103 ff.,
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kommt der Grundsicherung ersichtlich nicht zu. Die Grundsicherung ist vielmehr als eine
den Lebensunterhalt sichernde, jedoch - gegenüber dem ursprünglichen Gesetzentwurf
auch in formaler Hinsicht - eigenständige und nicht subsidiäre, sondern den Leistungen
nach dem BSHG sogar vorgehende Sozialleistung ausgestaltet worden, die im Alter und
bei voll erwerbsgeminderten Personen in bestimmten Grenzen gerade den Rückgriff auf
die Nothilfe durch Sozialhilfeleistungen verhindern soll.
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Vgl. die Begründung des ursprünglichen Gesetzentwurfs, BT-Drucks. 14/4595, S. 38,
39; Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuss) vom
25.01.2001, BT-Drucks. 14/5150, S. 48 f.
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Der besondere, von der Nothilfe abgekoppelte Charakter der Grundsicherung kommt
insbesondere darin zum Ausdruck, dass die Grundsicherungsleistungen - anders als die
Sozialhilfeleistungen - nicht immer dann ausgeschlossen sind, wenn ein Bedarf im
sozialhilferechtlichen Sinn nicht besteht. Sind etwa unterhaltspflichtige Eltern oder
Kinder zur Leistung des Unterhalts bereit, ist die Berücksichtigung derartiger, ohne
weiteres realisierbarer Unterhaltsansprüche gleichwohl nach § 2 Abs. 1 Satz 3 GSiG
ausgeschlossen, wenn das Einkommen der Unterhaltsverpflichteten unterhalb der
Einkommensgrenze von 100.000 Euro liegt. Dieser auf der Bedarfsorientierung statt auf
der sozialhilferechtlichen Bedarfsabhängigkeit beruhende Vorrang der Grundsicherung
nicht nur gegenüber der Sozialhilfe, sondern auch gegenüber der zivilrechtlichen
Unterhaltspflicht führt im Übrigen dazu, dass nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts Eltern bei Ausbleiben von Grundsicherungsleistungen in
deren Umfang nur „anstelle" dieser Grundsicherungsleistungen Unterhalt leisten,
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vgl. BVerwG, Urteil vom 28. April 2005 - 5 C 28.04 -, FEVS 57, 499,
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und damit eine Situation gegeben ist, in der auch im Sozialhilferecht der Grundsatz
„Keine Sozialhilfe für die Vergangenheit" keine Geltung beansprucht.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 2. September 1993
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- 5 C 50.91 -, BVerwGE 94, 127 m.w.N.
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Schließlich zeigt auch die zwingende Regelung des § 6 Satz 2 GSiG,
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der als Spezialregelung nicht nur formale Bestimmungen über Bewilligungszeiträume
enthält, sondern damit zugleich auch die materiellen Anspruchsberechtigungen
normiert, vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9. Mai 2006 - 16 A 3488/05 -,
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wonach bei einer Änderung der der Leistungsbewilligung zugrundeliegenden
tatsächlichen Verhältnisse die hieran anknüpfende Neubewilligung - ohne jede
Einschränkung - ab dem Monat, in dem die Änderung eingetreten und mitgeteilt worden
ist, zu erfolgen hat, dass insoweit ggf. nicht nur rückwirkend zu bewilligen ist, sondern
sich eine derartige rückwirkende Bewilligung auch gegenüber bereits bestandskräftigen,
abweichenden Regelungen durchsetzt. Dass die sich hieraus ergebende Beschränkung
der Bestandskraft abweichender Regelungen nur solche Verwaltungsakte erfasst, die
ihrerseits Grundsicherungsleistungen gewähren (und nicht auch solche
Verwaltungsakte, die Grundsicherungsleistungen ganz oder teilweise ablehnen), ist
weder dargelegt noch kann dies dem Wortlaut des Gesetzes entnommen werden.
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An dem hieraus erkennbaren gesetzgeberischen Ziel der materiell-rechtlichen
Verselbständigung der Grundsicherungsleistungen zur Vermeidung des Rückgriffs auf
die Sozialhilfe hat sich die Auslegung zu orientieren. Mit der analogen Anwendung von
§ 44 SGB X, der innerhalb der Grenzen seines Absatzes 4 der Gesetzmäßigkeit des
Verwaltungshandelns Vorrang gegenüber der Rechtssicherheit einräumt, wird dem
gesetzlichen Anliegen Rechnung getragen und vermieden, dass diejenigen, die einen
materiell-rechtlichen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen haben und daher nicht
auf Sozialhilfe zu verweisen sind, wegen rechtswidrigen Verwaltungshandelns in die in
wesentlicher Hinsicht abweichenden Bewilligungsgrundsätzen unterliegende
Sozialhilfe abgedrängt werden.
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Dass der Gesetzgeber die Anwendung von § 44 SGB X positiv hat ausschließen wollen,
ist weder vorgetragen worden noch ist dies sonst ersichtlich; vielmehr spricht alles dafür,
dass der Gesetzgeber schlicht vergessen hat, das Erste Kapitel des Zehnten Buches
Sozialgesetzbuch i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 2 SGB X i.V.m. § 37 SGB I für anwendbar zu
erklären.
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Vgl. etwa Linhart/Adolph, Eine Lücke im Grundsicherungsgesetz, NDV 2003, 137.
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Gegenteiliges ergibt sich insbesondere nicht aus § 6 GSiG. Dass eine „Änderung der
Leistung" i.S.d. § 6 Satz 2 GSiG bereits dann vorliegt, wenn sich in den der
Leistungsbewilligung zugrundeliegenden tatsächlichen Umständen eine Änderung nicht
ergeben hat, sondern die Änderung der Leistung - wie im vorliegenden Fall - allein auf
einer Änderung der Rechtsauffassung etwa zur Anrechnung bestimmter
Einkommensanteile beruht, kann der ersichtlich als Sonderregelung zu § 48 SGB X
konzipierten Vorschrift des § 6 Satz 2 GSiG nicht ohne weiteres entnommen werden.
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Vgl. BT-Drucks. 14/5150, S. 51, wonach die Änderung in den nach § 60 Abs. 1 Nr. 2
SGB I mitteilungsfähigen tatsächlichen Verhältnissen im Blick gewesen waren.
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Schließlich rechtfertigt auch der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der
Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) nicht die Zulassung der Berufung. Gegen einen
die Frage der Anwendbarkeit des § 44 SGB X im Rahmen des
Grundsicherungsgesetzes betreffenden verwaltungsgerichtlichen Klärungsbedarf spricht
bereits, dass das Grundsicherungsgesetz durch Art. 68 Abs. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur
Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27. Dezember 2003,
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BGBl. I S. 3022, 3070, aufgehoben worden ist und für das nunmehr geltende
Sozialhilferecht gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 6 a SGG in der Fassung des Gesetzes vom 9.
Dezember 2004, BGBl. I S. 3302, nunmehr die Sozialgerichte zuständig sind. Dass
gleichwohl - ausnahmsweise - eine Grundsatzbedeutung wegen einer erheblichen Zahl
von Fällen bestünde, die noch nach dem auslaufenden Recht zu entscheiden wären, ist
vom Beklagten nicht dargelegt worden.
Die Kostenentscheidung folgt §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Das angefochtene Urteil ist
rechtskräftig (§ 124 a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
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