Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 05.09.2007
OVG NRW: toleranz, eltern, schüler, schule, wichtiger grund, befreiung, familie, schutz der ehe, schutz des lebens, wissenschaft und forschung
Oberverwaltungsgericht NRW, 19 A 2705/06
Datum:
05.09.2007
Gericht:
Oberverwaltungsgericht NRW
Spruchkörper:
19. Senat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
19 A 2705/06
Vorinstanz:
Verwaltungsgericht Münster, 1 K 411/06
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der
Vollstreckung in entsprechender Höhe Sicherheit leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
1
Der Kläger zu 1. ist Schüler des vom Beklagten geleiteten B. -N. -Gymnasiums in C. , wo
er im Schuljahr 2005/2006 die Klasse 6 a besuchte. Er wohnt in dem Kolleg L. von H. -
Haus B1. , das der katholischen Ordensgemeinschaft Diener Jesu und Mariens (Servi
Jesu et Mariae - SJM) gehört. Leiter des Hauses B1. ist Pater von D. . Ihn haben die
Kläger zu 2. und 3. unter dem 14. Juni 2004 bevollmächtigt, sie in allen den Kläger zu 1.
betreffenden schulischen Belangen zu vertreten.
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Am 9. Januar 2006 nahm der Fachlehrer Herr von X. in seinem Biologieunterricht in der
Klasse 6 a die schulische Sexualerziehung auf, indem er den Schülern als
Hausaufgabe den Entwurf zweier „Kloschilder" aufgab. Mit Schreiben an die Eltern
informierte der Fachlehrer am 12. Januar 2006 über die Aufnahme und wesentlichen
Inhalte der Sexualerziehung. Er führte aus, der in erster Linie biologisch ausgerichtete
Unterricht orientiere sich streng an den Richtlinien des Schulministeriums NRW. Es
werde im Wesentlichen mit dem Schulbuch, „Netzwerk Biologie 1", hrsg. v. Jaenicke/
Jungbauer, Schroedel-Verlag, gearbeitet. Es seien keine obligatorischen Lernziele der
Unterrichtsreihe, die verschiedenen Möglichkeiten der Empfängnisverhütung,
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unterschiedliche Sexualpraktiken oder Geschlechtskrankheiten kennen zu lernen. Diese
Themen würden im vertiefenden Sexualkundeunterricht in der 9. Klasse aufgegriffen. Er
sei aber grundsätzlich jederzeit bereit, Schülerfragen, die sich aus dem
Unterrichtsverlauf entwickelten, zu beantworten.
Mit Schreiben vom 9. Januar 2006 an den Biologielehrer meldete Pater von D. den
Kläger zu 1. vorläufig von der Sexualerziehung ab. An der bis zum 27. Januar 2006
abgehaltenen zehnstündigen Unterrichtsreihe nahm der Kläger zu 1. nicht teil. In
Telefonaten und Schriftwechseln zwischen dem Fachlehrer und dem Beklagten
einerseits sowie Pater von D. andererseits erklärte dieser, das benutzte Schulbuch
enthalte Kinderpornografie und verstoße klar gegen die Richtlinien des Heiligen Vaters
zur Geschlechtererziehung.
4
Mit Schreiben vom 13. Januar 2006 an den Beklagten beantragte Pater von D. die
sofortige Befreiung des Klägers zu 1. von der schulischen Sexualerziehung. Er wies
darauf hin, dass er nichts einzuwenden hätte, wenn sexualkundliche Themen im
Biologieunterricht behandelt würden, soweit die Lehrmittel, die Lernmittel und die
Unterrichtsmethode mit den Richtlinien der katholischen Kirche vereinbar seien.
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Mit Bescheid vom 16. Januar 2006 lehnte der Beklagte den Antrag auf Befreiung ab. Er
führte aus, der Unterricht werde entsprechend den Vorschriften des Landes,
insbesondere gemäß § 33 SchulG NRW erteilt.
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Mit dem hiergegen erhobenen Widerspruch machte Pater von D. geltend, die schulische
Sexualerziehung sei nicht mit den ganz klaren und eindeutigen Vorgaben der
katholischen Kirche vereinbar. Dies betreffe das kinderpornografische Bildmaterial,
ethische Wertungen sowie andere Inhalte des verwandten Biologiebuches.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 25. Januar 2006 wies die Bezirksregierung N1. den
Widerspruch zurück. Sie führte zur Begründung aus, eine Befreiung auf der Grundlage
von § 43 Abs. 3 SchulG NRW komme nicht in Betracht. Die Sexualerziehung gehöre
zum Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule. Die Durchführung der
Sexualerziehung sei nicht von der Zustimmung der Erzie-hungsberechtigten abhängig,
auch nicht im Hinblick auf die Religionsfreiheit nach Art. 4 GG.
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Die Kläger haben am 24. Februar 2006 Klage gegen den Beklagten und das Land NRW
(Beklagter zu 2. des erstinstanzlichen Verfahrens) erhoben und zu deren Begründung
im Wesentlichen vorgetragen: Für sie als gläubige Katholiken seien die Aussagen des
Päpstlichen Rates für Familie vom 8. Dezember 1995 in dem Dokument „Menschliche
Sexualität: Wahrheit und Bedeutung. Orientierungshilfe für die Erziehung in der Familie"
wegweisend. Es sei für sie unzumutbar, den Kläger zu 1. einer schulischen
Sexualerziehung auszusetzen, die die Begriffe von Triebbeherrschung und Keuschheit
nicht einmal thematisiere. Der Sexualkundeunterricht sei indoktrinär. In dem
verwendeten Lehrbuch werde den Kindern der Blick für die Sexualität aufgedrängt und
zugleich das Ausleben dieser Triebe als selbstverständlich dargestellt. Nach den für
den Unterricht maßgebenden „Richtlinien für die Sexualerziehung in Nordrhein-
Westfalen" werde in Kauf genommen, dass frühreife Kinder mit ihren Fragen das
Unterrichtsgeschehen bestimmen könnten. Der Fachlehrer habe zudem in seinem
Informationsschreiben mitgeteilt, dass er auf die Fragen der Schüler eingehen werde.
Überdies werde mit der in den Richtlinien enthaltenen Gleichwertigkeit von
Homosexualität und Bisexualität mit der natürlichen Heterosexualität eine unzulässige
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Wertung vorgenommen. Gleiches gelte für § 33 SchulG NRW, soweit darin das Lernziel
der Akzeptanz anderer sexueller Verhaltensweisen, das über das Lernziel der Toleranz
hinausgehe, festgelegt werde. Die vorliegende Indoktrination verletze die Rechte der
Kläger aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 6 Abs. 2 GG. Diese Grundrechtsverletzungen
stellten einen wichtigen Grund im Sinne von § 43 Abs. 3 SchulG NRW dar, weshalb
eine Befreiung hätte erteilt werden müssen. Dementsprechend sei es auch rechtswidrig,
in den Richtlinien einen solchen Befreiungsanspruch auszuschließen. Zumindest seien
die Richtlinien so zu ändern, dass Grundrechtsverletzungen ausgeschlossen würden.
Die Kläger haben beantragt,
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festzustellen, dass der Bescheid des Beklagten zu 1. vom 16. Januar 2006 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids der Bezirksregierung N1. vom 25. Januar 2006
rechtswidrig gewesen ist,
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festzustellen, dass aus den Richtlinien für die Sexualerziehung in Nordrhein Westfalen
im zweiten Kapitel zu streichen ist: "weil ein Anspruch auf Befreiung von diesem
Unterricht nicht besteht".
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hilfsweise zu den Klageanträgen zu 1. und 2. festzustellen, dass aus den "Richtlinien für
die Sexualerziehung in Nordrhein Westfalen" rechtswidrige Anweisungen zu streichen
sind :
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"ohne Unterschiede im Wert" aus "Demnach sind Hetero-, Bi-, Homo- und
Transsexualität Ausdrucksform von Sexualität, die, ohne Unterschiede im Wert, zur
Persönlichkeit des betreffenden Menschen gehören",
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"an deren Fragen anknüpft oder sich an konkreten Erlebnissen und aktuellen
Situationen orientiert. Die Wirksamkeit von Sexualerziehung ist auch davon abhängig,
dass aktuelle Ereignisse und Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler im Unterricht
behutsam aufgearbeitet werden".
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Die Beklagten haben beantragt,
16
die Klage abzuweisen.
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Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung im
Wesentlichen ausgeführt: Die Kläger hätten keinen Anspruch auf Freistellung des
Klägers zu 1. von der schulischen Sexualerziehung auf der Grundlage von § 43 Abs. 3
SchulG NRW in Verbindung mit dem Runderlass des Kultusministeriums NRW vom 26.
März 1980 gehabt, da dem Kläger zu 1. die Unterrichtseinheit nicht aus besonderen
persönlichen Gründen unzumutbar sei. Unter Berücksichtigung der vom
Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätze betreffend die schulische
Sexualerziehung sei der auf der Grundlage von § 33 SchulG NRW, der Richtlinien für
die Sexualerziehung und anhand des Schulbuches "Netzwerk Biologie 1" durchgeführte
Sexualkundeunterricht der Klasse 6 a nicht zu beanstanden. § 33 SchulG NRW
beinhalte zwar mit der Regelung, die schulische Sexualerziehung diene der Förderung
der Akzeptanz unter allen Menschen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung und
Identität, eine wertende Gleichstellung. Aber nur so könne das Ziel, im Rahmen der
schulischen Sexualerziehung keine bestimmte Form des Sexualverhaltens vorzugeben,
realisiert werden. Sie vollziehe im Übrigen die in Art. 3 Abs. 3 GG und im
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Lebenspartnerschaftsgesetz getroffenen Wertungen nach. In den Richtlinien für die
Sexualerziehung werde zwar sexuelle Enthaltsamkeit - entsprechend dem
Indoktrinationsverbot - nicht nahegelegt, aber durch die bloße Präsentation und
Akzeptanz anderer Verhaltensweisen auch nicht abgewertet. Die wertende
Gleichstellung von Hetero-, Bi-, Homo- und Transsexualität vollziehe lediglich die von
der Rechtsordnung getroffenen Bewertungen nach. Auch das im Unterricht verwandte
Schulbuch "Netzwerk Biologie 1" führe nicht zur Unzumutbarkeit einer Teilnahme am
Sexualkundeunterricht. In dem Buch würden im Wesentlichen in Text und Bild
biologische Fakten vermittelt. Die beanstandeten Fotografien seien an Darstellungen
anatomischer Lehrbücher orientierte Abbilder, fern jeder sexualisierenden oder gar
pornografischen Zurschaustellung. Das bloße Faktenwissen über Verhütungsmittel
beinhalte nicht etwa zugleich die Aufforderung, davon auch Gebrauch zu machen. Das
grundlegende Wissen über biologische Fakten aus dem sexuellen Bereich sei auch
schon vor Einsetzen der Pubertät für die Schüler wichtig, denn hierdurch könne
beispielsweise sexuellem Missbrauch begegnet werden. Soweit die Kläger zusätzlich
die Feststellung begehrten, dass bestimmte Passagen aus den Richtlinien zu streichen
seien, sei ihre Klage mangels Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO unzulässig.
Zur Begründung ihrer vom Senat hiergegen zugelassenen Berufung tragen die Kläger
im Wesentlichen vor: Der Kläger zu 1. hätte von der betreffenden Unterrichtsreihe befreit
werden müssen. Sie sei ihm aus besonderen persönlichen Gründen unzumutbar
gewesen. Er sei seelisch-körperlich noch ganz Kind in der Latenzphase, die Vorpubertät
und Pubertät würden bei ihm später einsetzen. Er sei erleichtert gewesen, nicht an der
schulischen Sexualerziehung, die er als „ekelhaft" bezeichnet habe, teilnehmen zu
müssen. Die schulische Sexualerziehung, so wie sie nach den für ihre Durchführung
geltenden Vorschriften sowie den einzusetzenden Medien erwartet werden müsse,
verletze seine Grundrechte aus Art. 2 Abs. , Art. 1 Abs. 1 GG. § 33 SchulG NRW fehle
die vom Bundesverfassungsgericht festgelegte Grenzziehung, insbesondere das Gebot
von Neutralität und Toleranz gegenüber erzieherischen Vorstellungen von Eltern. Er
widerspreche auch Art. 6 Abs. 1 GG, indem er mit dem Lernziel „auf eine
gleichberechtigte Rolle in Ehe, Familie und anderen Partnerschaften" vorzubereiten, die
Ehe mit anderen Partnerschaften gleichstelle. Auch sein Gebot, die „Akzeptanz aller
Menschen unabhängig von ihrer Orientierung und ...Lebensweisen" zu fördern, sei nicht
verfassungsgemäß. Akzeptanz bedeute Annahme im Sinne von Einverständnis und
verlange eine Wertung, die den Intimbereich der Persönlichkeit betreffe. Es werde
zudem jegliches Sexualverhalten, also beispielsweise auch Sodomie und Pädophilie,
gleichgestellt. Dies greife in die Persönlichkeitsrechte von jungen Menschen ein und sei
indoktrinär. Die Richtlinien für die Sexualerziehung böten ebenfalls keine Gewähr für
die Einhaltung der gebotenen Grenzen. Sie seien widersprüchlich hinsichtlich der
Rücksicht auf Alter und Entwicklungsstand; sie würden einheitlich für alle Schulstufen
und -formen gelten. Die Richtlinien zielten darauf ab, Schambarrieren bei den Kindern
zu überwinden, so bei der Behandlung der Empfängnisverhütung und dem Lernziel,
kommunikative Kompetenz in Fragen der Sexualität auszuprägen. Sie leisteten damit
einem Abbau von Schamhaftigkeit und einer Frühsexualisierung Vorschub oder
nähmen dies zumindest billigend in Kauf. Die Richtlinien beschäftigten sich
überwiegend mit Hinweisen zum möglichst problemlosen Ausleben der Sexualität
bereits im Kindes- und Jugendalter. Durch ihre Gewichtung befürworteten sie sexuelles
Tun und werteten Enthaltsamkeit ab. Dies sei indoktrinär. Ebenfalls nicht
verfassungskonform sei die Aussage in den Richtlinien einer Gleichwertigkeit von
Hetero- und Homosexualtiät. Denn Art. 6 GG gebiete den besonderen Schutz von Ehe
und Familie, die fraglos auf heterosexuelles Verhalten mit Weitergabe des Lebens und
19
den Fortbestand der Gesellschaft zielten. Das Gebot, Diskriminierungen zu vermeiden,
bedeute nicht, dass allen Gegebenheiten gleicher Wert zugesprochen werden müsse.
Auch sei eine Gleichwertung von Homo- und Heterosexualität wissenschaftlich nicht
haltbar, da bei der Homosexualität die wichtigste Funktion der Sexualität, nämlich die
Fortpflanzung fehle. In dem Lehrbuch „Netzwerk Biologie 1" werde der Blick für die
Sexualität aufgedrängt und das Ausleben von Trieben als selbstverständlich dargestellt.
Begriffe von Triebbeherrschung und Keuschheit sowie die Ehe als Schonraum für die
Entwicklung von Kindern würden nicht behandelt. In der Information des Fachlehrers
über die Unterrichtsreihe sei nichts mitgeteilt worden über eine Rücksichtnahme auf den
unterschiedlichen Entwicklungsstand und verschiedene Einstellungen der Schüler zur
Sexualität. Die Kläger zu 2. und 3. wären ebenfalls durch die schulische
Sexualerziehung in ihren Rechten verletzt worden. Auch eine rechtzeitige Information
über die bevorstehende Sexualerziehung hätte nicht zu einer Lösung des Konflikts
geführt. Mit Rücksicht auf die noch kindliche Ferne des Klägers zu 1. gegenüber dem
Sexuellen wäre durch eine „elterliche Vorinformation" wie auch durch den geplanten
Unterricht „in seine Entwicklung schädigend eingegriffen worden". Sie hätten zugleich
gegen die Erziehungsziele des Kollegs verstoßen müssen. Zudem wären sie alle drei
bei der Beschäftigung mit Sexualität über die biologischen Fakten hinaus in
Gewissensnöte gekommen. Bei ihnen bestehe eine besondere Gewissensbindung, weil
sie sich auf der Grundlage des päpstlichen Dokumentes zur menschlichen Sexualität
von 1995 um Reinheit, Selbstbeherrschung und Keuschheit in Gedanken, Worten und
Werken zu bemühen verpflichtet hätten. Auch wegen ihres Grundrechts auf
Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG habe der Kläger zu 1. der Unterrichtseinheit
fernbleiben dürfen.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat haben die Kläger klargestellt, dass sie
mit ihrem Berufungszulassungsantrag nur noch den Befreiungsanspruch gegen den
Beklagten weiterverfolgt haben; das Änderungsbegehren gegen das Land NRW hätten
sie zweitinstanzlich nicht mehr zusätzlich anhängig machen wollen.
20
Die Kläger beantragen,
21
das angefochtene Urteil teilweise zu ändern und festzustellen, dass der
Ablehnungsbescheid des Beklagten vom 16. Januar 2006 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung N1. vom 25. Januar 2006 rechtswidrig
gewesen ist.
22
Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er trägt im Wesentlichen vor: Die Schule bringe die Kinder nicht verfrüht in Kontakt mit
der Thematik der Sexualität. Vielmehr würden die Kinder in der Öffentlichkeit durch
Werbeplakate u. ä. mit sexuellen Themen konfrontiert. Damit die Kinder die
Darstellungen einordnen könnten, sehe es die Schule als ihre Aufgabe an, den Kindern
im späten Kindesalter ein Basiswissen über menschliche Sexualität zu vermitteln. Die
Unterrichtsinhalte würden von den Kindern nicht als Gebrauchsanleitung zu einem
vermeintlich von ihnen erwarteten Sexualverhalten aufgefasst. § 33 SchulG NRW
beachte die vom Bundesverfassungsgericht beschriebenen Grenzen. Er sei im Kontext
von § 2 SchulG NRW zu sehen und im Übrigen bei Zweifeln an seiner
Verfassungsmäßigkeit verfassungskonform auszulegen. Er verstoße nicht gegen Art. 6
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Abs. 1 GG, er nenne Ehe und Familie an erster Stelle und stelle nur auf eine
Gleichberechtigung der Partner innerhalb der jeweiligen Partnerschaft ab, nicht aber auf
eine Gleichberechtigung verschiedener Partnerschaftsformen. § 33 SchulG NRW
spreche zudem von der Akzeptanz von Menschen gerade unabhängig von sexuellen
Merkmalen, womit die Berücksichtigung der Prinzipien des Art. 3 Abs. 3 GG, nicht aber
die Gleichstellung sexueller Verhaltensweisen bezweckt sei. In den Richtlinien für die
Sexualerziehung werde mehrfach die alters- und entwicklungsgemäße Differenzierung
bei der Sexualerziehung betont. Es helfe, extremen und problematischen Vorstellungen
über Sexualität entgegenzuwirken, dass bei der Unterrichtsgestaltung von den
Erfahrungen der Kinder ausgegangen werde. Ziel der Sexualerziehung sei es auch, die
Sprache über sexuelle Zusammenhänge zu versachlichen und eine Ernsthaftigkeit im
Umgang mit Äußerungen über die Sexualität zu entwickeln. Daher werde die
Ausprägung der kommunikativen Kompetenz in Fragen der Sexualität in den Richtlinien
gefordert. Die dort vorgesehene Behandlung der Empfängnisverhütung trage dem
Umstand Rechnung, dass Unwissen Ursache für unterlassene Verhütung sei. Das als
Lernmittel zugelassene Lehrbuch „Netzwerk Biologie" richte sich an Zehn- bis
Zwölfjährige und könne dazu beitragen, sie, auch wenn sie noch keine Veränderungen
an sich wahrnähmen, auf die vor ihnen stehende Entwicklung vorzubereiten. Durch die
sachliche Darstellung von Verhütungsmethoden im Buch werde nicht das Ausleben der
Triebe als selbstverständlich dargestellt. Eine selbstbestimmte Triebbeherrschung
könne Heranwachsenden vielmehr nur gelingen, wenn sie über die bevorstehenden
Veränderungen ihres Körpers und ihrer Gefühle wüssten.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des Vorbringens der
Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, des vom Beklagten zur
Verfügung gestellten Biologiebuchs und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge
Bezug genommen.
26
Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Berufung der Kläger ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die
Klage gegen den Beklagten (Beklagter zu 1. des erstinstanzlichen Verfahrens) zu Recht
abgewiesen.
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Der Senat lässt offen, ob die Klage zulässig ist. Sie ist jedenfalls unbegründet. Der
Bescheid des Beklagten vom 16. Januar 2006 und der Widerspruchsbescheid der
Bezirksregierung N1. vom 25. Januar 2006 sind rechtmäßig gewesen und verletzten die
Kläger nicht in ihren Rechten. Die Kläger konnten nicht die Befreiung des Klägers zu 1.
von der Teilnahme an der schulischen Sexualerziehung in der Klasse 6 a
beanspruchen.
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Als Grundlage eines solchen Anspruchs auf Befreiung ist § 43 Abs. 3 Satz 1 SchulG
NRW heranzuziehen. Dem stehen weder § 33 SchulG NRW noch die „Richtlinien für die
Sexualerziehung in Nordrhein-Westfalen" (Heft 5001 in der Schriftenreihe „Schule in
NRW" gemäß dem Runderlass des Ministeriums für Schule und Weiterbildung,
Wissenschaft und Forschung vom 30. September 1999, ABl Teil 1 Nr. 11/99 - im
Folgenden: Richtlinien für die Sexualerziehung) entgegen, auch wenn dort in Kapitel 2,
S. 8, ausgeführt wird, dass „... ein Anspruch auf Befreiung von diesem Unterricht nicht
besteht". Die Richtlinien für die Sexualerziehung können einen gesetzlichen
Befreiungsanspruch nicht ausschließen. Sie sind lediglich verwaltungsinterne
Anweisungen und haben aus sich heraus keine unmittelbare Außenwirkung.
30
Der nordrhein-westfälische Landesgesetzgeber hat in § 33 SchulG NRW die schulische
Sexualerziehung geregelt. Sie erfolgt danach fächerübergreifend. Eine
Befreiungsmöglichkeit ist weder ausdrücklich geregelt noch ausdrücklich
ausgeschlossen. Zwar kann eine Zustimmung der Eltern oder älterer Schüler zu der
schulischen Sexualerziehung mit der Möglichkeit einer Befreiung von ihr jedenfalls
dann verfassungsrechtlich nicht verlangt werden, wenn sie fächerübergreifend erfolgt,
zumal die Befreiungsmöglichkeit diese Unterrichtsform erheblich erschweren würde.
31
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. Dezember 1977 - 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75 -, BVerfGE
47, 46 (83), juris Rn 88.
32
Hiermit im Einklang steht, dass § 33 SchulG NRW keine spezielle
Befreiungsmöglichkeit vorsieht. Dies schließt es aber nicht aus, auf die allgemeine
Regelung einer Befreiung in § 43 Abs. 3 SchulG NRW zurückzugreifen. Denn § 33
SchulG NRW hat für seinen Anwendungsbereich keinen Ausschließlichkeitscharakter.
Vielmehr gelten auch hier die übrigen Bestimmungen des Schulgesetzes, insbesondere
die Regelungen im 5. Teil zum Schulverhältnis, zu denen § 43 SchulG NRW gehört.
33
Nach § 43 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW kann die Schulleiterin oder der Schulleiter
Schülerinnen und Schüler auf Antrag der Eltern aus wichtigem Grund u. a. von der
Teilnahme an einzelnen Unterrichts- oder Schulveranstaltungen befreien. Ob die
schulische Sexualerziehung, wenn sie fächerübergreifend erfolgt, immer eine einzelne
Unterrichtsveranstaltung im Sinne der Vorschrift, also eine abgrenzbare
Unterrichtseinheit darstellt, kann hier offen bleiben. Dafür kann § 33 Abs. 2 SchulG
NRW sprechen, wonach die Eltern über Ziel, Inhalt, Methoden und Medien der
Sexualerziehung rechtzeitig zu informieren sind; eine solche Information ist
grundsätzlich leichter möglich, wenn die Sexualerziehung einen bestimmten Anfang hat
und von dem Unterricht in den zugrunde liegenden Fächern abgrenzbar ist. Bei der hier
streitgegenständlichen Sexualerziehung handelte es sich jedenfalls um eine einzelne
Unterrichtsveranstaltung im Sinne von § 43 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW. Nach dem
Informationsschreiben des Biologiefachlehrers war die Sexualerziehung inhaltlich und
auch mit 10 Unterrichtsstunden in einem festgelegtem Zeitraum zeitlich begrenzt und
damit eine einzelne Unterrichtsveranstaltung im laufenden Fachunterricht. Aus dem
Schreiben geht nicht hervor, dass darüber hinaus gleichzeitig oder später noch in
anderen Fächern Sexualerziehung erfolgen sollte.
34
Ein wichtiger Grund im Sinne von § 43 Abs. 3 Satz 1 SchulG NRW für die Befreiung des
Klägers zu 1. liegt jedoch nicht vor. Der unbestimmte Rechtsbegriff des wichtigen
Grundes, mit dem eine Ausnahme von der allgemeinen Schulpflicht gerechtfertigt
werden soll, ist im Lichte der Grundrechte dahin auszulegen, dass jedenfalls dann ein
wichtiger Grund anzunehmen ist, wenn die Durchsetzung der Pflicht zur Teilnahme an
einem bestimmten Schulfach oder einer bestimmten schulischen Veranstaltung eine
grundrechtlich geschützte Position des Kindes und/oder seiner Eltern unzumutbar
verletzen würde.
35
Vgl. OVG NRW, Urteile vom 15. November 1991 - 19 A 2198/91 - juris, Rn 27, und vom
12. Juli 1991 - 19 A 1706/90 -, NVwZ 1992, 77, juris Rn 5, zu § 11 Abs. 1 Satz 1 ASchO.
36
Einen die beantragte Befreiung rechtfertigenden wichtigen Grund in diesem Sinne
konnten die Kläger weder unter Berufung auf die bezüglich des Entwicklungsstandes
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vorgetragenen besonderen persönlichen Gründe in der Person des Klägers zu 1. noch
auf ihre Grundrechte geltend machen.
Die Kläger berufen sich ohne Erfolg auf den Entwicklungsstand des Klägers zu 1. zu
Beginn der Unterrichtsveranstaltung. Es ist nicht erkennbar, dass auf den persönlichen
Umstand, dass der Kläger zu 1. seelisch-körperlich noch ganz Kind in der Latenzphase
und dem Sexuellen gegenüber fern gewesen sei, in der Sexualerziehung der Klasse 6 a
nach Maßgabe der rechtlichen Vorgaben nicht hinreichend Rücksicht genommen
worden wäre. Dem steht nicht entgegen, dass der Fachlehrer in seinem
Informationsschreiben nicht ausdrücklich, wie von den Klägern gefordert, zusätzlich
mitgeteilt hat, dass Rücksicht auf den unterschiedlichen Entwicklungsstand und
verschiedene Einstellungen der Schüler zur Sexualität genommen werde. Tatsächlich
hat der Fachlehrer auf den damaligen Entwicklungsstand des Klägers zu 1. Rücksicht
genommen. Nach den überzeugenden Darlegungen des Beklagten in der mündlichen
Verhandlung vor dem Senat erfolgt am B. -N. -Gymnasium die Sexualerziehung generell
(frühestens) am Ende des 1. Halbjahres eines Schuljahres. Hintergrund hierfür ist, dass
der jeweilige Fachlehrer oder die jeweilige Fachlehrerin die Schülerinnen und Schüler
zunächst näher kennen lernen und sich ein Bild von ihrem Entwicklungsstand machen
soll. Ist der Fachlehrer oder die Fachlehrerin der Überzeugung, dass ein oder mehrere
Schüler oder Schülerinnen einer weitergehenden (individuellen) Förderung zur
Vorbereitung auf die Teilnahme an der schulischen Sexualerziehung bedürfen, ziehen
die jeweiligen Fachlehrer an der vom Beklagten geleiteten Schule auch eine zeitliche
Verschiebung der schulischen Sexualerziehung in Betracht. Diesen Grundsätzen ist
auch der den Kläger zu 1. in der Klasse 6 a seinerzeit unterrichtende Biologielehrer
gefolgt. Er war nach dem Vortrag des Beklagten der Überzeugung, dass der
Entwicklungsstand des Klägers zu 1. einer Teilnahme an der schulischen
Sexualerziehung nicht entgegenstand. Konkrete gegenteilige Anhaltspunkte sind nicht
ersichtlich und auch nicht vorgetragen. Allein der pauschale Vortrag, der Kläger zu 1.
habe seinerzeit die schulische Sexualerziehung und die gelegentlichen
„Liebesspielchen" in seiner Klasse als „blöd" und „ekelhaft" empfunden, lässt keinen
Entwicklungsstand erkennen, der einer zumutbaren Teilnahme an der schulischen
Sexualerziehung entgegengestanden hätte. Auch der Umstand, dass der Kläger zu 1.,
was in der Jahrgangsstufe 6 nicht außergewöhnlich ist, sich noch in der Latenzphase
befand, gibt für sich gesehen keinen Anspruch auf Befreiung von der Sexualerziehung.
Wie das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt hat, ist die Information über
biologische Fakten aus dem sexuellen Bereich auch schon zu einem frühen Zeitpunkt
wichtig, um beispielsweise sexuellem Missbrauch begegnen zu können.
38
Auch die von den Klägern angeführten Grundrechte begründen keinen
Befreiungsanspruch. Die schulische Sexualerziehung in der Klasse 6 a im Januar 2006,
die auf der Grundlage von § 33 SchulG NRW und den Richtlinien für die
Sexualerziehung erfolgte, hätte die Grundrechte der Kläger aus Art. 2 Abs. 1, Art. 4 Abs.
1, Art. 6 Abs. 2 GG zwar berührt, aber nicht verletzt.
39
Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG schützt den Intim- und Sexualbereich des
Menschen als Teil seiner Privatsphäre. Sie sichern dem Menschen das Recht zu, seine
Einstellung zum Geschlechtlichen selbst zu bestimmen.
40
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. Dezember 1977 - 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75 -, BVerfGE
47, 46, juris Rn 77f.
41
Diese Rechte kommen auch dem (seinerzeit) elfjährigen Kläger zu. Gerade seine
Intimsphäre wird durch die streitgegenständliche schulische Sexualerziehung berührt.
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Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Eltern die Pflege und Erziehung ihrer Kinder als
natürliches Recht. Die in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verbürgte Glaubensfreiheit umfasst den
Anspruch nach eigenen Glaubensüberzeugungen leben und handeln zu dürfen. In
Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gewährt Art. 4 Abs. 1 und 2 GG das Recht zur
Kindererziehung in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht. Danach ist es Sache der
Eltern, ihren Kindern Überzeugungen in Glaubens- und Weltanschauungsfragen zu
vermitteln und nicht geteilte Ansichten von ihnen fernzuhalten.
43
Vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 15. März 2007 - 1 BvR 2780/06 -, DÖV 2007, 653.
44
Auch diese Grundrechte der Kläger werden durch die streitgegenständliche schulische
Sexualerziehung berührt, weil sie aus Sicht der Kläger nicht auf der Grundlage der - von
ihnen als für sie bindend erachteten - Aussagen des Dokumentes des Päpstlichen
Rates zur menschlichen Sexualität von 1995 erfolgte und ihnen, wie sie glaubhaft
geltend machen, Gewissensnöte bereitet hätte.
45
Die durch die schulische Sexualerziehung in der Klasse 6 a im Januar 2006 berührten
Grundrechte wären entgegen der Auffassung der Kläger nicht verletzt worden. Die mit
dieser schulischen Sexualerziehung für die Kläger verbundenen Gewissensnöte wären
ihnen verfassungsrechtlich zumutbar gewesen, die verfassungsrechtlich gebotenen
Grenzen sind eingehalten worden.
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Glaubensfreiheit und Erziehungsrecht sind zwar nach der Verfassung vorbehaltlos
gewährleistet, doch erfahren sie Einschränkungen, die sich aus der Verfassung selbst
ergeben. Hierzu zählen die Grundrechte Dritter sowie Gemein-schaftswerte von
Verfassungsrang. Dazu gehört der dem Staat in Art. 7 Abs. 1 GG erteilte Bildungs- und
Erziehungsauftrag in der Schule, welcher in seinem Bereich dem Erziehungsrecht der
Eltern gleichgeordnet ist.
47
BVerfG, Urteil vom 6. Dezember 1972 - 1 BvR 230/70, 1 BvR 95/71 -, BVerfGE 34, 165,
juris, Rn 81, Beschluss vom 15. März 2007 - 1 BvR 2780/06 -, DÖV 2007, 653.
48
Der Staat darf unabhängig von den Eltern eigene Erziehungsziele verfolgen. Dies gilt
ebenfalls für die Erziehung in Fragen der Sexualität. Auch in diesem Bereich ist nicht
ein gleichsam natürliches ausschließliches Erziehungsrecht der Eltern anzuerkennen,
wenn auch der Bereich der Sexualität eine größere Nähe zum elterlichen Bereich als
zum schulischen Bereich besitzt. Die Relevanz der Sexualität und der sexuellen
Aufklärung sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft begründen ein
berechtigtes Interesse an einer die elterliche Erziehung (lediglich) ergänzenden
Behandlung des Themas im schulischen Unterricht. Kenntnis und Verständnis der
menschlichen Sexualität können als Voraussetzung für ein verantwortungsbewusstes
Verhalten sich selbst, dem Partner, der Familie und der Gesellschaft gegenüber
angesehen werden.
49
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. Dezember 1977 - 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75 -, BVerfGE
47, 46, juris Rn 64, 74f.
50
Dabei muss der Staat aber Neutralität und Toleranz gegenüber den erzieherischen
51
Vorstellungen der Eltern aufbringen und in der Schule die Verantwortung der Eltern für
den Gesamtplan der Erziehung achten. Der Staat darf keine gezielte Beeinflussung im
Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung
betreiben. Die Eltern können die gebotene Zurückhaltung und Toleranz bei der
Durchführung der schulischen Sexualerziehung verlangen. Die Schule muss den
Versuch einer Indoktrinierung der Schüler mit dem Ziel unterlassen, ein bestimmtes
Sexualverhalten zu befürworten oder abzulehnen. Sie hat das natürliche Schamgefühl
der Kinder zu achten und muss allgemein Rücksicht nehmen auf die religiösen oder
weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern, soweit sie sich auf dem Gebiet der
Sexualität auswirken.
Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 21. Dezember 1977 - 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75 -, juris Rn
81, 87, vom 31. Mai 2006 - 2 BvR 1693/04 -, juris Rn 10, und vom 15. März 2007 - 1 BvR
2780/06 -, DÖV 2007, 653 (654).
52
Diese verfassungsrechtlich gebotenen Schranken und Grundsätze sind in den für die
schulische Sexualerziehung in Nordrhein-Westfalen maßgeblichen Vorschriften,
insbesondere § 33 SchulG NRW und den Richtlinien für die Sexualerziehung,
umgesetzt worden. Dies rechtlichen Vorgaben boten entgegen der Auffassung der
Kläger eine verfassungsmäßige Grundlage für im Streit stehende schulischen
Sexualerziehung in der Klasse 6 a im Januar 2006.
53
Zunächst entspricht § 33 SchulG NRW den Anforderungen an den Gesetzesvorbehalt,
wonach der Gesetzgeber verpflichtet ist, die wesentlichen Entscheidungen im
Schulwesen selbst zu treffen und nicht der Schulverwaltung zu überlassen. Dazu
gehören jedenfalls die Festlegung der Erziehungsziele in den Grundzügen
("Groblernziele"), die Frage, ob Sexualerziehung als fächerübergreifendes
Unterrichtsprinzip oder als besonderes Unterrichtsfach mit etwaigen Wahl- oder
Befreiungsmöglichkeiten durchgeführt werden soll, das Gebot der Zurückhaltung und
Toleranz sowie der Offenheit für die vielfachen im sexuellen Bereich möglichen
Wertungen und das Verbot der Indoktrinierung der Schüler, ferner die Pflicht, die Eltern
zu informieren. Festlegungen müssen der pädagogischen Freiheit genügend Raum und
dem Lehrer im Unterricht noch den Spielraum lassen, den er braucht, um seiner
pädagogischen Verantwortung gerecht werden zu können. „Feinlernziele" sowie
Einzelheiten der Lehr- und Lernmethoden können dementsprechend grundsätzlich nicht
der gesetzlichen Regelung vorbehalten sein, zumal solche Einzelheiten kaum
normierbar sein werden und die Unterrichtsgestaltung für situationsbedingte
Anpassungen offen bleiben muss. Die nähere Festlegung der "Feinlernziele", die
Bestimmung der Lehrpläne und Stoffpläne zur Konkretisierung der in den Grundzügen
durch Gesetz und ergänzend gegebenenfalls durch Rechtsverordnung festgelegten
Erziehungsziele und die Einzelheiten der Unterrichtsmethoden können vielmehr bei
entsprechender gesetzlicher Ermächtigung durch Verwaltungsvorschriften (Richtlinien)
der Schulbehörde geregelt werden.
54
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. Dezember 1977 - 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75 -, juris Rn
90, 99; BVerwG, Urteil vom 22. März 1979 - VII C 8.73 -, BVerwGE 57, 360, juris, Rn 28.
55
Der Landesgesetzgeber hat im Einklang mit diesen Grundsätzen die notwendige und
hinreichende parlamentarische Leitentscheidung für die schulische Sexualerziehung
getroffen, wobei die diesbezüglich von den Klägern aufgeworfenen Fragen nach der
Einhaltung der verfassungsrechtlichen Anforderungen im Einzelnen nicht den
56
Gesetzesvorbehalt, sondern die materiellrechtliche Verfassungsmäßigkeit betrifft. In §
33 SchulG NRW hat der Landesgesetzgeber geregelt, dass die Sexualerziehung
fächerübergreifend erfolgt (Abs. 1 Satz 1), und die Groblernziele (Abs. 1 Sätze 2 bis 5)
festgelegt. Die Pflicht zur Information der Eltern ist in § 33 Abs. 2 SchulG NRW geregelt.
Das Gebot der Zurückhaltung und Toleranz sowie der Offenheit für Wertungen sowie
das Verbot der Indoktrinierung finden sich zwar nicht ausdrücklich im Wortlaut des § 33
SchulG NRW wieder. Sie lassen sich aber in einer dem Gesetzesvorbehalt genügenden
Weise bereits dieser Vorschrift entnehmen. Nach § 33 Abs. 1 Satz 2 sollen die Schüler
„alters- und entwicklungsgemäß" mit Fragen der Sexualität vertraut gemacht werden, in
denen sie nach Satz 3 „eigene Wertvorstellungen" entwickeln sollen; sie sollen zu
einem „selbstbestimmten" Umgang mit der eigenen Sexualität befähigt werden. Zudem
bestimmt § 2 Abs. 6 Satz 1 SchulG NRW ausdrücklich, dass die Schule Offenheit und
Toleranz gegenüber den unterschiedlichen religiösen, weltanschaulichen und
politischen Überzeugungen und Wertvorstellungen wahrt. Die in § 33 Abs. 1 SchulG
NRW erfolgten Festlegungen lassen genügend Raum für die pädagogische Umsetzung
im Unterricht. Die Feinlernziele und Einzelheiten der Inhalte der Sexualerziehung und
die Gestaltung der Lernprozesse sind in den Richtlinien für die Sexualerziehung vom
30. September 1999 geregelt, die gemäß § 1 Schulverwaltungsgesetz (SchVG)
festgesetzt wurden und gemäß § 131 Abs. 2 SchulG NRW weiter Anwendung finden.
§ 33 SchulG NRW ist auch materiell verfassungsmäßig.
57
Die Vorschrift des § 33 SchulG NRW achtet und enthält die vom
Bundesverfassungsgericht aufgezeigten verfassungsrechtlichen Grenzen. Zwar sind
diese Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht sämtlich wortwörtlich in § 33
SchulG NRW aufgenommen worden. Jedoch lassen sie sich dem Wortlaut der Vorschrift
und auch der Systematik des Gesetzes entnehmen.
58
Nach § 33 Abs. 1 Satz 2 SchulG NRW sollen die Schülerinnen und Schüler „alters- und
entwicklungsgemäß" mit Fragen der Sexualität vertraut gemacht werden. Eine solche
„alters- und entwicklungsgemäße" schulische Sexualerziehung beinhaltet, dass das
natürliche Schamgefühl der Kinder geachtet wird. Das Verbot der Indoktrination wie das
Gebot der Zurückhaltung und Toleranz gegenüber den elterlichen Wertvorstellungen
findet sich mehrfach in § 33 Abs. 1 SchulG NRW wieder: Nach Satz 2 sollen die
Schülerinnen und Schüler mit verschiedenen, nämlich biologischen und
soziokulturellen, Fragen von Sexualität vertraut gemacht werden. Dabei wird kein
Aspekt vorrangig oder nach einer bestimmten Ausrichtung behandelt. Vielmehr soll die
schulische Sexualerziehung ihnen helfen, ihr Leben „in freier Entscheidung" zu
gestalten (Satz 2) und sie unterstützen, in Fragen der Sexualität „eigene
Wertvorstellungen" zu entwickeln und sie zu einem „selbstbestimmten" Umgang mit der
eigenen Sexualität zu befähigen (Satz 3). Hier wird deutlich, dass im Sinne des Gebotes
der Toleranz und Neutralität der Landesgesetzgeber gerade keine bestimmte politische,
ideologische oder weltanschauliche Richtung für den Unterricht vorgibt. Andernfalls
ließen sich diese genannten Ziele wie auch die in § 2 Abs. 5 SchulG NRW normierten
Lernziele, selbstständig und eigenverantwortlich zu handeln (Nr. 1) und die eigene
Meinung zu vertreten (Nr. 3), nicht verwirklichen.
59
Dies gilt, entgegen der Auffassung der Kläger, auch für die Bestimmung in § 33 Abs. 1
Satz 5 SchulG NRW: „Die Sexualerziehung dient der Förderung der Akzeptanz unter
allen Menschen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung und Identität und den
damit verbundenen Beziehungen und Lebensweisen". Zwar mögen die Begriffe
60
„Akzeptanz" und „Toleranz" nach ihrer Wortbedeutung auf der Grundlage ihres
lateinischen Ursprungs nicht deckungsgleich sein und unter Akzeptanz eine Annahme
zumindest im Sinne einer Billigung, hingegen Toleranz als Duldung oder Hinnahme zu
verstehen sein. Daraus folgt aber nicht, dass mit dem genannten Ziel der Förderung der
Akzeptanz anstelle von Toleranz das verfassungsrechtliche Gebot der Toleranz
gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt wäre. Auch kann aus Satz 5 entgegen der Annahme
der Kläger nicht gefolgert werden, der Gesetzgeber wolle in § 33 SchulG NRW als
Lernziel vorgeben, es sei jegliches Sexualverhalten, insbesondere auch
Sadomasochismus, Sodomie, Fetischismus, Pädophilie von den Schülern bejahend
anzunehmen. Diesen Schlussfolgerungen steht bereits der Wortlaut des § 33 Abs. 1
Satz 5 SchulG NRW entgegen. Danach sollen die Menschen einander akzeptieren
unabhängig von der jeweiligen sexuellen Orientierung und Lebensweise, die sie bei
ihrem Gegenüber ggf. gerade nicht billigen. Akzeptanz unter Menschen impliziert aus
sich keine Bewertung unterschiedlicher sexueller Ausrichtungen als grundsätzlich
gleichwertig. Eine Bewertung als gleichermaßen wertvoll gibt die Vorschrift nicht her.
Zudem folgt aus dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung, dass hier auch kein
rechtswidriges oder strafrechtlich relevantes Sexualverhalten als von den Schülern zu
bejahendes Sexualverhalten als Lernziel vorgegeben wird. Auch mit Blick auf Art. 3
Abs. 3 GG ist es nicht zu beanstanden, wenn hier von Akzeptanz und nicht (allein) von
Toleranz unter den Menschen gesprochen wird. Wie das Verwaltungsgericht zu Recht
angenommen hat, darf und muss die Schule sich in Ausübung des staatlichen Bildungs-
und Erziehungsauftrages im Rahmen der geltenden Rechtsordnung halten und auch
deren Wertung unter Beachtung der aufgezeigten Grenzen vermitteln. Dies geht auch
aus § 2 Abs. 1 Satz 1 SchulG NRW hervor, wonach die Schule junge Menschen auf der
Grundlage des Grundgesetzes und der Landesverfassung unterrichtet und erzieht.
Des Weiteren ergibt sich auch aus der Systematik und dem Kontext des Schulgesetzes,
in den § 33 SchulG NRW eingebettet ist, dass die vom Bundesverfassungsgericht
vorgegebenen Grenzen bei der schulischen Sexualerziehung beachtet werden. § 2
SchulG NRW („Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule"): enthält nämlich
entsprechende ausdrückliche Regelungen: in Abs. 3 Satz 1 „Die Schule achtet das
Erziehungsrecht der Eltern.", Abs. 5 Nr. 4: „ Die Schülerinnen und Schüler sollen
insbesondere lernen, in religiösen und weltanschaulichen Fragen persönliche
Entscheidungen zu treffen und Verständnis und Toleranz gegenüber den
Entscheidungen anderer zu entwickeln.", Abs. 6 Satz 1: „Die Schule wahrt Offenheit und
Toleranz gegenüber den unterschiedlichen religiösen, weltanschaulichen und
politischen Überzeugungen und Wertvorstellungen." Diese Regelungen sind als
vorangestellte allgemeine Vorschriften bei den nachfolgenden Vorschriften des
Schulgesetzes und damit auch bei den Vorschriften über Unterrichtsinhalte wie der
schulischen Sexualerziehung von der Schule zu beachten.
61
§ 33 SchulG NRW verstößt auch nicht gegen den besonderen Schutz von Ehe und
Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG, indem er in Abs. 1 Satz 4 bestimmt: „Darüber hinaus sollen
Schülerinnen und Schüler ... auf ihre gleichberechtigte Rolle in Ehe, Familie und
anderen Partnerschaften vorbereitet werden." Hiernach wird auf eine
Gleichberechtigung der Partner innerhalb der jeweiligen Partnerschaft abgestellt. Dies
steht, soweit es die Partnerschaft zwischen Mann und Frau betrifft, im Einklang mit dem
dem Staat aus Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG gestellten Auftrag, die tatsächliche Durchsetzung
der Gleichberechtigung von Frau und Mann zu fördern und auf die Beseitigung
bestehender Nachteile hinzuwirken. Soweit es um die Erstreckung auf andere
Partnerschaften geht, verstößt dies entgegen der Auffassung der Kläger nicht gegen Art.
62
6 Abs. 1 GG. Diese Norm gebietet als verbindliche Wertentscheidung für den gesamten
Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts einen
besonderen Schutz durch die staatliche Ordnung. Um dem Schutzauftrag Genüge zu
tun, ist es insbesondere Aufgabe des Staates, einerseits alles zu unterlassen, was die
Ehe schädigt oder sonst beeinträchtigt, und sie andererseits durch geeignete
Maßnahmen zu fördern. Art. 6 Abs. 1 GG verbietet es, die Ehe insgesamt gegenüber
anderen Lebensformen schlechter zu stellen. Er verwehrt dem Gesetzgeber aber nicht,
die Ehe gegenüber anderen Lebensformen zu begünstigen. Aus der Zulässigkeit, in
Erfüllung und Ausgestaltung des Förderauftrags die Ehe gegenüber anderen
Lebensformen zu privilegieren, lässt sich jedoch kein in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltenes
Gebot herleiten, andere Lebensformen gegenüber der Ehe zu benachteiligen.
BVerfG, Urteil vom 17. Februar 2002 - 1 BvF 1/01, 1 BvF 2/01 -, NJW 2002, 2543,
(2548), juris, Rn 90, 92, 98, m. w. N.
63
Indem nach § 33 Abs. 1 Satz 4 SchulG NRW die Schülerinnen und Schüler auf ihre
Rolle in Ehe, Familie und anderen Partnerschaften vorbereitet werden sollen, wird durch
die Gleichstellung anderer Partnerschaften mit der Ehe der rechtliche Schutz und die
Förderung der Ehe und Familie in keiner Weise verringert oder verkürzt. Der der Ehe
zukommende Wert wie auch ihre Förderung werden nicht dadurch geschmälert, dass
auch andere Partnerschaften als mögliche und der Ehe nicht nachstehende
Lebensformen im Rahmen der schulischen Sexualerziehung behandelt werden.
Vielmehr wird damit den tatsächlichen Gegebenheiten in der Gesellschaft, in der
zunehmend Partnerschaften nicht allein in Form der Ehe gelebt werden und Kinder in
unterschiedlichen, nicht allein durch die Ehe geprägten Familienkonstellationen
aufwachsen, Rechnung getragen. Dies ist nach Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu beanstanden.
Dessen besonderer Schutz der Ehe gebietet es auch im Rahmen der schulischen
Sexualerziehung nicht, die Ehe als alleinige oder als gegenüber anderen Lebensformen
zu bevorzugende Lebensform darzustellen, was zudem im Hinblick auf das Gebot zur
Toleranz gegenüber anderen Wertvorstellungen problematisch wäre.
64
Die Richtlinien für die Sexualerziehung und die darauf beruhende konkrete
Unterrichtsgestaltung im Schuljahr 2005/2006 sind ebenfalls verfassungsmäßig und
stehen in Einklang mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, wie das
Verwaltungsgericht in seinem Urteil zutreffend ausgeführt hat. Die Richtlinien befassen
sich im Einzelnen mit den Aufgaben, Zielen und Inhalten der schulischen
Sexualerziehung, mit der Gestaltung von Lernprozessen, der Rolle der Lehrerinnen und
Lehrer und dem Einsatz von Medien in der Sexualerziehung.
65
Die Richtlinien für die Sexualerziehung beachten das Gebot der Toleranz und
Rücksichtnahme auf die religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern
in ausreichendem Maße. Hierzu wird ausdrücklich in den Richtlinien ausgeführt,
Grundlage der Sexualerziehung seien „Toleranz und Achtung vor den Überzeugungen
und Lebensweisen der anderen" (Kap. 1, S. 7), „Dem Sexualverhalten anderer sollen
auch dann Respekt und Toleranz entgegengebracht werden, wenn sich dieses vom
eigenen und gewohnten Sexualverhalten unterscheidet." (Kap. 1, S. 8), „Lehrerinnen
und Lehrer sind zur besonderen Toleranz und Rücksicht gegenüber den
unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen und
verschiedenen Wertvorstellungen der Eltern zu Fragen menschlicher Sexualität
verpflichtet." (Kap. 2, S. 8), „Respekt, Achtung des Schamgefühls und das
Toleranzgebot gegenüber Kindern und Jugendlichen gebieten es, besonders
66
einfühlsam über die Werte und Normen hinsichtlich der Sexualität und des
Sexualverhaltens in unserer Gesellschaft zu informieren und sie im Unterricht zu
berücksichtigen." (Kap. 3, S. 10). Auch ihr Gesamtbild ergibt, dass die Richtlinien für die
Sexualerziehung den Respekt und die Offenheit für verschiedene Wertvorstellungen der
Eltern aufweisen.
Dem entspricht entgegen der Auffassung der Kläger auch, dass die Richtlinien für die
Sexualerziehung sich nicht eingehend mit Selbstbeherrschung, Enthaltsamkeit und
Keuschheit befassen, sondern im Rahmen der Behandlung des Themas
Geschlechtsverkehr ausführen: „Ziel der Auseinandersetzung mit dem Thema ist es,
selbstbestimmtes und verantwortungsbewusstes Handeln bei Kindern und
Jugendlichen anzubahnen. Dazu gehören die freie Entscheidung der Partnerin und des
Partners, verantwortlicher Umgang mit potentieller Elternschaft, Schutz vor Krankheiten,
aber auch die mögliche Entscheidung für Verzicht und Enthaltsamkeit." (Kap. 5.5, S. 14).
Die Richtlinien sind hier offen. Sie nehmen keine Bewertung der Entscheidung für oder
gegen Verzicht und Enthaltsamkeit vor. Sie befürworten nicht den vorehelichen
Geschlechtsverkehr und nicht den Geschlechtsverkehr im Jugendalter. Die Richtlinien
befürworten auf der anderen Seite aber auch die Entscheidung für Enthaltsamkeit und
Keuschheit nicht. Auch dies würde zu einer Verletzung des Verbotes einer
Indoktrinierung mit dem Ziel, ein bestimmtes Sexualverhalten zu befürworten oder
abzulehnen, sowie des Gebotes zur Offenheit anderen Lebensentwürfen gegenüber
führen. Dies gilt auch dann, wenn, entsprechend dem Hinweis der Kläger, die
Befürwortung von Enthaltsamkeit mit dem Ziel eines Schutzes vor Krankheiten wie
AIDS erfolgen würde. Es erfolgt aber auch keine Abwertung der Entscheidung für
Verzicht und Enthaltsamkeit dadurch, dass sie in den Richtlinien nur einmal genannt
und nicht eingehender behandelt wird. Entgegen der Annahme der Kläger enthalten die
Richtlinien keine befürwortenden Hinweise zum Ausleben der Sexualität, darauf liegt
auch kein inhaltliches Schwergewicht. Sie enthalten vielmehr Ausführungen zu
verschiedensten Aspekten von Sexualität, wie u. a. emotionale, biologische,
medizinische Aspekte, und damit verbundenen Problemen wie z. B. Identitätsfindung
(Kap. 5.4), ungewollter Schwangerschaft oder Kinderlosigkeit (Kap. 5.7) und sexuell
übertragbarer Krankheiten (Kap. 5.9). Erkennbares Ziel ist die Information und
Aufklärung der Schülerinnen und Schüler, nicht aber ein bestimmtes Tun oder
Unterlassen zu empfehlen oder vorzugeben. So sind die Richtlinien offen für den
Lebensentwurf der Kläger, mit Selbstbeherrschung in Keuschheit zu leben, wie auch für
andere Lebensentwürfe. Die Vielfalt der genannten Aspekte zurücktreten zu lassen und
den von den Klägern vertretenen, religiös begründeten Standpunkt maßgeblich in den
Vordergrund zu rücken, ist nicht aufgrund der von ihnen in Anspruch genommenen
Grundrechte geboten. Dies widerspräche im Übrigen nicht nur der staatlichen Pflicht zur
Neutralität, sondern auch dem staatlichen Erziehungs- und Bildungsauftrag und seinem
Ziel, die Selbstständigkeit der Entscheidungen und Handlungen der Schülerinnen und
Schüler zu fördern (§ 2 Abs. 4 Satz 2 SchulG NRW).
67
Die Richtlinien für die Sexualerziehung verstoßen entgegen der Auffassung der Kläger
nicht gegen Art. 6 Abs. 1 GG mit der Aussage: „In der Sexualwissenschaft besteht
Konsens darüber, dass sich menschliche Sexualität auf vielfältige Weise ausdrücken
kann. Demnach sind Hetero-, Bi-, Homo- und Transsexualität Ausdrucksformen von
Sexualität, die, ohne Unterschiede im Wert, zur Persönlichkeit des betreffenden
Menschen gehören." (Kap. 5.4). Hierdurch werden der Heterosexualität die genannten
anderen Ausdrucksformen von Sexualität nicht als gleichwertig zur Seite gestellt. Eine
Bewertung der genannten sexuellen Ausdrucksformen erfolgt nicht. Dem staatlichen
68
Erziehungsauftrag ist ein bestimmtes Leitbild im Hinblick auf die genannten
Ausdrucksformen der Sexualität, das in der schulischen Sexualerziehung zu beachten
wäre, nicht vorgegeben. Maßstab für den staatlichen Erziehungsauftrag sind vielmehr
die Gebote der Neutralität und Toleranz. Der Passus „ohne Unterschiede im Wert"
bezieht sich demgemäß nicht abstrakt auf die genannten unterschiedlichen
Ausdrucksformen der Sexualität, sondern auf die Behandlung der Persönlichkeit von
Individuen. Insofern trägt er deren Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2
Abs. 1 GG) und deren Würde Rechnung. Dadurch wird der Schutz von Ehe und Familie
und die ihnen zukommende Förderung nicht verringert. Wie dargelegt, gebietet es Art. 6
Abs. 1 GG nicht, andere Lebensformen zu benachteiligen. Vielmehr ist die „ohne
Unterschiede im Wert" erfolgende Unterrichtung über die genannten verschiedenen
sexuellen Ausdrucksformen als Teil der menschlichen Persönlichkeit
verfassungskonform und entspricht, wie das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt
hat, den von der Rechtsordnung, insbesondere von Art. 3 Abs. 3 GG vorgegebenen
Wertungen. Wie auch die in den Richtlinien der zitierten Aussage folgenden
Ausführungen zu der Förderung gegenseitiger Akzeptanz unter allen Menschen zeigen,
geht es nicht darum, einen Unterschied zwischen Hetero- und Homosexualität zu
verneinen, sondern daraus im Sinne der Toleranz keine unterschiedliche Einschätzung
und Bewertung einzelner Menschen abzuleiten.
Die Richtlinien für die Sexualerziehung nehmen auch auf Alter und Entwicklungsstand
der Kinder und Jugendlichen Rücksicht. Sie geben dies der Schule vor und lassen ihr
zugleich den notwendigen Freiraum für die Umsetzung im Unterricht. Die Richtlinien
sehen vor, dass die schulische Sexualerziehung mit einer elementaren Erziehung in der
Primarstufe beginnt, aufbauend hierauf ihren Schwerpunkt in der Sekundarstufe I hat
und eine Vertiefung der dort behandelten Themen in der Sekundarstufe II erfolgt (Kap.
7). Sie weisen die Schulen an, die Empfehlungen für die Gestaltung der Lernprozesse
(Kap. 3) alters-, entwicklungs- und ggf. behindertenspezifisch sowie schulformbezogen
in der einzelnen Schule auszuformen (Kap. 7). In Kapitel 3 wird ausdrücklich bestimmt,
dass „die Bedürfnisse einzelner Kinder und Gruppen ihrem Alter und ihrem
Entwicklungsstand entsprechend beachtet werden". Sie stellen die Möglichkeit einer
inneren und äußeren Differenzierung des Lernangebotes dar, um u. a. unterschiedlichen
individuellen Entwicklungen Rechnung zu tragen. Die Unterscheidung nach
Altersstufen und die vorgegebene Rücksichtnahme auf den Entwicklungsstand in den
Richtlinien sind hinreichend. Für die Umsetzung im Unterricht und die Möglichkeit,
situationsangemessen zu reagieren, muss der Schule und den unterrichtenden
Lehrkräften Spielraum verbleiben. Entgegen der Auffassung der Kläger ist eine
inhaltliche Differenzierung in den Richtlinien für die Sexualerziehung nach der
jeweiligen Schulform nicht erforderlich. Denn die körperlichen und seelischen
Entwicklungen der Kinder und Jugendlichen sind unabhängig von der Schulform, die
sie besuchen, so dass die Inhalte sie gleichermaßen betreffen. Nur in der Vermittlung
der Inhalte kann eine Differenzierung angezeigt sein, was die Richtlinien mit der
Vorgabe von schulformbezogenen schuleigenen Arbeitsplänen berücksichtigen.
69
Der gebotenen Rücksichtnahme auf den Entwicklungsstand der Kinder steht nicht
entgegen, das situative Lernen, wie nach den Richtlinien für die Sexualerziehung
vorgesehen, zu nutzen. Es ist danach „anzustreben, dass die schulische
Sexualerziehung von Lebenssituationen der Kinder und Jugendlichen ausgeht, an
deren Fragen anknüpft oder sich an konkreten Erlebnissen und aktuellen Situationen
orientiert." (Kap. 3, S. 9). Gerade dieser - originär pädagogische - Ansatz ermöglicht,
worauf der Beklagte zu Recht hinweist, insbesondere durch Medien veranlasste
70
problematischen Vorstellungen über Sexualität entgegenzuwirken. Die Vorgaben der
Richtlinien zu einer behutsamen Aufarbeitung im Unterricht, der Rücksichtnahme auf die
Bedürfnisse einzelner Kinder entsprechend ihrem Alter und Entwicklungsstand, die für
besonders wichtig erachtet werden, und zu Differenzierungen des Lernangebotes zielen
gerade darauf ab, dass sich der „Sexualität noch fernstehende" Kinder nicht, wie die
Kläger befürchten, von solchen Inhalten „überwältigen" lassen müssen und sie
hierdurch „frühsexualisiert" werden. Im Übrigen kann die behutsame Behandlung
solcher Inhalte unter Rücksichtnahme auf den Entwicklungsstand der Kinder, die sich,
wie seinerzeit der Kläger zu 1., noch in der Latenzphase befinden, ihnen helfen,
Eindrücke und Informationen, die sie gerade außerhalb der schulischen
Sexualerziehung von ihrer Umwelt, sei es durch Mitschüler oder Medien wie Filmen,
Werbeplakaten u. ä., erhalten, einzuordnen und zu verarbeiten.
Den Richtlinien für die Sexualerziehung zufolge ist zudem das natürliche Schamgefühl
der Kinder und Jugendlichen zu achten. Darauf wird in Kapitel 3 ausdrücklich
hingewiesen. Dem steht nicht, wie die Kläger annehmen, entgegen, dass durch die
schulische Sexualerziehung junge Menschen unterstützt werden sollen, „ihre
kommunikative Kompetenz in Fragen der Sexualität auszuprägen" (Kap. 1, S. 8). Allein
dadurch, dass ein Kind in seinem Bestreben und nicht gegen seinen Willen unterstützt
wird, sich zu Themen der Sexualität mitzuteilen und auszudrücken, wird nicht gezielt
seine natürliche Schamhaftigkeit abgebaut. Vielmehr kann die Erweiterung seiner
kommunikativen Kompetenz dem Kind hier helfen, Fragen, Unsicherheiten und
Gefühlen, auch Schamgefühlen, Ausdruck zu verleihen und ihm die
Auseinandersetzung mit den Inhalten der Sexualerziehungen wie auch diesbezüglichen
Wertvorstellungen anderer zu erleichtern. Die Richtlinien zielen auch darauf ab, dass im
Unterricht ein Kommunikationsklima geschaffen wird, in dem dies möglich ist. Es soll
über den Sprachgebrauch reflektiert und damit dazu beigetragen werden, „das
möglicherweise vorhandene Provozierende und Aggressive in der Sprache von Kindern
und Jugendlichen aufzudecken und dieses zu überwinden" (Kap. 4, S. 10). Der Achtung
des natürlichen Schamgefühls steht auch nicht die Aussage in den Richtlinien für die
Sexualerziehung entgegen, es sei „dringend geboten, neben den medizinisch-
biologischen Fakten der Kontrazeption auch ihre Vor- und Nachteile für Jugendliche zu
besprechen und die emotionalen Hemmschwellen abzubauen" (Kap. 5.6). Auch hierfür
gilt die Vorgabe der Richtlinien, dass Respekt, Achtung des Schamgefühls und das
Toleranzgebot es gebieten, besonders einfühlsam zu informieren (vgl. Kap. 3). Die
Schülerinnen und Schüler insofern uninformiert zu lassen, entspricht nicht dem
staatlichen Erziehungs- und Bildungsauftrag. Sachlich über Verhütungsmethoden zu
informieren und aufzuklären auch mit dem Ziel, ungewollten Schwangerschaften und
Schwangerschaftsabbrüchen vorzubeugen, entspricht auch dem Auftrag des Staates
und seiner Organe in Bund und Ländern, erkennbar für den Schutz des Lebens
einzutreten; insoweit sind auch die Lehrpläne der Schulen betroffen.
71
Vgl. BVerfG, Urteil vom 28. Mai 1993 - 2 BvF 2/90, 4/92, 5/92 -, BVerfGE 88, 203 (261),
NJW 1993, 1751 (1755), juris, Rn 185.
72
Das Lehrbuch „Netzwerk Biologie 1" entspricht ebenfalls den verfassungsrechtlichen
Vorgaben. Auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts wird Bezug
genommen. Es hat zu Recht angenommen, dass eine Indoktrinierung auch mit
Bildmaterial nicht erkennbar ist, und zutreffend darauf hingewiesen, dass die
Vermittlung grundlegenden Wissens über biologische Fakten der Sexualität bereits zu
einem frühen Zeitpunkt wichtig ist, beispielweise um Missbrauch vorzubeugen.
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Dass die rechtlichen Vorgaben für die Sexualerziehung bei der streitgegenständlichen
Unterrichtsreihe in der Klasse 6 a im Januar 2006 eingehalten wurden, ergibt sich aus
dem Informationsschreiben des Fachlehrers. Darin weist er ausdrücklich darauf hin,
dass sein Unterricht sich „streng an den Richtlinien des Schulministeriums NRW
orientiere". Der Senat hat keinen Anlass zu der Annahme, dass der Fachlehrer bei der
konkreten Unterrichtsdurchführung hiervon abgewichen ist. Die Kläger haben keine
dahingehenden Anhaltspunkte vorgetragen. Auch sonst ist nichts dafür ersichtlich.
74
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht
auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO
nicht erfüllt sind.
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