Urteil des OVG Nordrhein-Westfalen vom 01.10.1996
OVG NRW: aufschiebende wirkung, aufenthaltserlaubnis, eugh, interessenabwägung, lebensgemeinschaft, einreise, unterbrechung, beschwerdeinstanz, datum, erwerbstätigkeit
Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Vorinstanz:
Oberverwaltungsgericht NRW, 18 B 3074/95
01.10.1996
Oberverwaltungsgericht NRW
18. Senat
Beschluss
18 B 3074/95
Verwaltungsgericht Minden, 2 L 1002/95
Der angefochtene Beschluß wird geändert.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen
die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 10. August 1995 wird
wiederhergestellt bzw. angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.
Der Streitwert wird für die Beschwerdeinstanz auf 4.000,- DM festgesetzt.
G r ü n de :
Die Beschwerde des Antragstellers hat Erfolg.
Die im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO anzustellende
Interessenabwägung ergibt, daß das private Interesse des Antragstellers, vorläufig in
Deutschland zu bleiben, das öffentliche Interesse an seiner Aufenthaltsbeendigung
überwiegt. Der Senat vermag nicht die offensichtliche Rechtmäßigkeit der angegriffenen
Ordnungsverfügung festzustellen.
Die Antragsgegnerin ist allerdings zutreffend davon ausgegangen, daß der Antragsteller
keinen Anspruch auf Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis aus §§ 24, 25
AuslG sowie einer weiteren befristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1, Abs. 2 iVm §
17 Abs. 1 bzw. 19 AuslG besitzt. Dies hat das Verwaltungsgericht mit zutreffenden
Gründen, auf die Bezug genommen wird (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO), festgestellt.
Zweifelhaft ist jedoch, ob dem Antragsteller ein Aufenthaltsrecht aus Art. 6 Abs. 1 1.
Spiegelstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei über die
Entwicklung der Assoziation (ANBA 1981, 4) - ARB 1/80 - zusteht. Zwar war der
Antragsteller im Zeitpunkt des Ablaufs seiner Aufenthaltserlaubnis am 31. März 1995 mehr
als zweieinhalb Jahre bei dem selben Arbeitgeber beschäftigt, so daß die erforderliche
Beschäftigungszeit von einem Jahr gegeben ist. Auch dürfte die während des vorliegenden
Verfahrens vorübergehend eingetretene Unterbrechung der Erwerbstätigkeit gemäß Art. 6
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Abs. 2 ARB 1/80 unerheblich sein, weil sie allem Anschein nach allein auf die
erstinstanzliche Bestätigung der Versagung der Aufenthaltserlaubnis zurückzuführen ist
und es deshalb dem Antragsteller möglich sein dürfte, hierzu die erforderliche behördliche
Feststellung herbeizuführen. Gleichwohl könnte ein assoziationsrechtliches
Aufenthaltsrecht nicht in Betracht kommen, weil eine durch falsche Angaben im
Verlängerungsantrag erwirkte Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht geeignet sein
könnte, die Grundlage einer ordnungsgemäßen Beschäftigung im Sinne von Art. 6 Abs. 1
ARB 1/80 abzugeben.
Vgl. in diesem Sinne OVG NW, Urteil vom 5. April 1995 - 17 A 274/91 - und VGH Baden-
Württemberg, Urteil vom 31. Januar 1994 - 1 S 1053/93 -, InfAuslR 1994, 171 = EZAR 025
Nr. 9; offen gelassen: BVerwG, Beschluß vom 21. Juni 1995 - BVerwG 1 C 4.93 -, InfAuslR
1995, 393, und Senatsbeschluß vom 18. Dezember 1995 - 18 B 2779/95 -.
In diesem Zusammenhang wird weiter zu beachten sein, daß es nach der Rechtsprechung
des EuGH
- vgl. Urteil vom 7. Juli 1992 - Rs.C-370/90 (Singh), Slg. 1992, I/4288, 4295 Nr. 24 -
anerkannt ist, daß ein aus Art. 48 EWG-Vertrag abzuleitender Anspruch auf Zubilligung
eines Bleiberechts an dem Gesichtspunkt des Rechtsmißbrauchs scheitern kann.
Nach dem vorliegenden Sachverhalt ist davon auszugehen, daß der Antragsteller allein
aufgrund falscher Angaben in seinem Verlängerungsantrag vom 7. Januar 1993 eine
weitere Aufenthaltserlaubnis bis zum 31. März 1995 erwirkt hat. Obwohl er bereits seit dem
1. Oktober 1992 von seiner Ehefrau getrennt lebte, bezeichnete er sich lediglich als
verheiratet, ohne auch - was erforderlich gewesen wäre - die Rubrik "getrennt lebend"
anzukreuzen. Darüber hinaus erklärte er, daß sich seit der letzten Erteilung der
Aufenthaltsgenehmigung (am 17. Februar 1992) keine Änderung in seiner familiären
Lebensgemeinschaft ergeben habe.
Allerdings erscheint es keineswegs als von vornherein ausgeschlossen, daß auch eine
rechtswidrige - weil möglicherweise erschlichene - Aufenthaltserlaubnis einen
ordnungsgemäßen Aufenthalt im Sinne des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 jedenfalls solange
vermitteln kann, bis dem Aufenthalt nachträglich die rechtliche Grundlage entzogen worden
ist.
So VGH Kassel, Urteil vom 28. März 1993 - 12 UE 1461/90 -, EZAR 103 Nr. 17 = DVBl.
1993, 1021; vgl. hierzu auch BVerwG, Vorlagebeschluß an den EuGH vom 24. November
1995 - 1 C 33.93 -, InfAuslR 1996, 130.
Dabei könnte von Bedeutung sein, daß nach der Rechtsprechung des EuGH die
Zuerkennung eines Aufenthaltsrechts aus Art. 6 Abs. 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80
unabhängig ist von den Voraussetzungen, unter denen das Recht auf Einreise und
Aufenthalt gewährt worden ist.
Vgl. EuGH, Urteil vom 16. Dezember 1992 - Rs.C-237/91 (Kus) -, InfAuslR 1993, 41.
Um einen Anspruch eines türkischen Arbeitnehmers aus dem Assoziationsratsbeschluß
rückwirkend zu beseitigen, stände der Ausländerbehörde danach möglicherweise allein
der Weg über § 48 VwVfG NW offen, wobei fraglich sein kann, ob der Jahresfrist nach § 48
Abs. 4 VwVfG NW Bedeutung zukommt (§ 48 Abs. 4 Satz 2 VwVfG NW).
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Eine Entscheidung der aufgezeigten Rechtsfragen hält der Senat im vorliegenden
Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, in dem lediglich eine summarische Prüfung
der Rechtslage zu erfolgen hat, nicht für angezeigt. Damit ist eine allgemeine
Interessenabwägung erforderlich. Diese fällt zugunsten des Antragstellers aus. Für ihn
streitet insbesondere, ohne daß nennenswerte öffentliche Interessen entgegenstünden, der
Erhalt seines Arbeitsplatzes, sein in Deutschland erreichter sozialer Standard sowie sein
weiterer Verbleib im Bundesgebiet. Diese Interessen sind auch im Hinblick auf sein
rechtlich zu mißbilligendes Verhalten, im Verlängerungsantrag vom 7. Januar 1993 falsche
Angaben gemacht zu haben, unter den hier gegebenen Umständen (noch) schützenswert.
Mangels vollziehbarer Ausreisepflicht ist der Aussetzungsantrag auch hinsichtlich der
Abschiebungsandrohung erfolgreich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung folgt aus
§ 20 Abs. 3 iVm § 13 Abs. 1 GKG.
Dieser Beschluß ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).